Reise 1/2008

Graubünden

Die Chur-Direktoren

Chur, die Hauptstadt des Schweizer Ferienkantons Graubünden, kennen viele Touristen nur vom Umsteigen in die Rhätische Bahn nach St. Moritz, Davos oder Arosa. Bereits der allererste Verkehrsdirektor Erhard Meier wollte Durchreisende zum Bleiben bewegen. Der neue Direktor Michael Meier greift auf die Strategie seines Vorgängers zurück.

Foto: Swiss Image

Von seinem Schreibtisch aus überblickt Michael Meier alles, was seiner Arbeit Sinn gibt. Schaut der 29-Jährige mit den kurzen blonden Haaren von seinem Bildschirm auf, sieht er durch die verglaste Bürowand hinab in die Halle des neu umgebauten Bahnhofs Chur. Er beobachtet Touristen mit Wanderrucksäcken, die ihren Stadtplan studieren. Er sieht Männer und Frauen, die mit Einkaufstüten in den Händen zu den Gleisen eilen, um zurück in ihr Tal zu fahren. Er guckt mit Skistöcken beladenen Familien zu, die mit der Rhätischen Bahn 1200 Höhenmeter hinauf ins schneesichere Gebiet des Kurorts Arosa zuckeln wollen. Dreht Michael Meier den Kopf nach links, springt ihm durchs Fenster wie gerahmt das 2800 Meter hohe Calanda-Massiv ins Auge, im Vordergrund das Bahngelände, Gleise nach Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich.

Im neuen Büro von Chur Tourismus im ersten Stock des Bahnhofsgebäudes macht sich der junge Geschäftsführer seit November 2006 täglich bewusst, wofür die Destination auf 600 Metern über dem Meer steht, die er verkauft. Chur ist für ihn alpine Verkehrsdrehscheibe, idealer Ausgangsort für Bergtouren, Shopping- und kulturelles Zentrum der Ferienregion Graubünden im Osten der Schweiz. Die Menschen, die die Stadt nur von der Durchreise in die berühmten Skiorte St. Moritz, Davos oder Arosa kennen, will Michael Meier zum Bleiben bewegen. Er setzt dabei zum einen auf Übernachtungsgäste, zum anderen auf Tagestouristen aus den umliegenden Alpenorten und Bergtälern.

Chur ist schön, verweile

35 Jahre früher, 150 Meter Luftlinie vom heutigen Büro des Tourismusvereins entfernt in einem grauen Bürokomplex, haut Erhard Meier, erster hauptamtlicher Verkehrsdirektor von Chur, in die Tasten seiner Schreibmaschine. „Älteste Schweizer Stadt mit 5000 Jahren Siedlungsgeschichte“, tippt der dunkelhaarige 57-Jährige hinter dem wuchtigen Nussbaumschreibtisch, der ein Viertel seines Büros einnimmt. „Eine sportliche Stadt mit modernstem Sportzentrum. Hotels mit günstigen Preisen. Viele sympathische Wirtschaften. Größtes Einkaufszentrum zwischen Zürich und Mailand. Abends Gemütlichkeit, Unterhaltung und Tanz! Günstige Ausflugsbillette und attraktive Ski-Pässe.“ Der Text soll auf einem Werbeplakat stehen. Wenn es gedruckt ist, wird es in Schaufenstern, Tankstellen und Bahnhöfen im In- und Ausland hängen. Es soll Skitouristen aus den umliegenden Winterdestinationen für Tagesausflüge und Einkaufstouren nach Chur locken. Und nicht nur Gastronomie und Einzelhandel, auch die Hotels sollen vom Skitourismus profitieren, der Anfang der 60er Jahre wie eine Lawine über die Region gekommen ist. Erhard Meier lädt die Gäste ein, in der Kantonshauptstadt zu übernachten und von dort aus in die Skigebiete zu fahren. Er will aus Chur, dem Umsteigebahnhof, eine Fremdenstadt machen. Mit seiner Strategie hat er Erfolg: Seit seinem Amtsantritt 1970 steigen die Übernachtungszahlen an.

Gleicher Name, gleiches Amt, gleiche Ziele: Michael Meier und Erhard Meier, der älteste und der jüngste Chur-Direktor haben viel gemeinsam. Allerdings sind die Zeiten andere.

Michael Meier muss nicht wie sein Vorgänger in den 70er Jahren jede Pressemitteilung auf Wachsmatrize vervielfältigen und mit der Post an dutzende Redaktionen schicken oder Journalisten per Fernschreiber zu einer Medienreise einladen. Er sendet das Angebot mit einem Knopfdruck per E-Mail. Die Vorzüge seiner Stadt kann Michael Meier Millionen Menschen mit Texten und Bildern im Internet präsentieren. Ganz oben auf der Website von Chur Tourismus steht das neue Logo, ein stilisierter Capricorn. Der Steinbock ist das Wappentier Graubündens und Teil des Corporate Designs der regionalen Tourismusorganisationen, entwickelt in einem zweijährigen Prozess von einer renommierten Züricher Markenagentur.

Fotos: Kirsten Lange
Churs ersten Verkehrsdirektor Erhard Meier (links) und seinen Nachfolger Michael Meier verbindet das Ziel, aus der Stadt eine bekannte Feriendestination zu machen.

Im Jahr 1972 rückt Erhard Meier hinter seinem Nussbaumschreibtisch die schwarze Hornbrille zurecht und reibt konzentriert die Buchstaben „CHUR“ von einer Schablone auf den Plakatentwurf ab. Seine Sekretärin hat bereits Feierabend gemacht, jetzt sitzt er allein im Büro. Erhard Meier wirbt für seine Stadt mit dem Motto: „Ein Strauß voller Möglichkeiten.“ Er spricht nicht von Corporate Design, er nennt es „gemeinsames Leitbild“. „Chur ist schön, verweile“, lautete das in den 40er Jahren, „Kleine Stadt für große Bündnerferien“ in den 60ern. Meier hat als Logo ein dunkel- und hellgrünes Blätterbündel entworfen, in dem wie Blüten gelbgrüne Kreise hängen mit den Umrissen des Churer Bischofshofs und der Bistumskathedrale – die er von seinem Schreibtisch aus durchs Fenster betrachten kann.

Die Bündner Kapitale ist für Erhard Meier die „wichtigste Alpenstadt im europäisch-historischen Kontext“. Auf seinen Stadtführungen schildert der Verkehrsdirektor, wie die deutsch-römischen Kaiser im Churer Hof residierten und wie sie Politik machten mit den Alpenpässen, die damals wichtige Handelsadern waren. Er weist in der Altstadt auf die Zunft- und Bürgerhäuser aus dem 16. bis 18. Jahrhundert hin und auf den spätgotischen Bau der evangelischen Pfarrkirche St. Martin.

Foto: Kirsten Lange
Die Bistumskathedrale ist für Erhard Meier das Sinnbild Churs. Das 800 Jahre alte Gebäude wurde von 2001 bis 2007 umfassend restauriert.

„Vor allem die verkehrsfreie Altstadt mit ihren individuellen Boutiquen und schönen Cafés und mit Parkplätzen in unmittelbarer Nähe lädt ein zum gemütlichen Ladenbummel“, ist 35 Jahre später auf den Internetseiten von Chur Tourismus zu lesen.

Trotz des gemeinsamen Ziels: In den Schwerpunkten ihrer Vermarktungsarbeit unterscheiden sich der ehemalige und der neue Tourismusdirektor. Während der alte Meier großen Wert darauf legte, dass seine Gäste Geschichte und Kultur kennenlernten, liegt für den jungen das touristische Potenzial der Stadt vor allem in der guten Infrastruktur.

Seit Sommer 2007 verkaufen Michael Meier und sein sechsköpfiges Team Chur unter dem Slogan „die Alpenstadt“. „Hier kann man Alpenurlaub machen, ohne auf die Vorteile einer Stadt verzichten zu müssen“, sagt Michael Meier. „Chur ist urban.“

Das unterscheidet die 35000-Einwohner-Stadt von den umliegenden Ferienzielen. Von Davos beispielsweise, dem Ort aus der Retorte. Oder von St. Moritz mit seinen Bettenbunkern, das außerhalb der Saison ausgestorben ist. In Chur gibt es Theater, Museen und eine Hochschule. Abends sitzen nicht nur Touristen in den Kneipen der Altstadt, sondern auch viele junge Einheimische. Gemeinsam trinken Churer und Gäste Calanda-Bräu, das milde Pils aus der Region, oder fruchtigen Blauburgunder aus Malans, während im Hintergrund eine Live-Band spielt. Wer Ski fahren oder wandern will, schwebt mit der Seilbahn von der Altstadt aus auf den Churer Hausberg. Und wer eine Luftveränderung braucht, setzt sich in die gelben Busse der PostAuto-Betriebe oder in die Rhätische Bahn und erreicht in einer Viertel- bis Dreiviertelstunde 26 Kurorte in den umliegenden Tälern und Bergen.

Die kleinen Erfolge

Michael Meier weiß, dass es Chur Tourismus mit einem Budget von jährlich einer Million Schweizer Franken, etwa 600000 Euro, nicht schaffen wird, den Begriff „Alpenstadt“ im internationalen Markt zu verankern. Er möchte, dass die Menschen überhaupt etwas mit Chur verbinden. Mit „Alpenstadt“ identifizieren sich die Einheimischen und Auswärtige können sich unter dem Begriff etwas vorstellen, glaubt er. Meier freut sich über die kleinen Erfolge: darüber, dass ein Churer Magazin jüngst von der „Alpenstadt by night“ schrieb. Darüber, dass Stadtpräsident Christian Boner den Begriff in Vorträgen und Reden immer häufiger benutzt. Seinen Vorgänger rief Michael Meier vor ein paar Tagen wegen des Logos an. Der 92-jährige Erhard Meier arbeitet zurzeit an der Neuauflage seines Chur-Stadtführers, die im Sommer 2008 erscheinen soll. „Wollen Sie den Stadtführer nicht unter unserer Marke präsentieren?“, fragte Michael Meier. „Nein danke, ich bin selbstständig“, antwortete Erhard Meier. „Wenn Sie das Logo doch verwenden möchten, kommen Sie einfach auf mich zu“, sagte Michael Meier. „Wissen Sie, mir ist bewusst, dass ich mit meiner Vermarktungsidee das Rad nicht neu erfunden habe.“ „Das ist doch mal eine weise Erkenntnis“, erwiderte der ehemalige Verkehrsdirektor und lächelte dabei.

Schnellzug Paris–Chur

„Michael Meier ist ein guter Mann“, sagt Erhard Meier über seinen jungen Nachfolger. „Aber einer, wie es sie heutzutage viele in der Branche gibt. Sie kommen alle von der Tourismusschule. Dort haben sie gelernt, auf eine bestimmte Art Geschäfte zu führen.“ Erhard Meier hat nie Tourismus studiert. Dafür hat der geborene Bündner, der nach dem Zweiten Weltkrieg die PostAuto-Betriebe Graubünden leitete, fast sein gesamtes Leben in Chur verbracht.

Der neue Geschäftsführer dagegen stammt aus einem Vorort von Luzern in der Zentralschweiz. Nach seiner Ausbildung als Tourismusfachmann musste Michael Meier erst hineinwachsen in die Region und in die Stadt, die er verkauft. Doch jetzt ist er da, wo er nach der Tourismusschule hinwollte: Er ist Tourismusdirektor.

Es ist 20 vor zwölf und Michael Meier verlässt sein Büro für ein Geschäftsessen. Mit dem französischen Vertreter von Schweiz Tourismus und dem Präsidenten der touristischen Dachorganisation Graubünden Ferien will er besprechen, wie sich die neue wöchentliche Bahnverbindung Paris–Chur am besten vermarkten lässt. Am Freitag, dem 7. Dezember, wird erstmals ein TGV aus der französischen Hauptstadt in der Bündner Kapitale halten, besetzt mit 200 geladenen Gästen: Journalisten, SNCF-Mitarbeitern, Reiseveranstaltern, Botschaftsvertretern. 30 von ihnen bleiben am Wochenende in Chur. In der Schnellzugverbindung sieht Michael Meier eine große Chance für seine Stadt. Damit der TGV auch nach der Wintersaison immer samstags von Zürich nach Graubünden weiterfährt, müssen pro Zug mindestens 60 Passagiere bis Chur sitzenbleiben.

Die 300 Meter zum Büro von Graubünden Ferien legt Michael Meier zu Fuß zurück. Er geht gern durch den neuen Bahnhof – für ihn das Tor zu Graubünden, zur Schweiz und nach Europa. Hier hört er italienische, französische und rätoromanische Satzfetzen, trifft auf Menschen, die seine Arbeit in die Stadt bringt. Hier startet die Rhätische Bahn mit ihren Ein-Meter-Spur-Zügen zu Fahrten über Panoramastrecken durch die Alpen, die Bahnfans aus ganz Europa nach Graubünden reisen lassen. Stärker als bisher will Michael Meier Chur als Ausgangsort für spektakuläre Bahn- und PostAuto-Touren über die Pässe bis nach Italien bewerben.

Die Uhr der St. Martinskirche in der Altstadt schlägt Viertel vor zwölf. Michael Meier bremst seine langen Schritte, er hat noch Zeit. Die 200 Stufen im Turm der Martinskirche ist er am Wochenende gerade emporgestiegen, ein Freund hat ganz oben im Gemeinschaftsraum seinen Geburtstag gefeiert. Auch auf dem Platz vor der Martinskirche sitzt Meier gern und trinkt eine Latte macchiato in der Sonne, samstags, wenn in der autofreien Altstadt Markt ist und die Obergasse nach Gewürzen und Bündner Fleisch riecht.

Bleibender Eindruck

Der 92-jährige Erhard Meier nimmt lieber im Schiff der Martinskirche Platz, als er heute wie fast jeden Tag durch seine Altstadt spaziert. Er sitzt für zehn Minuten in der vorletzten Holzbank und betrachtet die bunten Fenster, die der Graubündener Maler Augusto Giacometti 1919 gestaltete. Anschließend steigt der ehemalige Verkehrsdirektor die 40 flachen Stufen zur Kathedrale empor. Die Bischofskirche ist für ihn das Sinnbild Churs.

Bahnhof und Kathedrale, modernisierter Verkehrsknotenpunkt und 800 Jahre altes Bauwerk: Die Lieblingsorte der zwei Meiers stehen auch für das, was ihnen für ihre Arbeit als Chur-Direktor wichtig war und ist.

Am 9. Dezember steht der TGV „Lyria des Grissons“ abfahrbereit im Bahnhof Chur. 200 Franzosen warten darauf, dass der Schnellzug sie zurück in die Heimat bringt. Michael Meier geht im schwarzen Cordanzug und mit kleinem rotweißem Schweiz-Sticker am Revers noch einmal durch alle Wagen. Die richtigen Worte zur richtigen Zeit können Wunder wirken, ist seine Erfahrung. Er überreicht den 30 Gästen, die das Wochenende in Chur verbracht haben, seine Text- und Bild-Dokumentation über die „Alpenstadt“ mit persönlicher Widmung. „Ich hoffe, dass Chur bei Ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat“, sagt er auf französisch und schüttelt jedem die Hand. „Au revoir“, sagt der Tourismusdirektor, „auf Wiedersehen“.

Kirsten Lange

Mehr Infos: www.chur-tourismus.ch

   
 

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