Reise 2/2008

Einfach losgehen

Neue Wanderlust

Der CO2-Ausstoß auf 100 Kilometer ist minimal. Die Sauerstoffaufnahme dafür phänomenal. Wandern ist beileibe nicht die bequemste Art der Fortbewegung. Aber gewiss die natürlichste, gesündeste und sinnlichste. Und auf alle Fälle absolut nachhaltig: Muskelkraft ist schließlich eine erneuerbare Energie. Sie speist sich aus nachwachsenden Rohstoffen.

Foto: ISTOCKPHOTO.COM

Wir investieren ungemein viele geistige und materielle Ressourcen in die Entwicklung von umweltschonenden Autos. Da geht es um Biosprit, Hybrid-Antriebe, 3-Liter-Autos etc. Alles schön und gut. Aber warum nicht einen Teil der dafür aufgewandten Phantasie und Kreativität für radikale Lösungen aufwenden: postfossil mobil – Eigenbewegung, also Mobilität aus eigener Körperkraft. Wie mache ich die Bewegung zu Fuß durch den Raum, also das Wandern – und sein urbanes Pendant, das Flanieren – für möglichst viele Menschen zu einer möglichst lebenslangen Gewohnheit? Natürlich intelligent vernetzt mit so schönen Aktivitäten wie Radeln und – naja – Bahnfahren.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Kult der Beschleunigung mit dem Kult der Bequemlichkeit unlösbar verknüpft. Innerhalb von 24 Stunden ist jeder beliebige Punkt des Globus erreichbar. Aber an die 90 Prozent unserer Zeit verbringen wir in geschlossenen Räumen. Büromenschen unserer Gegenwart legen im Durchschnitt 400 oder 500 Meter pro Tag zu Fuß zurück. Wir bewegen uns rasend, aber eingeschlossen und sitzend, in Fahrzeugkabinen. Der Raum schrumpft, die Zeit rast. Jetzt stoßen wir an die Grenzen. Die Dynamik dieser Entwicklung ist nicht nachhaltig. Die Kombination von rasender Beschleunigung und fataler Bewegungsarmut tut uns nicht gut. Sie wirkt zerstörerisch auf die Natur, auch die menschliche. Sie beschädigt selbst die Erfolgreichen, die Global Players, die vermeintlichen Gewinner. Auf Dauer ist sie nicht lebbar.

Das Unbehagen daran ist mit Händen greifbar. Das wäre der Ansatzpunkt für eine Gegenkultur des Zu-Fuß-Gehens. Die elementare Erkenntnis: Wir sind Bewegungswesen. 99 Prozent seiner Zeit auf dem blauen Planeten bewegte sich Homo sapiens ausschließlich zu Fuß. Die Jäger und Sammlerinnen vormoderner Kulturen gingen täglich 20 bis 40 Kilometer. Darauf ist unser ganzer Körperbau bis in die feinsten Nervenspitzen hinein angelegt. Genau hier kommt die alte Kunst des Wanderns neu ins Spiel. Auf jeder noch so anspruchslosen Tour spüren wir: Das Gehen in der freien Landschaft nimmt das Tempo aus dem Ablauf des Tages. Man reduziert es auf das menschliche Maß, den Fuß, den Schritt. Vier oder fünf Kilometer pro Stunde. So wie bei unseren Ahnen, die in der Morgenröte der Evolution den aufrechten Gang probten. Dabei tritt das ganze Ensemble unserer Muskeln, Sehnen und Nerven in Aktion. Wir spüren Wohlbefinden. Manchmal so etwas wie Rausch. Oder Glück. Bewegung in frischer Luft und schöner Landschaft macht süchtig.

Die Ökologie der Sinne

Mit der Beschleunigung geht die Entwirklichung und Entsinnlichung unseres Alltags einher. Wir verbringen mehr und mehr unserer Lebenszeit vor Bildschirmen. Per Mausklick navigieren wir durch die virtuellen Welten des Internets. Dort weht kein Lüftchen. Kein Duftfeld, kein lebendiger Klang, keine Bodenhaftung nirgendwo. Die Überdosis von künstlichen Welten bringt uns aus der Balance.

Wie weit gehen wir noch aus eigener Kraft? Wenig mehr als vier Kilometer in der Woche.
Foto: Herbert Schnierle-Lutz

Wandern schärft die Sinne. Der langsame, stetige Strom der Eindrücke tritt an die Stelle der medial vermittelten Sturzflut der Bilder. Wer die Farbenpracht eines herbstlichen Laubwaldes bewusst erlebt hat, nutzt die Farbskalen der Designer-Software souveräner. Ohne die direkte Erfahrung von Nahräumen bleibt die Wahrnehmung globaler Räume oberflächlich. Ohne das eigene Erleben in begehbaren Räumen ist man den Medienbildern aus den besehbaren Räumen ausgeliefert. Virtuelle Welten werden erst im Gegenlicht von realen Erfahrungen produktiv. Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich.

Die neue Leichtfüßigkeit

Also: Wandern – ja bitte! Aber wie? Patentrezepte gibt es nicht. Die alten Dogmen sind untauglich. Ein Comeback von Kniebundhose und Klampfenliedern gibt es nicht. Aber die neuen Dogmen von Outdoor-Branche und Touristikern bringen es auch nicht. So hilfreich es ist, die Infrastruktur für das Wandern zu erneuern. Das jeweilige „gear of the year“ oder der frisch zertifizierte Premium-Trail sind keinesfalls ein „Muss“. No logo! Wanderglück ist nicht käuflich. Den Pfad dorthin muss sich jeder selbst suchen und bahnen.

Leichtes Gepäck und feste Schuhe sind gute Voraussetzungen – und auch im Karohemd kann Wandern Spaß machen.
Foto: www.altabadia.it

Einfach verschwinden. Den Rucksack packen, verschwinden. Unterwegs auf sich allein gestellt sein. Allenfalls mit selbst gewählten Weggefährten Natur erleben. Sich selbst in einer großen Landschaft erleben. Keine Spuren hinterlassen. Autonom, selbstgenügsam sein. Das Erlebnis von Autarkie – Selbstmächtigkeit – und weitgehender Freiheit ist Essenz und Faszinosum des neuen Wanderns.

Gehen und tragen. Beides gehört zusammen für den, der unterwegs unabhängig sein will. Strapazen sind unausweichlich. Wichtig scheint mir: Die Freude am Gehen nicht von der Qual des Tragens zerstören lassen! In diesem Licht stellt sich die Frage nach der Ausrüstung. Wanderglück hängt nie von der Menge der Sachen ab, die man mitnimmt, um sich gegen alle Unbillen der Natur und jede Eventualität zu wappnen. Was wir am Körper und auf dem Rücken tragen, ist dann funktionell, wenn es uns optimal hilft, unser Ziel zu erreichen. Das ist freilich nicht in erster Linie der Punkt Omega am Ende unserer Route. Das Ziel liegt im Erlebnis des Weges und des Unterwegsseins. Wann und wo der Wanderer, die Wanderin Momente des Glücks erlebt oder bewusstseinserweiternde Erfahrungen macht, ist nie vorhersehbar. Alles, was die Durchlässigkeit für den Strom der Eindrücke von außen und der Regungen von innen steigert, ist willkommen. Alles, was uns von Natur und Kosmos und unseren eigenen Tagträumen abschottet, ist Ballast.

Mut zum Weniger

Leichtfüßigkeit fängt im Kopf an. Ich plädiere für einen sorgfältigen Minimalismus beim Rucksackpacken. Ich versuche, mit fünf Kilo Gepäck plus Proviant auszukommen. Auch auf einer langen Tour. Der Mut zum Weniger ist ein Hebel zur Steigerung der Intensität. Und er reduziert die Kosten. Eine Lektion, die von unterwegs in den Alltag mitzunehmen wäre: Dass es oft nur ein Minimum an Dingen braucht, um eine Maximum an Wohlbefinden zu erleben.

Das neue Wandern ist ein freies Schweifen und kein betreuter Pauschalurlaub. Unverzichtbar ist für mich ein guter Schlafsack. Er macht mich unabhängig vom Erreichen eines vorgebuchten Quartiers. Damit entfällt ein Großteil der Angst vor dem Irrweg. Ich habe mich verlaufen? Na und? Ich schaue nach dem Stand der Sonne, suche nach Landmarken im Gelände und auf der Karte, richte meinen Kurs neu aus. Das alles schärft den Orientierungssinn, den wir auch in unserem so unübersichtlich gewordenen Alltag dringend brauchen.

Früh übt sich: Wer Kinder auf Wanderungen mitnimmt, zeigt ihnen, wie sie einfach aus eigener Kraft vorankommen können.
Foto: photocase.com/Markus Nicolini

Wer auch mental auf Nachtwanderung und Biwak eingestellt ist, kann sich erst richtig in die kosmischen Rhythmen von Tag und Nacht, Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang einklinken. Die lineare Zeit von Uhr und Kalender verblasst. Die Naturzeiten von Sonne, Mond und Sternen rücken wieder ins Bewusstsein.

Die Nacht im Wald, das Element des Abenteuerlichen machen das Wandern auch für Großstadt-Kids wieder attraktiv. Also rechtzeitig die Kinder mitnehmen. Ehe die Vorstellung in Fleisch und Blut übergegangen ist, Autofahren sei die normale Art der Fortbewegung und der Blick durch die Windschutzscheibe die maßgebliche Art der Wahrnehmung von Welt. Ihnen das Grundvertrauen in die Kraft der eigenen Beine und Lunge – und des Geistes – stärken. Mit ihnen zusammen unterwegs den Zauber von Mutter Natur genießen, ihre Schönheit und Majestät, ihre unbändigen, auch ihre wehtuenden und zerstörerischen Kräfte aufspüren. Darin liegt die Zukunft des Wanderns.

Eigenbewegung im Alltag

Mehr lesen von unserem Autor und Wanderspezialisten Ulrich Grober: Vom Wandern – Neue Wege zu einer alten Kunst. Zweitausendeins Verlag, 343 Seiten, 19,90 Euro.

Entscheidend aber scheint mir: Die Lust am Wandern in den urbanen Alltag mitzunehmen und dort in die Lust an der Eigenbewegung zu verwandeln. Die Wiederkehr des Wanderns macht erst richtig Sinn, wenn sie die „Mobilität aus eigener Körperkraft“ überall befördert. Das fängt dort an, wo wir den Schulweg der Kinder zu Fuß organisieren. Der Weg ins solare Zeitalter ist unausweichlich. Wer in frischer Luft und freier Landschaft seiner Freude am Gehen frönt, wird immer weniger auf die Idee kommen, daheim in die Blechkiste zu steigen und den Fuß bleiern aufs Gaspedal zu treten, um Brötchen zu holen. Gehen und Radeln, kombiniert mit Bus und Bahn, rücken so wieder ins Zentrum unserer Mobilitätsgewohnheiten. Aus der neuen Lust am Wandern entsteht eine nachhaltige Kultur des Flanierens.

Es gibt ungestillte Sehnsüchte nach der Ferne. Aber es gibt auch die Exotik der Nähe. In Japan feiert die ganze Nation alljährlich die Kirschblüte. „Hanami“ – das bedeutet: Blüten betrachten. Wundervoll! Aber was wären die magischen Momente im jährlichen Zyklus unserer heimischen Natur? Der Laubaustrieb in unseren Buchenwäldern zum Beispiel. Diese „Galavorstellung“ findet zwischen Mitte April und Anfang Mai, also jetzt, statt. Völlig kostenlos. Wie wär’s mit einem Selbstversuch? Ob drei Stunden im Stadtwald vor der Haustür oder drei Tage in den Buchenwäldern im thüringischen Hainich, im nordhessischen Kellerwald, im fränkischen Steigerwald. Einfach losgehen…

Ulrich Grober

 

   
 

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