Titel 6/2004

Barrierefreie öffentliche Räume

Ein hoher Anspruch

Seit 2002 gilt das Gesetz, das Deutschland in absehbarer Zeit für alle Menschen barrierefrei machen soll – eine große Vision, die langsam Formen annimmt. Viele öffentliche Räume sind für Menschen mit Behinderung immer noch schwer zu nutzen. Das betrifft nicht nur die statistisch erfassten sieben Millionen Schwerbehinderten in Deutschland, sondern auch die, die aus Altersgründen, wegen Krankheit oder weil sie einen Kinderwagen oder Gepäck dabei haben, bestimmte Hindernisse nicht überwinden können.

Dennoch: Der Fortschritt ist spürbar. Viele Verkehrsbetriebe – unter anderem auch die Deutsche Bahn – haben sich Barrierefreiheit zum Ziel gesetzt. Behindertenbeauftragte bemühen sich in zahlreichen Städten darum, die größten Hindernisse abzubauen.
Und das Wichtigste: Die Behinderten haben in den vergangenen Jahrzehnten an Selbstbewusstsein gewonnen. Sie verstecken sich nicht mehr, sondern fordern ihre Rechte in allen Lebensbereichen ein. Dadurch wächst das Bewusstsein für ihre Probleme und die Bereitschaft zu unbürokratischen Lösungen.

Fotos:www.marcusgloger.de
Bis in die siebziger Jahre führten Behinderte ein Schattendasein. In den letzten 20 Jahren wurden viele Barrieren beseitigt.

Was sind barrierefreie öffentliche Räume? Zu allererst fallen uns wohl tickende Blindenampeln ein. Wir denken an Absenkungen von Bordsteinen, an Rampen und Aufzüge, an moderne Niederflurbahnen. Vielleicht sind unseren Füßen auch die Rillenplatten entlang von Bahnsteigen und Haltestellen aufgefallen. Das war es dann aber zumeist schon, was in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem Begriff Barrierefreiheit verbunden wird.

Die im Behinderten-Gleichstellungsgesetz des Bundes festgeschriebene Definition formuliert den Anspruch, der heute an Barrierefreiheit gestellt wird. Als barrierefrei gelten Gebäude, öffentliche Räume und Zugänge zu Informationen, die von „… behinderte(n) Menschen in allgemein üblicher Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar …“ sind. Ähnlich ambitioniert ist eine Definition, die sich im Entwurf der geplanten Neuausgabe einer DIN-Norm für barrierefreies Bauen findet. Danach gilt als barrierefrei die „Eigenschaft von Verkehrsanlagen … zur weitgehend gleichberechtigten, selbstbestimmten und gefahrlosen Nutzung durch alle Menschen, in jedem Alter, mit unterschiedlichen Fähigkeiten sowie mit und ohne Behinderungen“.

„Es muss normal werden,
verschieden zu sein.“

Anspruch und Realität klaffen auseinander. Das heutige Maßnahmenspektrum zum barrierefreien Bauen erreicht bei weitem noch nicht alle, die sich mit diversen Einschränkungen im öffentlichen Raum bewegen müssen, und es erreicht sie auch in unterschiedlicher Qualität. Die Nutzergruppen, für die derzeit am meisten getan werden kann und wird, sind Blinde, Gehbehinderte und Menschen im Rollstuhl. Von den Maßnahmen für letztere Gruppen profitieren auch viele scheinbar Nicht-Behinderte, die mit Kinderwagen, Gehstock oder einem Rollator – einer rollenden Gehhilfe – unterwegs sind.

Die Verbesserung der Situation für Sehbehinderte stellt sich schon schwieriger dar. Nimmt man die Fachliteratur ernst, ginge es ganz konkret darum, alle Einbauten, die Fußgängern im Weg stehen, kontrastreich zu kennzeichnen. Dazu gehören zum Beispiel Lichtmasten, Gitter und Poller, Pfosten von Verkehrszeichen und Ampeln, Fahrradständer und Werbetafeln. All das ist farblich so zu gestalten, dass Menschen mit Sehbehinderung die Chance haben, einen Körperkontakt rechtzeitig abwenden zu können. Die schmerzhafte Erfahrung, wieder einen herumstehenden Gegenstand nicht erkannt zu haben, gehört zum Alltag Sehbehinderter. Kontrastreiche Markierungen sind zweifellos nötig. Das Beste wäre eine Rot-Weiß-Markierung aller Pfosten und Masten. Aber wollen wir komplett alle Pfosten in der Stadt rot-weiß markieren? Sieht dann der öffentliche Raum nicht aus wie eine einzige große Baustelle? Bislang bietet die Praxis keine Lösung, die sich verallgemeinern ließe. Und viele Stadtgestalter und Designer wissen um diese Problematik bestenfalls ansatzweise.

Hörbehinderte Menschen brauchen ebenfalls optische Orientierungsmaßnahmen. Denn überall dort, wo nur über Ansagen gearbeitet wird, bleiben Hörbehinderte ausgeschlossen. Deshalb ist auch das Bahnfahren für sie oft schwierig. Änderungen bei Zügen, Verspätungsansagen oder Bahnsteigwechsel müssten zumindest über ein Blinklicht o.ä. an der Bahnsteiganzeige erkennbar sein.

Besonders wenig können wir derzeit für Menschen mit seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen tun. In Sachen „gefahrlose Nutzung“ des Straßenraums für geistig behinderte oder seelisch beeinträchtigte Menschen haben die Planer bislang kaum brauchbare Lösungsansätze.

In Deutschland hat sich in den letzten Jahren gewaltig viel verändert, in den Köpfen und in der Praxis. Und doch müssen wir Barrierefreiheit viel umfassender als gegenwärtig denken. Wir sind unbestritten auf dem richtigen Weg und unser Tempo nimmt zu. Unser Bemühen wird systematischer und vielfältiger, nicht zuletzt dank der Gleichstellungsgesetze auf Bundes- und Landesebene. Immer mehr Verwaltungen und Planer denken darüber nach, wie Barrieren abgebaut werden können. In immer mehr Städten bekommen Betroffene die Gelegenheit, sich in laufende Planungen einzubringen. Auch das ist ein Ergebnis der verbesserten Rechtslage. Aber wie weit der Weg zur Barrierefreiheit noch ist, kann heute wohl niemand abschätzen. Und vielleicht ist das auch nicht so entscheidend, sofern wir Barrierefreiheit als einen Prozess sehen, einen Prozess, in dem es normal wird, verschieden zu sein.

„Barrierefrei ist der Stadtverkehr erst, wenn wir ihn deutlich verlangsamt haben.“

Der Blick in die Praxis zeigt die Widersprüchlichkeit, die angesichts der zu lösenden vielfältigen Aufgaben in Normen und Regelwerken steckt. Ein Beispiel: Blinde müssen den Übergang zwischen Fahrbahn und Gehweg mit dem Stock ertasten können. Die Nutzer von Rollstühlen wünschen sich Übergänge ohne jede Kante. Lange Zeit wurde eine drei Zentimeter hohe Bordsteinkante als unumstößlicher Kompromiss im Straßenbau akzeptiert und realisiert – von den Blinden verständlicherweise gefordert, von Rollstuhlnutzern und verstärkt auch mit Verweis auf Menschen mit Rollator eher kritisiert. In der Zwischenzeit wird diese Norm nicht mehr als einzig mögliche Antwort auf die widersprüchlichen Interessen angesehen. Erste Hersteller bringen Bordsteine auf den Markt, die blinde Menschen ohne jede Kante ertasten können.

Für Rollstuhlfahrer umgerüstete Autos: Nicht bei allen Herstellern eine Selbstverständlichkeit.

Ein weiteres heiß diskutiertes Problem ist die Gestaltung von Kreisverkehrsplätzen. Seit Jahren rollt eine Kreisel-Welle durchs Land. Kleine Kreisverkehrsplätze sind modern und gelten – gerade in der Kommunalpolitik – als Lösung vieler Verkehrsprobleme. Die Interessen blinder Menschen laufen allerdings Gefahr, unter die Räder zu kommen. Blinde orientieren sich oft nach dem Gehör am parallel fahrenden Autoverkehr. An Kreisverkehren ist das extrem schwierig, da nach dem Gehör kaum zu unterscheiden ist, wer im Kreis bleibt und wer herausfährt. Es ist dem Engagement der Blindenverbände zu danken, dass man sich jetzt diesem Problem stellt, auch wenn es noch kaum brauchbare Lösungsansätze gibt. Blinde wünschen sich aus Angst ihre „sicheren“ Ampeln zurück – ein Wermutstropfen in der allgemeinen Kreisel-Freude.

Beide Beispiele zeigen, dass die Gestaltung von Straßenraum immer eine Abwägung verschiedener Belange ist. Vielfach sind nur Kompromisse möglich. Die Abstimmung mit den Betroffenen vor Ort ist in diesem Prozess unverzichtbar, denn sie sind Experten in eigener Sache. Deutschlandweit wird das inzwischen erkannt und man erprobt die verschiedensten Formen der Zusammenarbeit. Nicht alles läuft dabei schon rund und mancher Verband ist überfordert von der Vielzahl an Planungen, zu denen er in der Kommune gehört wird.

Planer müssen lernen, Barrierefreiheit als selbstverständlichen Teil ihrer Entwürfe zu berücksichtigen, vergleichbar mit dem Brand- und Wärmeschutz. Wer sich mit Fragen der Barrierefreiheit beschäftigt, schärft seine Sensibilität für die unterschiedlichen Eigenschaften, Wahrnehmungen und die Vielfalt der Fähigkeiten von Menschen. Diese Sensibilität ist dann auch Voraussetzung für einen vernünftigen Umgang mit bislang starr gehaltenen Normen. Gefragt sind ortsangepasste Lösungen unter selbstverständlicher Beachtung der Belange der Barrierefreiheit.

„Heute barrierefrei bauen für die Gesellschaft von morgen.“

Gleichstellungsgesetze und Regelwerke für den Straßenbau sind wichtig, können jedoch fehlendes soziales Miteinander nicht kompensieren. Wer an einem Zebrastreifen nicht anhält, wenn er ein Kind oder einen blinden Menschen sieht, dem kommen wir nicht mit einer DIN-Norm zu Barrierefreiheit bei. Wir können Verkehrsanlagen sehr viel barrierefreier als heute gestalten, aber unser Verkehrssystem besteht nicht zuletzt auch aus dem Verhalten der Nutzer. Wir alle müssen die Barrieren in unseren Köpfen abbauen.

Ein für „alle Menschen …“, wie es die anfangs zitierte Definition formuliert, barrierefreier öffentlicher Raum ist derzeit nicht in Sicht. Wir haben bei weitem nicht für alle Gruppen befriedigende Antworten. Und wir sind wohl noch nicht bereit, unser vor allem auf schnelles Fahren orientiertes Verkehrssystem auch im Licht der Barrierefreiheit kritisch zu reflektieren. Barrierefrei wird der Stadtverkehr nicht sein, bevor wir ihn auch auf ein kindergerechtes Maß gebracht und deutlich verlangsamt haben.

Wir können in Sachen Barrierefreiheit in den letzten Jahren in Deutschland von einem Quantensprung sprechen. Es ist im Vergleich zu früher sehr viel in Bewegung gekommen. Gleichzeitig stellen wir jetzt fest, dass wir uns erst am Anfang des Weges befinden. Dass dieser Weg für uns alle – und nicht nur für die Anderen, die behinderten Menschen – relevant ist, zeigt ein kurzer Blick ins Morgen. Wer von uns weiß schon, wann ihm das Gehen schwerer fallen wird, wann die Sehkraft nachlässt. Wir alle werden zwangsläufig älter. Und auch Unfälle sind und bleiben, nicht zuletzt verursacht durch unseren gefährlichen Straßenverkehr, keine Seltenheit. Von heute auf morgen kann jeder von uns zum „Behinderten“ werden – und sei es nur vorübergehend, mit gebrochenem Bein oder einer besonders schweren Tasche. Auch in diesen Fällen fällt das Einsteigen in die Straßenbahn leichter, wenn das fast stufenlos möglich ist. Denkt man an dieser Stelle ein wenig weiter und hält sich die aktuellen demografischen Prognosen vor Augen, wird schnell klar: Wenn wir heute barrierefreie Verkehrsverhältnisse schaffen, bauen wir auch für unser eigenes Morgen.

Dirk Bräuer

Verkehrsplaner Dipl.-Ing. Dirk Bräuer ist Mitinhaber des Büros AB Stadtverkehr, einem bundesweit tätigen Planungsbüro mit Standorten in Bocholt, Dresden und Köln.
Kontakt und Informationen:
www.ab-stadtverkehr.de

 

Automaten sind oft auf „Erwachsene stehend” genormt. Hier ein Positiv-Beispiel für alle Automatenplaner.

Das Bundesgleichstellungsgesetz

Kernstück des am 1. Mai 2002 in Kraft getretenen »Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze« (BGG) ist die Herstellung einer umfassend verstandenen Barrierefreiheit. Gemeint ist damit nicht nur die Beseitigung baulicher Barrieren für Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte, sondern zum Beispiel auch die Zugänglichkeit der elektronischen Medien für blinde und sehbehinderte Menschen. Menschen mit Behinderungen sollen alle Lebensbereiche in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernisse und grundsätzlich ohne fremde Hilfe nutzen können. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden verschiedene Bundesgesetze im Bereich Bahn-, Luft- und Nahverkehr sowie u.a. das Gaststätten- und Hochschulrahmengesetz geändert. Zudem wurde die Deutsche Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt.

 

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