Titel 5/2007

Schienenverkehr

Ist die Schweiz eine Bahnrepublik?

Die Schweizer sind Europameister im Bahnfahren. So positiv das ist: Die Verkehrsprobleme sind sie deswegen nicht los.

Eines stimmt: Der öffentliche Verkehr ist in der Schweiz so gut ausgebaut, dass man getrost aufs Auto verzichten kann. Viele tun das auch. In der Hauptstadt Bern besitzen laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage 47 Prozent der Haushalte keinen eigenen Wagen. Und sie bewegen sich doch.
Es stimmt auch, dass die Schweizerinnen und Schweizer besonders weit und häufig Zug fahren. 1720 Kilometer legen sie jährlich mit ihrer Staatsbahn SBB zurück, die Privatbahnen sind da noch nicht mitgerechnet. Das ist Europarekord. Die DB kommt auf 851 Kilometer pro Einwohner. Natürlich hat das mit dem Angebot zu tun.

Nur: Was macht das Angebot so attraktiv, dass es mehr als sonst wo benutzt wird? Die Geschwindigkeit kann es nicht sein. Während TGV und ICE in Frankreich und Deutschland längst mit Tempo 250 und mehr unterwegs sind, beschleunigen die SBB ihre Züge auf der einzigen, kurzen Neubaustrecke zwischen Bern und Zürich erst jetzt von 160 auf 200 Kilometer pro Stunde. An den Preisen wird es auch nicht liegen, da besetzen die Schweizer das Mittelfeld, die italienische FS ist deutlich günstiger, aber weit weniger beliebt. Die Straße bildet im Alpenland, wie überall, eine harte Konkurrenz.

Effizienz statt Glanz

Wahrscheinlich liegt das Erfolgsgeheimnis letztlich in der föderalen Struktur des Landes und im Pragmatismus begründet, der Politik und Bahnen auszeichnet und der mehr auf Effizienz bedacht ist als auf Glanz. Auch in Helvetien gab es um 1970 Pläne für eine Hochgeschwindigkeitsbahn, die die großen Zentren des Mittellandes verbinden sollte. Als Antwort auf den Ausbau der Autobahn, die die Schiene in ihrer Substanz bedrohte. Als das Projekt vorgelegt wurde, löste es in den Randregionen einen Sturm der Entrüstung aus. Sie befürchteten, von der Entwicklung abgehängt zu werden. Der politische Prozess brachte schließlich die Bahn 2000 hervor, deren letzte Etappe Ende 2004 in Betrieb ging. Sie ist nicht einfach ein Neubauprojekt und ebenso wenig eine Hochgeschwindigkeitsbahn. Sie ist ein durchdachtes System, das die ganze Transportkette einbezieht. Sie offeriert einen dichten Fahrplan und hat Erfolg. Die Anzahl der Reisenden ist in den letzten Jahren auf immer neue Rekordwerte geklettert, die Einnahmen steigen.

Foto:SBB
Kein Scherz, einfach nur schön: die Stadtbahnhaltestelle Schutzengel im Kanton Zug

Die Bahn ist Lifestyle

Dank der Bahn 2000 erreicht man die Zentren im Halbstundentakt, manchmal auch schon jede Viertelstunde, man findet an den Bahnhöfen schlanke Anschlüsse vor, auch in schwächer besiedelte Regionen. Dort wartet das gelbe Postauto und bringt einen in Dörfer und Täler. Zwischen Genfer- und Bodensee bildet der öffentliche Verkehr eine echte Alternative zum Auto. Man findet meist auch spät abends noch einen Zug nach Hause.

Das prägt die Verkehrskultur. Die Bahn ist für viele mehr als ein Transportmittel, mit dem man zur Arbeit oder in die Schule pendelt und gelegentlich eine Geschäftsreise unternimmt. Sie ist Lifestyle. 48 Prozent, fast die Hälfte aller Personen über 16 Jahre, besitzen ein Abonnement des öffentlichen Verkehrs. Gut 300000, sechs Prozent, leisten sich für rund 1800 Euro sogar ein Generalabonnement, das ein Jahr lang freien Zutritt zu Bahnen, Bussen, Trams und Schiffen verschafft und auch in den Bergbahnen Vergünstigungen gewährt.

Noch erfolgreicher ist das Halbtaxabonnement, das wenig kostet und die Fahrkartenpreise, wie der Name sagt, halbiert. Davon sind über zwei Millionen in Umlauf. Ein Drittel aller Erwachsenen besitzt ein solches Abonnement. Seine Wirkung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Abonnement existierte schon lange, doch erst, als es die öffentliche Hand ab 1987 auf damals 100 Franken verbilligte, wurde es zum Renner. Die Verbilligung war eine Maßnahme gegen das heute schon fast vergessene „Waldsterben“.

Ein langer Prozess

Das brachte der Bahn zahlreiche neue Kunden und setzte eine positive Spirale in Gang. Denn weil der öffentliche Verkehr, dessen Anteil am Kuchen seit den fünfziger Jahren dramatisch eingebrochen war, wieder mehr Leute beförderte, konnte er sein Angebot weiter ausbauen, was ihn wiederum attraktiver machte und die Affinität der Bevölkerung zur Bahn verbesserte. Diesem Vorgang verdankt das Verkehrsmittel auch einen Teil der politischen Unterstützung. Das Volk, die letzte Instanz bei wichtigen Entscheiden, sagte Ende 1987 Ja zur Bahn 2000. Später hieß es auch den Bau der beiden Transversalen durch die Alpen gut – die erste, jene durch den Lötschberg, geht am 9. Dezember 2007 in Betrieb.

Das zeigt, dass der Erfolg des öffentlichen Verkehrs nicht auf eine einzelne Maßnahme zurückzuführen ist. Es ist ein Prozess, der sich über Jahre und Jahrzehnte entwickelt. Mit dazu beigetragen hat auch der Verzicht auf ein kompliziertes Preissystem. In den Schweizer Zügen gibt es keine Zuschläge, auch nicht für den ICE, der nach Zürich und Interlaken fährt und ins Schweizer Taktsystem integriert ist. Die Fahrkarte ist an keinen bestimmten Zug gebunden. Das schafft Freiheit und senkt die Schwellenangst.

Ungelöste Probleme

Doch auch in der Schweiz prägt der Neoliberalismus die politisch-wirtschaftliche Diskussion. Und selbstverständlich fordern seine Anhänger die Stilllegung von sogenannten unrentablen Nebenlinien oder die Privatisierung der Bahn sowie härteren Wettbewerb. Aber der offensichtliche Erfolg des bestehenden Systems und neuerdings auch die Klimaerwärmung brechen den extremsten Forderungen die Spitze. Immerhin sind die SBB seit 1999 als Aktiengesellschaft organisiert und genießen eine größere Unabhängigkeit als zuvor, als sie ein staatlicher „Regiebetrieb“ waren. Sie gehören nach wie vor zu 100 Prozent dem Staat, an die Börse wollen sie nicht. Im Güterverkehr sind sie dem Wettbewerb ausgesetzt, in beschränkter Form auch im Regionalverkehr, zu dem die S-Bahnen zählen.

Gerade im Regionalverkehr hatte das positive Folgen. Noch vor 20 Jahren hatten die SBB das Interesse an vielen Nebenlinien verloren, sie ließen sie verkommen, einzelne wurden still gelegt. Doch dann entdeckten sie, dass sich dank staatlicher Zuschüsse auch solche Linien mit Gewinn betreiben lassen, wenn man sie auf Vordermann bringt und die Kosten senkt. Die Schweizer Bahnen tun das. Sie haben auch wieder neue Haltestellen eröffnet und ihr immer noch dichtes Netz so den Siedlungsstrukturen angepasst. So speisen die Nebenbahnen die Hauptlinien. Und umgekehrt.

Trotz all dieser Erfolge muss man feststellen, dass die Schweiz ihre Verkehrsprobleme keineswegs los ist. Ökologisch gesehen jedenfalls. Denn der gut ausgebaute ÖV verhindert nicht, dass auch der Straßenverkehr weiter wächst. Die Schweiz konnte sich nie dafür entscheiden, der Bahn wirklich den Vortritt zu gewähren. Sie hat für deutlich mehr Geld immer auch die Konkurrenz ausgebaut. Das Autobahnnetz gehört zu den weltweit dichtesten und die Benzinpreise sind die günstigsten in Europa. Die Schweiz ist also keine Bahnrepublik. Ihre Straßenlobby ist weitaus stärker als die Bahnlobby. Aber diesbezüglich befindet sich das Alpenland ja in guter Gesellschaft.

Nun hat es damit aber ein Problem. Die Regierung hat sich verpflichtet, den CO2-Ausstoß bis 2010 auf 90 Prozent des Niveaus von 1990 zu senken. Das wird sie wegen des ungebremst steigenden Treibstoffverbrauchs verpassen. Die Eidgenossenschaft hat eben nicht nur das sympathische Bahngesicht, das von der Tourismuswerbung kräftig geschminkt wird. Das Heidi-Land entwickelt sich zu einer einzigen großen Agglomeration. Es wird mit zahlreichen neuen Einfamilienhaussiedlungen überbaut, die ebenso aufs Auto ausgerichtet sind wie die boomenden Einkaufszentren auf der einst grünen Wiese oder die Ferienhausweiden in den Bergen.
Nachhaltig ist das eher nicht und meist ist es auch alles andere als schön. Ob die Klimaerwärmung daran etwas ändert? Die Bevölkerung nimmt sie mittlerweile als größtes Problem wahr. Die Bahn jedenfalls könnte mithelfen, es zu lösen. Dazu müsste sie allerdings noch einmal massiv ausgebaut werden, vielerorts ist die Kapazitätsgrenze erreicht. Doch die konservativ geprägte Regierung will bis 2030 nur spärlich Mittel zur Verfügung stellen. Wieder einmal regt sich gegen diesen Geiz Widerstand in den Kantonen. Sowie auch beim Verkehrsclub der Schweiz VCS: Er bereitet zurzeit eine Volksinitiative für einen beschleunigten Ausbau der Schiene vor.

Peter Krebs
Der Autor ist Chefredakteur von
Leonardo, der Mitgliederzeitschrift des Verkehrsclubs der Schweiz, VCS

   
 

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