Titel 4/2008

Geschwindigkeit

Langsamer ist schneller

Höher, schneller, weiter: Das olympische Motto führt im Bereich Mobilität nicht immer optimal ans Ziel. Wer schneller fährt, steht früher im Stau – oder wartet länger auf den schlecht vertakteten Bahnanschluss. Sinnvoller wäre ein Masterplan, der alle Investitionen für ein gemeinsames Ziel bündelt: das effizienteste Gesamtnetz für alle Kundinnen und Kunden. Im seinem Beitrag zum Titelthema hinterfragt fairkehr-Gastautor Michael Cramer, Grünen-Abgeordneter im Europäischen Parlament, das Bahntempo. Er wünscht sich besser abgestimmte Anschlüsse und ein durchdachtes Gesamtkonzept statt schnellere Einzelstrecken.

 
Foto: Marcus Gloger  

Drei Minuten sind drei zu viel, lautete einst ein etwas gewagter Werbespot der Deutschen Bahn. Dass es der DB offenbar in der Tat um jede Minute geht, hat sie in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich gemacht. Milliardeninvestitionen in Rennstrecken gehörten dazu ebenso wie die Abkoppelung von immer mehr Bahnhöfen, um auf der Strecke von A nach B neue Bestzeiten zu erreichen. Einige neue, komfortable und schnelle Strecken sind entstanden. Alles bestens auf Deutschlands Schienen? Leider nein: die Bahn hat in den vergangenen sieben Jahren – seit dem Antritt von Hartmut Mehdorn – fast 20 Prozent der Fahrgäste im Fernverkehr verloren. Insgesamt liegt die Verkehrsleistung der Bahn, also ihr Gesamtangebot auf dem deutschen Netz, heute unter der von 1994, obwohl seitdem 50 Milliarden Euro in die Schiene investiert wurden.

Der Drang der Bahn zum Tempo-Rekord hat eine ehrliche Beantwortung der Frage verhindert, wie schnell in Deutschland Züge sinnvollerweise fahren sollten. Höchstgeschwindigkeit zahlt sich nur dann aus, wenn es gilt, weite Entfernungen ohne große Steigungen, scharfe Kurven und viele Haltepunkte zu überwinden. Schaut man sich die Landkarte der Bundesrepublik an, so stellt man fest, dass es sich um eines der am dichtesten besiedelten Länder Europas handelt, dessen Topographie sehr abwechslungsreich ist und dessen Ballungsräume großer Städte relativ dicht beieinander liegen – das Gegenteil von optimalen Voraussetzungen für Hochgeschwindigkeit. Doch weil die Bahn in den vergangenen Jahrzehnten auf Hochgeschwindigkeitszüge gesetzt hat, musste sie milliardenschwere Neubaustrecken bauen. Vergleicht man etwa die Zeitersparnis auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Nürnberg und München über Ingolstadt mit den Kosten, kommt man auf eine beeindruckende Gleichung: Eine Minute schneller kostet eine halbe Milliarde Euro.

Eine Umsteigesituation wie Köln, wo der Thalys aus Brüssel um 16.04 Uhr einfährt, im selben Moment der Anschluss ins Ruhrgebiet, nach Hannover und Berlin – unerreichbar – am Nebengleis abfährt, stellt die Sinnhaftigkeit solcher Milliardeninvestionen in Frage, die den Hochgeschwindigkeitszug nach Köln 20 Minuten schneller gemacht haben. Denn für den Fahrgast zählt die Gesamtreisezeit – und im Zweifel sitzt er lieber in einem langsameren Zug, der einen perfekt abgestimmten Anschluss hat, als eine Stunde auf dem zugigen Kölner Hauptbahnhof.

Teure Rennstrecken

Milliardenschwere Investitionen verpuffen auch dann, wenn den Fahrgästen die Anreise zu den Bahnhöfen durch die Abkoppelung von Halten verlängert wird. In 90 Minuten von Berlin nach Hamburg klingt gut, für die rund 250000 möglichen Bahnkunden in Spandau und Nordwest-Berlin ist es aber mehr als ärgerlich, 30 Minuten extra für die Fahrt zum Hauptbahnhof einzuplanen, weil eben jener Zug in Spandau – um fünf Minuten Fahrzeit des ICE einzusparen – nicht hält. Dasselbe gilt für den Bahnhof Zoo, der eben mehr ist als ein Nostalgiestück für West-Berliner. Er ist auch für eine Million Menschen der nächstliegende Bahnhof. Man könnte diese Beispiele als logistische Einzelprobleme abtun, leider demonstrieren sie aber, dass die Bahn zu sehr auf Punkt-zu-Punkt-Verbindungen der Züge setzt und nicht auf die der Fahrgäste von Haus zu Haus. In der Schweiz stecken die Eisenbahnplaner ihre Energie vor allem in vertaktete Fahrpläne und ziehen ihre Bürger damit in die Bahn. Die Eidgenossen fahren pro Kopf doppelt so viel Bahn wie die Deutschen.

 
Foto: Marcus Gloger  

Eine höhere Höchstgeschwindigkeit allein verkürzt die Reisezeit zudem nicht automatisch. Eine der teuersten Bahn-Strecken Deutschlands, die Hochgeschwindigkeitsstrecke von Frankfurt am Main nach Köln, erlaubt zwar eine Spitzengeschwindigkeit von 300 km/h, die Züge fahren zwischen den beiden Bahnhöfen im Durchschnitt aber nur knapp 160 km/h. Für sehr viel weniger Geld wurde die Strecke Hamburg–Berlin für eine Spitze von höchstens 230 km/h modernisiert. Doch dort sind die Kunden mit durchschnittlich 189 km/h schneller unterwegs als auf der Milliarden-teuren Rennstrecke. Nicht die Spitze entscheidet über kürzere Reisezeiten, sondern die höhere Durchschnittsgeschwindigkeit. Die allerdings wird beeinträchtigt durch die Haltepunkte, die Beschleunigungs- und Bremsphasen, die Aufenthaltszeiten beim Umsteigen und die Langsamfahrstellen im Netz infolge von sanierungsbedürftigen oder eingleisigen Streckenabschnitten.

Fuß vom Gas

So braucht man sich nicht zu wundern, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit aller ICE-Züge in Deutschland nur etwa 130 km/h beträgt, obwohl sie mit 300 km/h mehr als das Doppelte an Höchstgeschwindigkeit fahren können. Geschwindigkeit und Zeitersparnis wachsen nicht proportional zueinander. Wird ein Eisenbahnzug von 100 auf 150 km/h beschleunigt, ist der Zeitgewinn 20 Minuten pro 100 Kilometer, von 200 auf 250 km/h beträgt er sechs Minuten, von Tempo 300 auf 350 nur noch zwei Minuten. Proportional ansteigend mit der Geschwindigkeit sind dagegen die Kosten für den Unterbau, den Fahrstrom, das Zugmaterial, den Lärmschutz und die Sicherheit – ganz zu schweigen vom in die Höhe schnellenden Energieverbrauch. Deshalb gibt es nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle und klimapolitische Grenze, die die Höchstgeschwindigkeitsphilosophie in Frage stellt.

Wie sehr das Energiekosten-Argument greift, wird heute schon bei den Verkehrsmitteln deutlich, die direkt am Öl-Tropf hängen. Manche haben schon den Fuß vom Gas genommen. TUIfly, aber auch kleinere Anbieter wie die belgische Fluggesellschaft Brussels Airlines fliegen inzwischen konsequent langsamer, etwa ein bis zwei Minuten pro Strecke. Für die Passagiere ändert sich dadurch kaum etwas an den Flugzeiten, aber so werden allein bei TUIfly im Jahr 3000 Tonnen Kerosin gespart. Auch bei den Reedereien hat man die neue Langsamkeit entdeckt. Fahren die Ozean-Riesen mit 20 statt 25 Knoten, spart man bis zu 50 Prozent Kraftstoff. Die enorm gestiegenen Ölpreise zeigen ihre Wirkung: Geschwindigkeit um jeden Preis ist bei einem Barrelpreis von 140 Dollar nicht mehr zu bezahlen. Bei der Bahn kommt der Strom vor allem „aus der Steckdose“ – und so lässt sich erklären, dass bisher die Debatte um den Energieverbrauch des Hochgeschwindigkeitsverkehrs bestenfalls eine Nebenrolle spielt. Aber das ändert sich: Nicht nur bei der DB AG, auch bei der SNCF wird – allerdings noch intern – die Sinnfrage nach der höchsten Höchstgeschwindigkeit gestellt und mit der Effizienz- und Kostenfrage verbunden. Die Frage stellen, heißt sie beantworten. On verra! – Warten wir’s ab. 

Michael Cramer

   
 

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