Titel 5/2007

Modellstadt

Vortritt für Fußgänger

Burgdorf war von 1996 bis 2006 die Fußgänger- und Velomodellstadt (FuVeMo) der Schweiz. Die 15000-Einwohner-Stadt hat dabei die Begegnungszone und den Velo-Lieferdienst erfunden, die Verkehrswende aber nicht geschafft.

 

Foto: Michael Adler
In den Begegnungszonen gelten Tempo 20 und gegenseitige Rücksichtnahme.

„Willst Du dein Gepäck im Schließfach lassen oder bei der Gepäckaufbewahrung abgeben?“, fragt mich die VCS-Referentin Christine Steinmann bei meiner Ankunft am Burgdorfer Bahnhof. In Deutschland würde ein Bahnhof dieser Größe über eine Trinkhalle verfügen und im besten Falle über einen temporär besetzten Schalter mit Sprechritze. In Burgdorf herrscht auch an einem Mittwochnachmittag buntes Treiben am Bahnhof.

Wer mit dem Auto weiterfahren will, kann sich mit einem der fünf CarSharing-Autos der Firma Mobility direkt am Bahnhof bedienen. Keine 100 Schritte vom Schließfach entfernt findet man auch die Velo-Station. Vorübergehend in einem Zelt untergebracht, stehen hier gut 250 Fahrräder. Die Betreuung übernehmen Langzeitarbeitslose, die über staatliche Fördermaßnahmen finanziert werden. Die Station ist nicht nur Abstellplatz fürs Fahrrad. Hier kann man Räder, Kinder- und Lastanhänger mieten sowie Reparaturen fachmännisch ausführen lassen. Eine besondere Spezialität der Modellstation ist der Hauslieferdienst. Mit Elektrofahrrad und Anhänger sind die blauen Einkaufskuriere aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. „Alle Burgdorfer Geschäfte machen mit“, sagt Christine Steinmann. Die Mitarbeiterin im Coop-Supermarkt zeigt sich entspannt: „Nein, das macht keinen zusätzlichen Aufwand“, sagt sie. Die blauen Taschen werden von den Kunden mit einer Vignette beklebt und an einer bestimmten Stelle im Laden abgestellt. Der Bringdienst garantiert die Lieferung innerhalb von maximal zwei Stunden. „Manchmal ist der Einkauf vor mir zu Hause“, sagt Steinmann, „wenn ich in einem Café noch länger hängenbleibe.“

Zunächst kostenlos angeboten, verlangt die Velostation seit 2004 zwei Franken pro Lieferung oder 100 Franken fürs ganze Jahr. Das Geld zahlen die Burgdorfer offenbar gerne. Der Service boomt. 2000 Lieferungen werden derzeit pro Monat abgewickelt – Tendenz steigend.

Eine weitere Erfolgsgeschichte aus der Modelldekade ist die sogenannte Begegnungszone. Diese Innovation startete schon 1996 im Bahnhofsviertel von Burgdorf unter dem etwas nostalgischen Namen „Flanierzone“. „Die entscheidende Veränderung ist der Vortritt für Fußgänger“, erklärt Aline Renard, projektverantwortliche Baudirektorin der Stadt. Die übliche Trennung von Auto und „Langsamverkehr“, wie man in der Schweiz die nichtmotorisierten Verkehrsformen nennt, ist hier aufgehoben. Folglich gelten in den Begegnungszonen Tempo 20 und gegenseitige Rücksichtnahme. Rollernde Kinder, Radfahrer, Fußgänger und Autos teilen sich den gesamten Straßenraum. Auch an einem normalen Werktag bei regnerischem Wetter ist die Begegnungszone im Burgdorfer Bahnhofsviertel belebt und bunt. Kein Gedränge auf den Fußgängerreservaten, die man in gewöhnlichen Städten großspurig immer noch Bürgersteig nennt. „Der ganze Raum ist Bürgersteig. Man fühlt sich als Fußgängerin einfach freier“, sagt Christine Steinmann. Dennoch müsse man schon aufpassen, da längst nicht alle Autofahrer die 20 km/h einhalten.

„Die Begegnungszone ist der große Wurf und das Verhängnis der Modellstadt Burgdorf zugleich“, zieht Aline Renard kritisch Bilanz. Diese Neuerung sei als Versuch schnell realisiert und der Blickfang geworden. Dann sei alle Energie allerdings in den Kampf um die dauerhafte Legalisierung der Begegnungszone geflossen. „Und als diese 2002 endlich erreicht war, waren alle Projektbeteiligten erschöpft“, sagt Renard. Danach fehlte der Antreiber in der Stadt und außerhalb, beispielsweise beim Partner Bundesamt für Energie. Burgdorf ist in mancher Hinsicht eine besondere Stadt. Bei 15000 Einwohnern bietet sie 11000 Arbeitsplätze und verfügt über ein Krankenhaus und eine technische Fachhochschule. Damit gilt die Kleinstadt in der Schweiz als „Agglomeration“. Politisch halten sich fortschrittliche und konservative Kräfte die Waage. „Klar, dass der Modellstatus die Diskussionen in diesem überschaubaren Biotop geprägt hat“, sagt die Burgdorferin Steinmann. Aber die politische Ausgewogenheit habe auch immer wieder zu Kompromisslösungen geführt, die die Bürger eher verwirren.

Misst man den Erfolg an der Zahl der Nachahmer, so hat sich die Burgdorfer Pioniertat dennoch gelohnt. Immerhin 150 Begegnungszonen gibt es inzwischen in der Schweiz, 50 weitere sind in Planung. Oft wird die Tempo-20-Zone auf Bahnhofsvorplätzen eingesetzt. „Die Schweizer sind ein pendelndes Volk“, sagt Renard, „der Bahnhof ist das pulsierende Zentrum vieler Städte.“ Hier könne die Tempo-20-Zone ihre Vorzüge voll ausspielen. Sie bleibt im Vergleich zu Fußgängerzonen durchlässig für Autos, verbietet nichts und ist damit leichter durchzusetzen. Sie ist besser als eine herkömmliche Tempo-30-Zone, weil sie klar den Fußgängervortritt geregelt hat.

Nüchterne Bilanz

Die massenhafte Kopie der Begegnungszone lässt die FuVeMo im Land heller strahlen, als es die tatsächlichen Effekte vor Ort rechtfertigen würden. Die Gesamtbilanz nach zehn Jahren fällt eher nüchtern aus. Die angestrebte Verschiebung des Modalsplit zugunsten des Langsamverkehrs hat nicht stattgefunden. Statt der anvisierten 30 Prozent Erhöhung beim Fuß- und 20 Prozent beim Radverkehr ist nur ein Prozent Verlagerung vom motorisierten auf den nichtmotorisierten Verkehr messbar. Auch die angestrebte Erhöhung der Verkehrssicherheit ist statistisch nicht bedeutend. „Immerhin liegen wir in allen Unfallstatistiken unter dem Landesdurchschnitt“, stellt Renard fest. Und die Zahl der schweren Unfälle sei spürbar gesunken.

Bleibt das eher qualitative Ziel, die friedliche Koexistenz von motorisiertem und nicht-motorisiertem Verkehr zu fördern. „Hier hat FuVeMo viel bewegt“, ist sich Aline Renard sicher. Alle Beschäftigten in der Baudirektion führen Fahrrad. Bei jedem Projekt würden die Fußgänger- und Radfahrerinteressen automatisch berücksichtigt. „Da wirkt der Geist der Modellstadt weiter“, sagt Renard.

Ein weiteres Großprojekt ist dennoch im Dickicht der Politik steckengeblieben. Eine Fahrradhochstraße entlang der Bahntrasse sollte eine kreuzungsfreie Fahrradroute aus den Vororten ins Zentrum ermöglichen. Sie wurde nicht gebaut. Kosten, mangelnder politischer Wille und nachlassender Elan haben die Fortführung der begonnenen Maßnahmen vorerst gestoppt.

Renard würde nach den Erfahrungen mit der einseitigen Förderung des Langsamverkehrs noch grundsätzlicher ansetzen: „Wir müssen Raumplanung und Siedlungsstrukturen verändern. Die vorgeschriebene Zahl von Parkplätzen in den Bauordnungen muss reduziert werden.“ Nur wenn das Fußgänger- und Veloangebot durch deutlichere Maßnahmen gegen den Autoverkehr ergänzt würde, wären die Verlagerungseffekte spürbar. Eine andere Statistik bietet vielversprechende Ansätze für weitere Projekte: Diejenigen Haushalte, die den Velo-Lieferdienst nutzen, haben ihre Autofahrten um 21 Prozent reduziert.

Michael Adler

Weitere Informationen:
www.velostation.ch
www.begegnungszonen.ch
FuVeMo, c/o Baudirektion, Lyssachstr. 92, Postfach, 3401 Burgdorf, Schweiz

   
 

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