Politik 1/2005

Verkehrsunfälle

TEO zieht die Bremse

Foto: Volker Lannert

Vierzig Prozent aller Verkehrstoten in MecklenburgVorpommern sind Kinder und Jugendliche. In keinem anderen Bundesland wird so viel und so jung unterm Rad gestorben wie hier. Verkehrserziehung und Werteappelle verhallten, daher schmiedeten Schule, Kirche und Versicherung ein ungewöhnliches Bündnis. Es scheint mit Erfolg, denn die Unfallstatistik sinkt.

Fest krallt sich die bodennahe Rinde um den betagten Alleebaum. Viel Platz bleibt ihr nicht mehr. Denn dort, wo Grasnabe und Wurzel sonst einander berühren, klafft eine harzblutende wagenradgroße Wunde. Weggefräste Ränder, sprödes verwittertes Holz und ein frischer Strauß sonnengelber Chrysanthemen. Immer und immer wieder das gleiche Bild. Auf knapp sechzig Kilometern Straßenlänge 18 Todeskreuze. Die Verunglückten: junge Menschen aus Mecklenburg und Vorpommern. Gerade mal 15 oder wenig älter, unterwegs zur Disco, zu Freunden, auf Spritztour. Sie suchen das Leben und finden den Tod. Nahezu einhundert Jugendliche kehrten allein 2003 nicht mehr nach Hause zurück.

Drei ungleiche Partner

Auch Doreen Lale erfuhr, dass die Freundin nicht wiederkommt. Vermutlich ein riskantes Überholmanöver, Gegenverkehr, Bremsenquietschen, ein Knall, wuchtig der Baum – aus. Die 21-Jährige verstarb noch am Unfallort, der Beifahrer, ihr Bruder überlebte schwerverletzt, die Eltern bestürzt, die Freunde irritiert. Nein, es trifft nicht mehr nur die anderen. Inzwischen kennt fast jeder einen, der unter die Räder kam.

Zwei Wochen nach dem sinnlosen Tod der Freundin tritt Doreen über die Schwelle der Kolping Familienferienstätte in Salem. Die Zehntklässlerin begegnet hier 160 weiteren Haupt-, Förder- und Realschülern sowie Gymnasiasten und Berufsschülern der 9. bis 11. Klassen aus Mecklenburg-Vorpommern (MV). Drei Tage und drei Buchstaben führen sie zusammen – TEO, Tage ethischer Orientierung. Was nach moralischer Diät klingt, ist eine ungewöhnliche Reaktion auf den Leidensdruck der Straße. Denn die Ratlosigkeit über die offenbar nicht ausreichende Verkehrserziehung und der gemeinsame Geist junges Leben zu bewahren, schmiedete drei ungleiche Partner zusammen. Bildungsministerium, Versicherung Pax Familienfürsorge und Evangelische Landeskirche in MV probten erstmalig ein ideelles und finanzielles Bündnis. Mit Erfolg. 1999 startete das erste TEO mit 150 Schülern. Inzwischen erleben jährlich über 1000 Jugendliche ihre Tage ethische Orientierung. Allein für 2005 rechnen die Initiatoren mit knapp 1600 Jugendlichen.

Wertepoker

TEO soll nachdenklich stimmen über innere Haltungen und Werte, die oft den tödlichen Unfällen vorausgehen. Sie zeigen, wie häufig Risikofreude vor Lebensschutz steht, wie Sekunden-Spaß lebenslänglich erhält, wie Balzgehabe die Fürsorge um Mitfahrer erstickt. Eigene Werte wahrzunehmen, sie zu formulieren und dann auch in der Clique gegen das Gelächter der anderen durchzusetzen, dass legt TEO den Jugendlichen aufs Herz. Lehrer, Schüler und Kirchenmitarbeiter begegnen sich hier als Partner. Sie diskutieren in Workshops über Gruppendynamik, Drogen und Gewalt, aber auch über Unversehrtheit und Verlust. Sie erstellen einen eigenen Wertekatalog, stehen vor der Sinnfrage des Lebens und wagen den Blick auf die eigene Endlichkeit. Dabei geraten Teamleiter wie Schüler oft an ihre emotionalen Grenzen – durch Vertrauensspiele, Sketche und authentische Unfallvideos, aber auch durch die meist erst dann zugelassene Trauer um verlorene Mitschüler. Gerade die Mischung aus Spiel und Besinnung, Rückzug und Gemeinschaft lässt eine hierarchiefreie Offenheit zu.

Fünfzehn Schüler und ein Tandem

Gespannt, neugierig, aber auch skeptisch landen sie anfangs in Salem. So auch Tom Ogilvie, Pastor und Koordinator für schulbezogene Projekte der Evangelischen Kirche in MV und Kirsten Lüders, Klassenlehrerin von Doreen Lale. Beide sind Teamleiter und bilden ein sogenanntes Tandem, das jeweils eine Gruppe von 15 Schülern betreut. Auch Doreen findet sich hier wieder.

Die Gruppe startet mit einer Videoszene: Eine Kneipe, vier junge Leute, Alkohol – die Stimmung kippt. Jetzt wollen die Männer imponieren und es den Frauen beweisen. Alkoholgeschwängert schieben sie sich hinters Lenkrad, später fahren sie ein Rennen. Schnitt.

Wie geht die Situation aus? Wie kommt es zu dieser Entscheidung? Was passiert mit mir? Welche Rolle spiele ich in der Clique? Wo kann ich eingreifen? Fragen, die Doreen und ihre Gruppe ganz schnell zu sich selbst führen. Vorsichtig lüften sie den Schleier zur eigenen Rolle in der Clique. Sie denken nach über Gruppenzwänge und Aggressionen, Imponiergehabe und das Neinsagen. Fast jeder aus der TEO-Gruppe hat schon ähnliches erlebt. Auch Doreen erinnert sich: „Ich habe auch gedacht, der kann doch noch fahren. Es wird schon nichts passieren und bin eingestiegen!“ Heute, ein gutes Jahr nach TEO, hat sie selbst schon einem Freund den Autoschlüssel abgenommen, weil der alkoholisiert ans Steuer wollte. „Du musst entschieden Nein sagen“, weiß sie jetzt. "Nichts auf dieser Welt ersetzt ein Menschenleben!"

Gerüstet mit diesem neuen Bewusstsein, steigen sie selbst ins nächste Spiel bzw. ins simulierte Auto. Ein Fahrer, vier rebellische Mitfahrer, fünf verschiedene Rollen werden verteilt. Der Rest der TEO-Gruppe schaut zu. Das Anschnallen wird verweigert, laute Musik gefordert, der nächste qualmt das Auto dicht und ein weiterer baggert die Freundin auf dem Beifahrersitz an. Nach acht Minuten bricht Tom Ogilvie das Spiel ab: „Was meint ihr, wären diese Fünf heil angekommen?“ Die Gruppe ist sich uneins, hält teilweise die Ansagen der Mitfahrer noch für untertrieben. Doch dieses von außen zu sehen, hat einigen die Augen geöffnet. Sie schlagen vor, was man hätte wie besser und anders machen können. Eine zweite Mannschaft startet. Jetzt hat der Fahrer das Sagen. Tanzt ein Mitfahrer aus der Reihe, wird er verwarnt, muss das Auto verlassen oder der Fahrer stoppt kurzerhand den Wagen und verweigert die Weiterfahrt. Knallhart stellt er Regeln auf und dringt auf deren Wahrung.

Alles einfach vorbei?

Doch was passiert, wenn der Wagen samt Insassen auf der Straße bleibt? Ein zweites Video, ein Polizeivideo läuft an: über Verfolgungsjagten bei 196 km/h, obwohl 70 gestattet ist, über lebensmüde Überholmanöver, über Autos, die sich völlig verstümmelt wie eine Schlange um einen Baum winden. Viele, auch Doreen und zwei ihrer Mitschüler Manuel Teschner und Ines Kowalke sehen erstmalig einen ungeräumten Unfallort: die zerfetzten Autos, die zugedeckten Toten, die stöhnenden Verletzten, Blut, zerbrochene Brillen, verlorene Schuhe im Gras …

Doreen kann nicht mehr. Zu nah sind die Bilder der toten Freundin in ihrem Kopf. Sie nimmt sich das in der Mitte des Gruppenkreises liegende Holz und geht. Jetzt weiß jeder, sie möchte allein sein. Der Rest der TEO-Gruppe schweigt. Es ist leise geworden. Eine Kerze brennt in der Mitte. Kirsten Lüders, die Lehrerin, lässt den Schülern Zeit sich zu öffnen. Langsam beginnt das Gespräch über Sterben und Tod, über Lebensliebe und Lebenslust, über Trauer und was nach dem Tod kommt. Das der Tod zum Leben gehört, darüber sind sich hier alle einig. Ein Leben ohne Grenzen und Maß möchte keiner haben. Gerade die Frage nach dem Wert des Anderen, seiner körperlichen Unversehrtheit führt zur Frage nach den Unfallverursachern, fragt nach Schuld und Mitverschulden. Allen ist klar: Einen Alleinschuldigen gibt es nicht, Schuld muss geschultert werden.

Foto: Sabine Weiland

Kreuze am Wegesrand: Stumme Zeugen der vielen verunglückten jungen Menschen aus Mecklenburg und Vorpommern

Was bleibt?

Nach drei Tagen TEO kehrt kaum ein Teilnehmer zurück wie er kam. Nachdenklich, bewegt und entschiedener erleben sich die Schüler. Ihre Bilanz: „TEO kostet fast nichts und man lernt so viel fürs Leben!“ Auch die Lehrer berichten beeindruckt: „Ich habe meine Klasse danach kaum wieder erkannt, so sensibel, so umsichtig – wie ausgewechselt.“ Doch Rosemarie Schulze, Lehrerin am Karolinum Neustrelitz, weiß auch: „Wir müssen das Berührtsein der jungen Leute nutzen und gezielt fächerübergreifend themenverwandte Projekte anbieten, sonst verläuft alles im Sande.“ So installierte sie Projekte zu Verlust, Ritualen, Achtung und Würde, aber auch zu Demokratie leben lernen. Schüler drehten einen Film über TEO und ziehen heute damit als Multiplikatoren von Klasse zu Klasse. Erst seit kurzem kehren ehemalige TEO-Teilnehmer als TEO-Teamleiter zurück. Über Jahre haben sie TEO nicht vergessen.

Die im Rahmen einer Dissertation 2004 veröffentlichte Evaluation zu TEO bestätigt dessen hohes präventives Potential. Zwei Faktoren, so Studienleiterin Professor Dr. Hiltrud Kessler, Evangelische Fachhochschule Berlin, seien risikomindernd: „Einerseits mit den Jugendlichen im Gespräch bleiben, also TEO plus gezielte Nacharbeit, andererseits gleichaltrige Mädchen sozial stärken.“ Denn deren aufrechte Haltung, so Kessler, entscheidet oftmals über das Verhalten der risikobereiteren Jungen.

Den ungewöhnlichen Ansatz von TEO honoriert seit 2003 auch das Bildungsministerium MV: zwei Lehrer wurden dafür auf Staatskosten vom Schuldienst freigestellt. Auch die Statistik scheint TEO Recht zu geben: seit 1999 sank die Zahl der tödlich verunglückten Jugendlichen von 123 auf 95 Tote in 2003, für 2004 erwarten Experten einen noch deutlicheren Rückgang.

Sabine Weiland

 

Projektinfo: Amt für die Arbeit mit Kindern­ und Jugendlichen in Schwerin, Wolfgang von Rechenberg, Tel. (0385) 590380 oder www.info@evjume.de

 

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