Titel 6/2008

SozialeR Hintergrund

Nicht ohne mein Auto

Menschen mit wenig Geld sind weniger mobil – und laufen dadurch Gefahr, weiter zu verarmen. Vielen erscheint das Auto als letzter Anker vor dem öffentlich sichtbaren Abstieg.

 
Fotos: Marcus Gloger  

„Morgen wird für mich ein sehr trauriger Tag sein. Oh, es ist so grausam. Ich verkaufe morgen mein Auto. Das ist kein Witz. Das ist keine virtuelle Realität. Das ist das Leben mit Hartz IV. Ich glaube nicht, das die Gründerväter des Grundgesetzes das so wollten.“

Das schreibt im Juni 2006 ein Betroffener in seinen „Hartz-IV-Blog“ im World Wide Web. Seit den 50er Jahren, der Zeit des Wirtschaftswunders in der jungen Bundesrepublik, als der Kauf eines VW Käfers gleichbedeutend war mit: „Wir haben es zu etwas gebracht“, gilt das Auto in Deutschland als das Statussymbol schlechthin. Wer gezwungen ist, es abzuschaffen, muss wirklich arm dran sein, so die – noch – verbreitete Sicht.

 


Immerhin, der bloggende Hartz-IV-Empfänger hat erkannt: Der Spritverbrauch seines Wagens von etwa zwölf Litern pro Kilometer war auf Dauer nicht finanzierbar von dem Geld, das der Staat Langzeitarbeitslosen zahlt. Etwa vier Prozent des monatlichen Regelsatzes sind für den Bereich „Verkehr“ vorgesehen. Bei einem Alleinstehenden sind das etwa 14 Euro im Monat. Von dem Geld muss er nicht nur den Unterhalt eines Autos finanzieren, sondern auch Bus- und Bahntickets kaufen, das Licht am Fahrrad reparieren lassen oder durchgelaufene Schuhe durch ein neues Paar ersetzen. Das ist schlicht nicht möglich. Fest steht: Wer wenig Geld hat, dem bleibt auch nicht viel für seine Mobilität.

In der Bundesrepublik – wie in der gesamten EU – gelten Menschen als arm, denen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens ihres Landes zur Verfügung stehen. Das sind laut aktuellem Armutsbericht der Bundesregierung 13 Prozent der deutschen Bevölkerung. Weitere 13 Prozent werden durch Sozialtransfers wie Kindergeld, Wohngeld oder Arbeitslosengeld II vor dem Abrutschen in die Armut bewahrt. Bei der Definition spielt jedoch nicht ausschließlich das Einkommen eine Rolle. Die EU fomulierte 1984, arm sei, wer über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfüge, dass er von der Lebensweise ausgeschlossen sei, die in seinem Land als Minimum gelte.

Seit den 50ern
gilt das Auto in Deutschland als
das Statussymbol
schlechthin.

 

Für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist wiederum Mobilität entscheidend. Diese ist nicht gleichzusetzen mit der Zahl an Kilometern, die ein Mensch am Tag mit verschiedenen Verkehrsmitteln zurücklegt. Konrad Götz, Lebensstilforscher aus Frankfurt und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des VCD, definiert Mobilität als „Potenzial der Beweglichkeit“. „Jeder sollte sich dorthin bewegen können, wo er hin will – und zwar multimodal, das heißt, nicht auf ein bestimmtes Verkehrsmittel festgelegt“, sagt der Leiter des Forschungsbereichs Mobilität und Lebensstilanalysen des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE). „Mobilität ist ein Grundbedürfnis, das bis zu einem gewissen Maß gesichert sein muss – damit die Menschen sich wiederum andere Bedürfnisse erfüllen können: einkaufen, arbeiten, Freunde treffen, am kulturellen Leben teilnehmen.“

Das heißt, wer sich eine ausreichende Mobilität nicht leisten kann, ist möglicherweise auch von anderen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen, schlimmstenfalls sogar vom Arbeitsmarkt, und verarmt weiter: finanziell, sozial und kulturell.

 

 

Diana Runge hat das Thema Mobilitätsarmut in Deutschland untersucht. Die Diplom-Ingenieurin, die an der Technischen Universität Berlin im Bereich „Integrierte Verkehrsplanung“ tätig ist, stellt fest, dass es Menschen gibt, die ihre „Mobilitätsansprüche und -bedürfnisse nicht angemessen verwirklichen können, was zu einer Benachteiligung der Betroffenen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führt.“ Darunter können Geringverdiener ebenso fallen wie Kinder, Ältere und Menschen mit körperlichen Behinderungen.

In ihrer Veröffentlichung „Mobilitätsarmut in Deutschland?“ beschreibt Diana Runge, wie eingeschränkte Beweglichkeit den sozialen Abstieg verstärken kann – was wiederum zur Mobilitätsarmut beiträgt. „Studien aus Großbritannien zeigen: Menschen, die nur in ihrem näheren Umkreis nach einer Arbeitsstelle suchen können, haben weniger Auswahl bzw. laufen Gefahr, dass ihre Qualifikationen im lokalen Bereich nicht benötigt werden“, so Runge. Wenn die Betroffenen keinen neuen oder besser bezahlten Job finden oder ihn nicht annehmen können, weil der Arbeitsplatz ohne Auto nur mit großem Zeitaufwand erreichbar ist, haben sie auch nicht die Chance, ihre Situation zu verbessern.

 

 

Die Studie „Mobilität in Deutschland“, für die im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums im Jahr 2002 bundesweit mehr als 50000 Haushalte zu ihrem alltäglichen Verkehrsverhalten befragt wurden, zeigt, dass Niedrigverdiener weniger Kilometer am Tag zurücklegen. Sie besitzen seltener ein Auto, fahren deshalb häufiger mit öffentlichen Verkehrsmitteln und mit dem Rad und gehen öfter zu Fuß als Menschen mit höherem Einkommen. Fazit der Studie: „Ein höherer Lebensstandard ist verbunden mit mehr Aktivitäten außer Haus, größeren Entfernungen, der Dominanz des Autos und damit erzielbaren höheren Geschwindigkeiten.“

Symbol des Dabeiseins

Eine Ursache der Mobilitätsarmut innerhalb bestimmter sozialer Gruppen ist die verfehlte Verkehrs- und Städteplanung der vergangenen Jahrzehnte. Instrumente wie die Pendlerpauschale trugen dazu bei, dass in den Vororten der Städte reine Einfamilienhaussiedlungen entstanden. Die Ausweisung günstiger Gewerbeflächen auf der „grünen Wiese“ führte zum Bau riesiger Einkaufszentren auf Kosten kleinerer Geschäfte in den Innenstädten. Die zunehmende Zersiedelung wiederum begünstigt ausschließlich den Autoverkehr. Supermärkte, Sporthallen oder Kinos sind immer seltener zu Fuß erreichbar – und auch Bus und Bahn fahren oftmals nur schlecht getaktet in die Peripherie.

Vor allem in ländlichen Regionen, wo sich ein gut ausgebautes Bus- und Bahnnetz wirtschaftlich nicht lohnt, gilt: Wer sich kein Auto leisten kann oder keinen Führerschein besitzt, ist in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. In der Stadt wiederum leiden Menschen mit wenig Geld unter Umständen doppelt unter den Folgen einer autozentrierten Verkehrsplanung. Sozial Benachteiligte leben oftmals in Randbezirken an vielbefahrenen Hauptstraßen oder Autobahnen, da Wohnraum dort billiger ist – und kommen nur selten raus. „Viele Städte Europas verfügen immer noch über Stadtteile, die durch den Verkehr hoch belastet sind. Diese Quartiere weisen zugleich eine Konzentration solcher Bevölkerungsteile auf, die unterdurchschnittlich motorisiert oder durch den öffentlichen Verkehr schlecht versorgt sind“, erklärt Tilman Bracher vom Arbeitsbereich Umwelt und Verkehr des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu). „Dort verschränken sich beide Problemkreise: Mobilität in Form von motorisiertem Verkehr wird zum einen zum Risiko, trägt zur Verschlechterung der Lebensbedingungen bei. Zum anderen schränken mangelnde Mobilitätsmöglichkeiten den Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt usw. ein. Auf diese Weise werden Armuts- und Benachteiligungsstrukturen verfestigt, auch in sozial-räumlicher Hinsicht.“

Neue Mobilitäts-Werte

Da wundert es kaum, dass viele Betroffene das Auto als entscheidendes Verkehrsmittel für die gesellschaftliche Teilhabe ansehen. So kommentiert im „Hartz-IV-Blog“ eine Internetnutzerin mit dem Pseudonym „Tango-Rita“ die Geschichte des Arbeitslosen, der um sein Auto trauert, mit den Worten: „Auto abschaffen, wie kann denn das richtig sein? Wie soll man denn da noch den heutigen Arbeitsmarkt erreichen?“
Trotz der Kosten für Versicherungen oder Reparaturen und der hohen Spritpreise: Vom Auto trennen sich die meisten erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. „Generell scheint zu gelten: Hat eine Person bzw. ein Haushalt erst einmal ein Auto, dann wird dies äußerst selten wieder abgeschafft“, sagt die Berliner Verkehrsforscherin Diana Runge. „Steigendes Einkommen geht häufiger – und schneller – mit der Anschaffung eines Pkw einher, als ein sinkendes Einkommen zu dessen Verkauf führt.“

Mit rationalen Überlegungen hat das bei vielen Menschen allem Anschein nach nichts zu tun – vor allem, wenn sie in größeren Städten mit einem guten ÖPNV-Netz leben. Auch wenn Bus- und Bahnfahren wegen der steigenden Energiepreise ebenfalls teurer wird: Muss ein Haushalt die laufenden Kosten für ein Auto nicht mehr bestreiten, könnte er im Monat leicht mehrere Hundert Euro sparen. Damit ließe sich nicht nur eine ÖPNV-Monatskarte oder eine BahnCard 50 kaufen. Es bliebe sogar etwas übrig für einen Kinobesuch, ein Abendessen im Restaurant oder fürs Sparbuch.

Dass das Auto über den Fortbewegungszweck hinaus eine wichtige Statusfunktion erfüllt, hat die Lebens- und Mobilitätsstilforschung hinreichend bewiesen. „Das Auto ist ein Symbol der sozialen Integration, des »Dabeiseins« und der Normalität“, sagt Konrad Götz vom ISOE. Es gezwungermaßen abzuschaffen, bedeutet für viele, den letzten Anker zu lichten, der sie mit der Mitte der Gesellschaft verbindet.
Götz hofft, dass die autolose Mobilität in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein neues Image bekommt, das alle Gesellschaftsschichten erreicht. Auf Bus, Bahn oder Fahrrad umsteigen zu müssen, dürfe nicht länger als Symbol des sozialen Abstiegs empfunden werden, so der Lebensstilforscher. Vor dem Hintergrund steigender Energiekosten und schmelzender Polkappen findet die Umcodierung teilweise bereits statt – allerdings vor allem innerhalb jener gesellschaftlichen Gruppen, die sich bewusst mit diesen Themen auseinandersetzen. „Das Image des Fahrrads zum Beispiel hat in den vergangenen Jahren enorm hinzugewonnen“, stellt Diana Runge fest. „Und zumindest in den Großstädten ist auch der ÖPNV schon längst nicht mehr »nur was für Arme«. Einige Gruppen, unter anderem Studierende oder ökologisch orientierte Menschen, sehen mittlerweile den Autoverzicht als Statussymbol an. Noch ist das die Minderheit, aber die Tendenz ist steigend.“ Hier sind auch die Kommunen gefragt: Sie müssen Wohlfühl-Bedingungen für Fußgänger und Radfahrerinnen schaffen und den ÖPNV für Niedrigverdiener attraktiver machen, beispielsweise mit Hilfe von stark ermäßigten Sozialtickets.

Dann gelten irgendwann nicht mehr diejenigen als wirklich arm dran, die ihr zwölf Liter schluckendes Auto verkaufen müssen – sondern alle, die nicht einsehen, dass ebendieses Auto der Grund dafür ist, dass sie sich Bahnfahren nicht leisten können­.

Kirsten Lange

Studie des Verkehrsministeriums:
www.mobilitaet-in-deutschland.de 2009 wird es aktuelle Ergebnisse geben, die Befragung läuft zurzeit.

   
 

Wer ist eigentlich arm?

Nach allgemeinem Verständnis gilt als arm, wer sich nicht aus eigener Kraft hinreichend und angemessen mit Kleidung, Lebensmitteln, Wohnraum und anderen lebensnotwendigen Dingen versorgen kann. Gemäß UNO-Definition lebt in „absoluter Armut“, wer weniger als einen US-Dollar pro Tag zum Leben hat. In Industrieländern gilt die Definition der „relativen Armut“. Die EU hat sie 1984 wie folgt beschrieben: „Als verarmt sind jene Einzelpersonen, Familien und Personengruppen anzusehen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar sind.“ Die Grenze zog die EU bei 60 Prozent des mittleren Einkommens in dem jeweiligen Staat. Laut drittem Armutsbericht der Bundesregierung von September 2008 lebt ein Alleinstehender in Deutschland mit einem Einkommen von weniger als 781 Euro netto monatlich an der Armutsgrenze. Eine Familie mit zwei Kindern ist arm, wenn ihr Einkommen unter 1640 Euro netto liegt.

   
 

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