Reise 5/2007

Alpenländer

Über alle Berge

Das Abenteuer „The SuperAlp!“ – Wie gehts mit dem öffentlichen Verkehr kreuz und quer durch die Alpen?

 

Fotos: Gerhard Fitzthum
Sanfte Mobilität erweist sich immer wieder als überaus hart. Hier: der SuperAlp-Tross zu Fuß über den Theodulpass (3200m) vom Aostatal nach Zermatt

Die Kulturtechnik des Wartens ist bei Mitteleuropäern hoffnungslos unterentwickelt: Fünfzehn Minuten an einer italienischen Bushaltestelle reichen bereits aus, um eine Journalistengruppe an den Rande des Nervenzusammenbruchs zu bringen. Fahren an diesem Wartehäuschen überhaupt noch Busse? Hat die Reiseleiterin die Fahrpläne richtig interpretiert? Ist der Busfahrer vielleicht einfach früher gefahren, weil hier, am Südportal des Montblanc-Tunnels, ohnehin seit Jahren kein Fahrgast mehr stand? Gänzlich unbegründet ist unsere Ungeduld aber auch wieder nicht. Denn wir sind keine Tagesausflügler sondern Teilnehmer einer ungewöhnlichen Pilotreise namens „The SuperAlp!“ – eines neuntägigen Experiments, dessen Erfolg von nichts so sehr abhängt wie von eingehaltenen Bus- und Bahnplänen.

Das Experiment fand im Juni dieses Jahres statt und bestand darin, den gesamten Alpenbogen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu durchqueren – mit Zügen und Bussen also oder mit Seilbahnen. Wo nichts davon zur Verfügung stand, musste zu Fuß gegangen oder geradelt werden. Das Abenteuer war weder Rekordversuch noch fixe Idee, sondern Teil eines ehrgeizigen EU-Programms. 2003 gestartet, sollte „Alpine Awareness“ die Alpenbevölkerung für Konzepte der „sanften Mobilität“ sensibilisieren. Im September 2006 hätte es auslaufen sollen, aber das Budget war noch nicht erschöpft. So bekam das Ökoinstitut Südtirol/Alto Adige noch den Auftrag, eine demonstrative Abschlussaktion zu veranstalten – die sogenannte „SuperAlp“. Das Ziel der 1250 Kilometer langen Alpentraverse: Zeitungs- und Fernsehjournalisten aus ganz Europa zu demonstrieren, wie interessant das Reisen mit nachhaltigen Fortbewegungsmitteln sein kann.

In St. Gervais können Bahnreisende auf die Schmalspurbahn nach Chamonix umsteigen.

 

Dass man das Prädikat „interessant“ auch ironisch verstehen kann, hatten wir gleich am ersten Tag zu spüren bekommen: Der am Montblanc-Tunnel erwartete Bus war tatsächlich nicht gekommen! Wie es scheint, hatten die beginnenden Schulferien den Fahrplan einfach außer Kraft gesetzt. Nach aufgeregten Handy-Telefonaten brachte uns ein Extrabus aus Courmayeur nach Pré-St.-Didier, wo die desolate Eisenbahnlinie des Aostatals beginnt. Leider zwei Minuten zu spät. Der Zug war weg, wieder eine Stunde warten! Keine kleine Herausforderung für die Gruppendynamik! Marcella Morandini, Geschäftsführein des Ökoinstituts und SuperAlp-Organisatorin, versuchte die Wogen zu glätten. Trotzdem setzte sich eine kleine Gruppe ins 500 Meter entfernte Ortszentrum ab: Erstmal den Ärger verrauchen lassen und einen Cappuccino trinken! Nach langem Suchen fanden wir tatsächlich ein geöffnetes Café – mit einer Terrasse hoch über der Straße und Blick auf den im Gegenlicht glänzenden Montblanc. Das Café hieß Universum. Ein wunderbarer Ort. Der Tag schien gerettet.

Leider mussten wir kurz darauf ins Universum der sanften Mobilität zurück. Die Züge der einspurigen und nichtelektrifizierten Linie waren zwar einigermaßen pünktlich, aber am abgehalfterten Bahnhof Chatillon durften wir wieder fast eine Stunde auf den Anschlussbus warten. Gewitterregen vereitelte diesmal jeden Fluchtversuch. Erschöpft erreichten wir schließlich Bruison im Valtournanche. Gesamtreisezeit an diesem Nachmittag: sechs Stunden – für gerade mal 70 Kilometer.

Die neue Vinschgerbahn: Glücksfall für die Region und Modell für die sanfte Revolution, von der Südtirol inzwischen ergriffen ist.

Es kann nur besser werden

Am zweiten Reisetag stand eine Seilbahntraversierung des Alpenhauptkamms auf dem Programm. Die Anlagen von Breuil-Cervinia standen jedoch still. Marcella organisierte zwei Jeeps, die uns ersatzweise zur gottverlassenen Bergstation Plein Maison hinauffuhren. Einer brach auf halbem Weg zusammen, der andere musste zweimal fahren, die erste Gruppe hatte wieder einmal warten.

Es konnte nur besser werden und es wurde auch besser: Beim Anstieg zum 3300 Meter hohen Theodulpass durften wir uns nämlich auf die eigenen Beine verlassen. Die körperliche Beanspruchung hatte therapeutische Wirkung – die Sinnkrise des Vortags war schnell vergessen. Drüben, auf der Walliser Seite, war der Spuk dann vollends vorüber. An der Bergstation „Trockener Steg“ stiegen wir in die Gondelbahn und waren 15 Minuten später im Tal – im autofreien Zermatt. Spätestens am großstädtisch wirkenden Bahnhof war klar, dass wir in puncto Nahverkehr das Sternensystem gewechselt hatten: Endlich Schweiz – die Heimat der Meterspur und der gelben Postautos, das Schlaraffenland sanfter Mobilität.

Auch am nächsten Tag nachhaltige Mobilität aus dem Lehrbuch: Elegant, pünktlich und komfortabel schlängelten sich die rotweißen Waggons des Glacier Express durch eine faszinierende Hochgebirgslandschaft. Zwischendurch wurde im „Gourmino“-Waggon ein leckeres Dreigang-Menü serviert. Hinterher gab es sogar noch einen Grappa – spendiert von Marcella, unserer leidgeprüften Reiseleiterin, die zum ersten Mal ganz entspannt dreinschaute. Selbst Andreas, der gestern Abend mit der vorzeitigen Abreise gedroht hatte, war wieder versöhnt. Draußen, vor den Panorama-Fenstern, standen glückliche Kühe auf grünen Wiesenteppichen. Ein armer Tropf, wer hier sein Auto durch die engen Kurven manövrieren musste!

Modellort Werfenweng: Es gibt nicht nur Spaßfahrzeuge mit Elektromotor, sondern auch traditionelle Formen der sanften Mobilität.

Der Glacier Express ist nicht nur Inbegriff für genussvolles Reisen. Im Vergleich zum Auto ist er auf dem Weg von den Westalpen in die Ostalpen auch konkurrenzfähig schnell. Gerade einmal vier Stunden braucht er vom Oberwalliser Brig in die Bündner Metropole Chur. Ziel der „SuperAlp“ war es aber natürlich nicht, möglichst schnell von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Vielmehr sollten die wichtigsten „Alpine Pearls“ eingebunden werden. Das sind Tourismusgemeinden aus fünf Alpennationen, die sich zu Modellorten der „sanften Mobilität“ entwickelt haben. Sie organisieren dem Gast nicht nur die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern geben ihm vor Ort auch eine Mobilitätsgarantie – durch ausgefeilte Nahverkehrssysteme, Gratistickets bei den Bergbahnen und den Verleih von Rädern und Elektrofahrzeugen.

So ließen wir den „langsamsten Schnellzug der Welt“ ohne uns nach St. Moritz weiter fahren und machten einen Abstecher nach Arosa, der prominentesten der einundzwanzig Alpine-Pearls-Gemeinden. Die dreißig Kilometer lange Zufahrtsstraße ist so schmal und windungsreich, dass man nicht einmal Busse hinauflässt. Kein Wunder also, dass fünfzig Prozent der Gäste mit der Rhätischen Bahn an dieses Ende der Welt reisen. Das macht es Tourismuschef Hans-Kaspar Schwarzenbach leicht, den Aufenthalt in Arosa zum Inbegriff eines umweltbewussten Reiseverhaltens zu stilisieren. Passend dazu kann man hier seit letztem Winter „klimaneutrale Ferien“ buchen. Die Gemeinde gleicht dann die CO2-Emissionen aus, die bei Anreise und Aufenthalt entstehen. Eine Tourismusorganisation mit einem jährlichen Etat von sechs Millionen Franken bezahlt derartige Nebenkosten aus der Portokasse. Und sie tut das gern: Die Klima-Pauschale gilt als größter Marketing-Hit seit der Erfindung des Humor-Festivals.

Wie vertraut Schwarzenbach mit dem Öko-Thema ist, bekamen wir beim abendlichen Empfang zu spüren. Kritische Nachfragen und Einwände prallten am schneidigen Tourismusmanager ab, als hieße sein Arbeitgeber „Greenpeace“. Trotzdem blieben einige Kollegen skeptisch: Wie glaubwürdig ist das Klimaschutzanliegen, wenn zugleich der asiatische Markt beworben wird, Fernflüge also bewusst gefördert werden? Bietet man den Japanern und Indern eigentlich auch die Klimapauschale an? Wohl kaum, denn dann müsste Arosa Farbe bekennen und tiefer als bisher in die Tasche greifen. Die Diskussion gehörte dennoch zu den spannendsten Momenten des „Super-Alp“-Beiprogramms. Auch den kritischen Geistern war klar geworden, welche ungeheure Dynamik das Klimathema im alpinen Tourismus entfalten kann.

Ciao, bella Italia

Die nächste Etappe führte nach Italien zurück – auf der Vereina-Linie der Rhätischen Bahn. Der neunzehn Kilometer lange Tunnel hat die schmucken Dörfer des abgelegenen Inntals näher an die Zentren des Landes rücken lassen und damit touristisch aufgewertet. Selbst nach Südtirol gibt es einen Stundentakt – allerdings mit dem Postauto, das von Zernez über den Ofenpass in den oberen Vinschgau fährt.
Nach zwei Stunden Serpentinenstrecke durch den Schweizer Nationalpark war das Bedürfnis nach Busfahren erst einmal gedeckt. Zum Glück standen eine ausgiebige Mittagspause und eine belebende Radtour auf dem Programm – rund dreißig Kilometer von Mals nach Schlanders in Südtirol, fernab der Straße an der noch jungen Etsch entlang.

Räder kann man hier an fast allen Bahnhöfen ausleihen und auch wieder zurückgeben. Das Verleihsystem ist das Nebenprodukt einer kleinen verkehrspolitischen Sensation: Vor zwei Jahren wurde die 1989 stillgelegte Vinschgerbahn von Mals nach Meran wieder in Betrieb genommen. Zum Einsatz kommen modernste Triebwagen mit Dieselelektrik, die die daneben herfahrenden Autos mühelos abhängen. Auch die Zahl der Haltestellen wurde vergrößert, wobei man in einigen der denkmalgeschützten K.u.K.-Bahnhöfen gemütliche Cafés einrichtete. Nicht einmal die Optimisten hatten mit einem derart durchschlagenden Erfolg gerechnet: Im ersten Jahr zählte die 60 Kilometer lange Linie bereits zwei Millionen Passagiere – das sind mehr als in den Zügen über den Brenner sitzen. Hans Glauber, der die „SuperAlp“ an diesem Tag begleitete, sprach vom einem „Paradigmenwechsel in der Mobilitätskultur“, der längst nicht mehr an der Landesgrenze Halt mache. Das von ihm geleitete Ökoinstitut Südtirol/Alto Adige hat jetzt sogar den Auftrag erhalten, für die Provinz Bologna das Corporate Design und das Informationssystem für ein neues S-Bahnsystem mit acht Linien und neunzig Bahnhöfen zu entwickeln. Selbst für die schon 1971 stillgelegte Bahnlinie von Bozen ins Überetsch wurde nun eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Noch vor fünf Jahren hätten einen die Bürgermeister von Kaltern und Eppan ausgelacht, wenn man ihnen einen derartigen Vorschlag unterbreitet hätte. „Der Erfolg der Vinschgerbahn hat das Bewusstsein der Bevölkerung nachhaltig verändert“, sagte das Urgestein der Südtiroler Umweltbewegung ohne übertriebenen Stolz. „Leider steckt der Landeshauptmann gleichzeitig Unsummen in den Straßenbau.“ Angesichts der jüngsten Klimaberichte sei dies völlig unverantwortlich.

Heillose Beschleunigung

Mit der Klimabilanz der „SuperAlp“ konnten wir hingegen zufrieden sein: Glaubers Hochrechnung zufolge sparte die fünfzehnköpfige Reisegruppe im Vergleich zur Fortbewegung im eigenen Auto 2,3 Tonnen C02 ein – zwei Drittel der sonst üblichen Treibhausgasemissionen. Dass die sanftmobile Mammuttour Nachahmer finden wird, glaubt er dennoch nicht. Sie ist zwar prinzipiell wiederholbar, weil nur reguläre Verbindungen genutzt wurden. Jeden Tag fünf bis sechs Stunden in Bussen oder Bahnen zuzubringen, dürfte jedoch kaum jemanden verlocken. Die „SuperAlp“ hatte aber ohnehin nicht den Anspruch, ein marktfähiges Reise-Angebot zu präsentieren. Sie sollte lediglich zeigen, dass das Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel auch bei größeren Distanzen möglich und zudem ökologisch sinnvoll ist. Wer das eigene Auto stehen lässt und mit dem öffentlichen Verkehr in oder durch die Alpen reist, kann sich sicher sein, einen effektiven Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.

Die nächsten Tagesziele waren die beiden Perlengemeinden Werfenweng und Bad Reichenhall. Letztere hat schon in den neunziger Jahren alle Register der Verkehrsberuhigung gezogen. Gäste fahren im Stadtbusbereich gratis, fast die ganze Altstadt ist autofrei, die Ausflugsziele der Umgebung sind perfekt eingebunden. Zudem hat Bad Reichenhall mit der Nachbarperle Berchtesgaden den „Swiss-Flyer“ eingeführt – ein Hitech-Leihrad, bei dem sich bergauf ein geräuschloser Elektroantrieb zuschaltet.

Wenn es nach Peter Brandauer geht, wird das neuartige Wellness-Rad zum ersten gemeinsamen Markenzeichen der „Alpine Pearls“. Der Vereinspräsident ist zugleich Bürgermeister der Gemeinde Werfenweng, die längst als Dorado der sanften Mobilität bekannt und anerkannt ist. Seit Neuestem kann man dort auch eine Klimapauschale buchen, die die Kompensation aller bei der Reise entstandenen Treibhausgasemissionen garantiert.

Am Abend ließen wir die modernen Spaßfahrzeuge stehen und stiegen in die bereitgestellten Pferdekutschen. Tiefer und tiefer schaukelten wir nun in den Talkessel des Tennengebirges hinein, zuletzt sogar auf Schotterwegen. Einmal mehr hatte sich das Versprechen der „SuperAlp“ erfüllt, den Genuss der Langsamkeit erlebbar zu machen. Leider war uns dies nicht an allen Reisetagen vergönnt. Immer wieder hatten wir uns heillos beschleunigt gefühlt. Zwar waren uns die Vorzüge einer autofreien Mobilitätskette bewusst geworden. Wir hatten aber auch entdeckt, dass sie kein Selbstzweck ist, hatten also gemerkt, wie sehr die Freude an der Fortbewegung von ihrem Gegenteil lebt – dem entspannenden und besinnlichen Aufenthalt.

Gerhard Fitzthum

   
 

Informationen

Verkehrsmittel:
www.bahn.de, www.vinschgauerbahn.it,
Transport Verbundsystem der Autonomen Provinz Bozen: www.sii.bz.it, www.dolomitibus.it, www.glacierexpress.ch,
Rhätische Bahn: www.rhb.ch, www.compagniedumontblanc.fr, www.sbb.ch, www.trenitalia.it

Besuchte Orte:
www.lesgets.com, www.brig.ch, www.comune.chamois.ao.it,
Arosa: www.schneesicher.ch,
www.gemeinde.bozen.it,
www.valdega.com, www.steinegg.com, www.tiers.it, www.funes.info, www.funes.info, www.racines.info, www.werfenweng.org, www.berchtesgadener-land.com, www.fornidisopra.net, www.provincia.belluno.it,
www.alpine-pearls.com 

 

zurück zum Inhalt