Titel 3/2007

Satire

Stockholm–Istanbul

Skandinavien und ganz Norddeutschland sind bahntechnisch vom Rest Europas abgehängt. Eine hochkarätige Expertengruppe will dies mit Hochgeschwindigkeit ändern, koste es, was es wolle. fairkehr lauschte an der Tür.

 

Kundenwunsch Nr. 9

Bahn Für alle

Foto: Marcsus Gloger
Was hilft es der Kundin in der Oberpfalz, wenn die Bahn immer schneller zwischen Köln und Frankfurt hin und her flitzt? Bis sie nach mehrfachem Umsteigen endlich zu Hause ist, ist dieser Zeitvorteil längst flöten gegangen. Daher wünschen sich vor allem Fahrgäste, die im ländlichen Raum leben, dass ein bisschen von der Schnelligkeit der Vorführstrecken und ein bisschen vom Glanz des Berliner Hauptbahnhofs auch bei ihnen ankommt. Nicht die Konzentration auf zentrale Umsteigeknoten, Prestigebahnhöfe und einige wenige Schnellstrecken ist ihre Vision, sondern ein flächendeckendes Angebot an Strecken, Bahnen, Bahnhöfen und Servicemitarbeitern.

 

„Deutschland braucht einen Nord-Süd-Hochgeschwindigkeitskorridor“, eröffnet Bundesverkehrsminister Tiefensee die Runde im Ministerbüro. „Meine Herren, schauen Sie sich doch bitte die Karte mit den transeuropäischen Netzen (TEN) an. Hier zwischen Hannover, Leipzig und Prag klafft eine Riesenlücke“. „Sehr richtig, Herr Minister“, schaltet sich Bahnchef Hartmut Mehdorn ein. „Ich darf kurz unsere Planung erläutern: Das TEN-Projekt 20 endet bisher in Kopenhagen. Um den zweistellig wachsenden Verkehr zwischen Skandinavien und Ost- und Südosteuorpa zu bewältigen müssen wir Großes schaffen – ich baue auf ihre Unterstützung. Ich fasse mich kurz. Wir gehen von Puttgarden mit Tempo 300 nach Hamburg rein.“ „Der Flughafen Fuhlsbüttel braucht unbedingt einen ICE-Anschluss“, meldet sich Hamburgs Bürgermeister Ole van Beust begeistert zu Wort. „Soll er haben“, grinst Mehdorn, „weiter geht’s unter der Stadt und der Elbe geradeaus in die Lüneburger Heide. Wo Naturschützer nerven, bauen wir Tunnel. Herr Wulf, bitte?“ „Die Umweltschützer halten wir schon im Zaum, Herr Mehdorn“, gibt sich der niedersächsische Regierungschef selbstsicher. „Liegen schon Berechnungen vor, wieviel schneller die Strecke Hannover –Hamburg dadurch zu bewältigen ist?“ „Wir sind noch nicht ganz sicher, aber wir holen bestimmt zehn Minuten raus“. Zustimmendes Nicken in der Runde.

„Ab Hannover wird es bautechnisch besonders spannend“, fährt Mehdorn fort. „Wir werden bergwerktechnische Wunder vollbringen. Wir nehmen den direkten Weg quer durch den Harz nach Leipzig. 43 Brücken und 27 Tunnelbauten. Ja, Herr Ministerpräsident Böhmer? Sie freuen sich schon auf die Konjunkturspritze für Ihre Bauindustrie?“„Ich plädiere hier mit Nachdruck für einen Halt in Halle, sonst kann ich dem Ganzen nicht zustimmen“, stört der sachsen-anhaltinische Regierungschef die Euphorie. „Wieviele Einwohner hat Halle? Keine 500000? Das wird schwer“, entgegnet Mehdorn.
„Lassen Sie mal, Herr Böhmer“, mischt sich Tiefensee in die Debatte, „wir klären das im Nachgang zu diesem Gespräch bilateral. Ich kann jetzt aber schon mal zusätzliche Bundesmittel für die Anbindung des Flughafens Halle-Leipzig zusichern. Herr Mehdorn, fahren Sie fort.“

„Gut, nach Leipzig werden die Herausforderungen noch gigantischer. Wir schlagen unsere Trasse schnurgerade durchs Erzgebirge. Wir lassen gerade prüfen, inwieweit stillgelegte Uranstollen in unsere Tunnelprofile integriert werden können.“ „Gera! Ohne Gera läuft hier gar nichts“, tönt es laut von hinten links. „Ich bestehe auf einem Haltepunkt in Gera“, tobt der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus. „Gera ist die zweitgrößte Stadt des Freistaates, daran können Sie doch nicht vorbeiplanen.“„Haben Sie denn einen Flughafen?“ fragt Mehdorn. „Mein Urgroßvater mütterlicherseits stammte aus Gera, Herr Mehdorn“, meldet sich der bisher schweigsame EU-Industriekommissar Günther Verheugen zu Wort. „Sie würden mir eine große persönliche Freude machen, wenn Sie Gera berücksichtigen könnten.“

„Nun gut“, lenkt Mehdorn ein, „wir schlagen also eine schnurgerade Trasse von Leipzig nach Gera und dann von Gera durchs Erzgebirge direkt nach Prag. Von dort ist der Anschluss über Wien, Budapest, Sofia nach Istanbul bereits projektiert. Herr Minister Steinbrück, bitte? Was das alles kostet, fragen Sie?“ „Lieber Peer, jetzt sei mal nicht kleinlich“, springt Tiefensee dem Bahnchef bei. „Wir schaffen mit diesem Projekt 200000 Arbeitsplätze über acht Jahre Bauzeit. Da sind doch Baukosten von 23 Milliarden Euro ein Schnäppchen. Und der Günther tut bestimmt auch noch was dazu. Meine Herren, ich denke, so machen wir es. Danke, Herr Mehdorn, für Ihren anschaulichen Bericht.“ Anerkennendes Raunen in der Runde und gewichtiges Kopfnicken.

Michael Adler

   
 

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