Titel 6/2005

Eingependelt

Zweisamkeit zwischen Hamburg und Essen

Paare, die sich nur am Wochenende sehen, leben in zwei Welten: In der Woche führen sie ein Singleleben mit vielen Freiheiten, am Wochenende steht die Zweisamkeit im Mittelpunkt. – Und dazwischen bleibt viel Zeit fürs Bahnfahren.

Foto: www.marcusgloger.de
Alles eine Frage der Zeit: Paare, die durch den Job getrennt leben, planen akribisch ihre gemeinsamen Stunden.

Wie ein Mantra sage ich mir immer wieder vor: „Bahnfahren macht Spaß! Zugfahren ist toll! Ja, Bahnfahren macht Spaß! Zugfahren ist toll!“ Es ist Freitagnachmittag. Wie fast jeden zweiten Freitagnachmittag stehe ich am Essener Hauptbahnhof und warte auf den Intercity nach Hamburg. Und wie fast jeden Freitagnachmittag hat der Zug mächtig Verspätung. Gemäß der Salami-Taktik erhalten die wartenden Fahrgäste an dem prall gefüllten Bahnsteig scheibchenweise Informationen. Tenor: „Aufgrund von Verzögerungen im Betriebsablauf verspätet sich die Abfahrt um etwa 45 Minuten!“ Vor rund 50 Minuten verkündete noch die gleiche Stimme, dass der ICE von Frankfurt nach Hamburg etwa sieben Minuten später eintreffen würde. Die Bahn lehrt mich, in Demut zu warten.

Wie viele andere Pendler nehme ich im Normalfall solche Verspätungen gelassen hin, verhelfe dem Kaffeeverkäufer auf dem Bahnsteig zu ungeahntem Reichtum, erstehe ein Dutzend Zeitungen und Magazine und fülle den Süßigkeitenautomaten mit Kleingeld. Heute ist dies anders. Mit den teuren Premierentickets in der Tasche hatte ich mich extra eine Stunde eher auf den Weg gemacht als üblich. Denn das Theater wartet nicht auf den verspäteten ICE und seine Passagiere. Mit dem Auto zu fahren, wäre nicht nur aus Umweltaspekten keine Alternative. Denn das Gros der gut 350 Kilometer langen Strecke führt über die Autobahn A1. Die wohl wichtigste und meistbefahrene Nord-Süd-Tangente zeichnet sich insbesondere freitags nachmittags dadurch aus, dass hier zu wenig Straße für zu viele Autos zu finden ist. Da ist eine Bahnfahrt ungleich entspannender – vorausgesetzt, das Schienenross hält sich einigermaßen an den Fahrplan.

Teure Bahnfahrkarten

Mit jeder Minute Verspätung wachsen Wut und Enttäuschung. Schließlich ist das Bahnfahren nicht gerade billig. Seit fast drei Jahren pendeln die Frau, die mir die Welt erklärt, und meine Wenigkeit am Wochenende zwischen Essen und Hamburg. Bei den Summen, die trotz Bahncard in die von regelmäßigen Preiserhöhungen geprägten Fahrscheine geflossen sind, heißt es schon immer spottend gegenüber Freunden und Verwandten: „Die Bahn hat jetzt beschlossen, einen Waggon nach uns zu benennen.“

Dabei sind die Bahnkosten für ein Pendlerpärchen wie uns fast noch das geringste Übel. Nachdem die Frau, die mir die Welt erklärt, ihren Job in Essen durch den Niedergang ihrer Firma verlor, fand sie sehr schnell eine neue Anstellung – glücklicherweise und leider. Denn der neue Arbeitgeber hat seinen Sitz in Hamburg. Und keine Frage, die Elbmetropole ist ein tolles Pflaster mit tollen Entwicklungsmöglichkeiten. Dazu wartete dort ein erstklassiger Arbeitgeber. Entsprechend leicht fiel die Entscheidung für den Job und damit für eine Wochenendbeziehung. Blauäugig ging ich davon aus, ganz schnell ebenfalls einen Job an der Alster zu finden. Doch leider kommt die Medienstadt bis heute ohne mich aus. Also, munter weiterpendeln.

Neben der Wundertüte Bahnfahrt, die an jedem Wochenende eine neue Überraschung bereithält, müssen wir als Pendler mit einer ganzen Reihe weiterer Hindernisse und Hürden leben. Doppelte Haushaltsführung, Miet-, Strom- und Wasserkosten hier und da. Möbel, Geschirr, Kleidung und vieles mehr werden in zweifacher Ausfertigung benötigt. Natürlich ist es Murphy’s Law, dass Dinge, von denen nur ein Exemplar vorhanden ist, grundsätzlich immer dort gerade sind, wo wir am Wochenende zufällig nicht sind. Hinzu kommen hohe Telefonkosten, denen wir mittlerweile mit einer Flatrate erfolgreich trotzen. Spätestens dienstags überlegt derjenige, der am Freitag zum anderen reist, ob es sich noch lohnt, Brot, Käse, Obst oder Gemüse einzukaufen.

Unter der Woche bleibt abends viel Zeit, um verschiedenen Verpflichtungen und Hobbys nachzugehen. Am Wochenende hingegen würde man sich am liebsten komplett zurückziehen und der Zweisamkeit frönen. Wochenendbeziehungen – und darin sind sich nicht nur Psychologen einig – sind Chance und Risiko zugleich. Als Negativfaktoren werden hier häufig die Gefahr einer Entfremdung sowie der Mangel an gemeinsamen Zielen und Nestwärme genannt. Andererseits ermöglicht das Pendlerdasein den Partnern unter der Woche ein gehöriges Maß an Freiraum und von freitags bis sonntags häufig ein intensives Zusammensein ohne belastende Alltagssorgen. So werden in der Regel alle Hausfrau- und -mannpflichten wie Bügeln, Einkaufen oder Altglasentsorgen bereits unter der Woche erledigt. Am Wochenende ist Dolce vita angesagt: etwas Sport, chic Essen gehen, ein Kino- oder Theaterbesuch.

Verplante Freizeit

Doch auch Freunde und Verwandte fordern ihren Tribut. Fast unweigerlich schlagen in jeder Stunde des heiligen Wochenendes, die nicht in konzentrierter Zweisamkeit verbracht wird, zwei Herzen in unserer Brust. Denn für Wochenendpendler ist es ohnehin unglaublich schwierig, ein soziales Netz zu pflegen – noch dazu an zwei Orten. Daneben soll und darf die eigene Beziehung nicht vernachlässigt werden. Ein schwieriger Spagat, der fast zwangsläufig dazu führt, dass Wochenenden mitunter minutiös verplant werden.
Um zeitlich das Optimum herauszuschlagen, versuche ich, freitags so früh wie möglich in den Zug zu steigen. Und es ist längst eine Selbstverständlichkeit, dass ich montagmorgens lange vor dem Krähen der Hähne aufstehe und mit Streichhölzern in den Augen zum Bahnhof schlappe, damit ich wenigstens noch den Sonntagabend mit der Frau, die mir die Welt erklärt, genießen kann. Schließlich lässt es sich im Zug hervorragend weiterschlafen, sofern nicht eine Horde pubertierender Teenies fröhlich grölend zu einer Klassenfahrt aufbricht. Doch dann trage ich dies zumeist mit Gelassenheit und sage mir: „Bahnfahren macht Spaß! Zugfahren ist toll!“

Karsten-Thilo Raab

 

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