Titel 6/2006

Fussverkehr

Freier Gang für freie Bürger

Noch vor hundert Jahren gehörten Straßen vorwiegend den Fußgängern. Dann übernahmen Autofahrer die Vorherrschaft. Das muss nicht so bleiben. Vor allem aber sollte es das nicht.

Foto: Valeska Zepp

Man lese und staune: „Fahrwege dürfen von jedermann zum Gehen, Reiten, Rad fahren, Fahren und zum Viehtreiben (…) benutzt werden.“ So stand es noch in der Wegeverordnung für die Provinz Westpreußen vom 27. September 1905. Das Fahren, immerhin auf Fahr(!)-Wegen, wurde erst an vierter Stelle erwähnt.

Keine dreißig Jahre später entmischten die Nationalsozialisten den Verkehr. Die Straßenverkehrsverordnung (StVO) von 1934 legte fest: „Ist eine Straße für einzelne Arten des Verkehrs erkennbar bestimmt (…), so ist dieser Verkehr auf den ihm zugewiesenen Straßenteil beschränkt, der übrige Verkehr hiervon ausgeschlossen.“ Unmissverständlich heißt es bis heute in der StVO: „Fußgänger müssen die Gehwege benutzen. Auf der Fahrbahn dürfen sie nur gehen, wenn die Straße weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen hat.“

Es spricht Bände, dass Eltern ihre Kinder ermahnen, „nicht auf die Straße“ zu laufen. 1905 hätte das bedeutet, nicht aus der Haustür zu treten. Heute hingegen ist der Gehweg im Denken vieler Menschen kein Teil der Straße mehr. Und Fußgänger erscheinen eher als hinderliche Straßenbegleit-Fauna denn als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer.

Dass sie im Denken mancher Planer nicht so recht zum Verkehr gehören, verrät schon die Sprache. So werden Fußgängerzonen als „verkehrsfrei“ oder „verkehrsberuhigt“ bezeichnet – kraft „erfolgreicher Begriffsaneignung durch die Auto-Lobby“, urteilt der Trierer Geographie-Professor Heiner Monheim. Dabei bewege sich dort nach der Sperrung für Autos „meist ein Vielfaches an Menschen gegenüber vorher“. Monheim zufolge werden zu Fuß „noch immer etwa 80 Prozent aller Weg-Etappen in einer Stadt“ zurückgelegt – eingerechnet auch die Teilstrecken vom Parkplatz ins Büro oder zur Apotheke. Trotzdem müssten sich Fußgänger mit den Brosamen begnügen, die vom Autofahrer-Tisch herabfallen. „Das Ende des Fußgängers als bedeutsame Kategorie in der Stadtplanung“ sei mit dem Ende der Gründerzeit (1871–1914) und dem Ausklang der Gartenstadt-Idee in den 1920er Jahren gekommen, resümiert der Verkehrsexperte. „Seither wird er mit dem letzten Dreck abgespeist.“

Vornehmer drückt es Andreas Schmitz aus. „Fußgänger dürfen in der Regel so viel Platz haben, wie ihnen die anderen Nutzungen noch lassen“, urteilt der Verkehrs- und Stadtplaner von der Planungsgruppe Nord (PGN) in Kassel. In letzter Zeit seien auch noch die Radwege „auf Kosten der Gehwege angelegt“ worden, berichtet der 49-jährige Leiter des Arbeitskreises Fußgängerverkehr bei der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV).

Kein Parkraum für Fußgäner

Straßenmöbel wie Laternen, Bäume, Abfallkörbe oder Radständer sowie Auslagen von Geschäften engen die Gehwege weiter ein. „Zwei Leute oder gar eine Familie können kaum mehr nebeneinander gehen oder stehen“, bemängelt auch Monheim. Die Regel sei „planerisch verordneter Gänsemarsch“. Zu wenig berücksichtigt werde auch der „ruhende Fußgängerverkehr“ – beispielsweise Menschen, die miteinander plauschen, Schaufenster gucken oder beim Schleppen ihrer Einkäufe verschnaufen müssen, und zwar möglichst, ohne eiligere Passanten zu behindern. Nach Ansicht des Trierer Geographen, der auch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des VCD ist, sind Fußgänger aus Sicht vieler Planer „immer unterwegs, während für Autos selbstverständlich Parkraum bereitgestellt wird“.

Foto: Valeska Zepp

Vielerorts sogar auf Fußwegen. „So extrem wie in Deutschland gibt es das Gehweg-Parken nirgends in Europa“, sagt Heiner Monheim. Dafür habe in den 50er und 60er Jahren der ADAC getrommelt. Breite Gehwege seien der Autofahrer-Lobby „unnötig erschienen“ – und die Städte sparten Gelder zum Parkplatzbau. Wie laut würde umgekehrt wohl gehupt, wichen Fußgänger zum Abhalten ihres Schwätzchens auf die Fahrbahn aus.

Der Kieler Rechtsanwalt Dietmar Kettler, ein Spezialist für Radfahrer- und Fußgängerrecht, hält es sogar für juristisch problematisch, das Parken auf Fußwegen durch entsprechende Verkehrsschilder (StVO-Zeichen 315) zu gestatten. Rechtlich gesehen sei dies eine offizielle Entwidmung des Fußgänger-Bereichs. Doch die dafür nötige Prozedur mit Einspruchsrechten für Betroffene „unterbleibt behördlicherseits einfach“, sagt der Jurist – und zwar obwohl der straßenrechtlich auf Gehwegen vorgesehene Fußverkehr nach Aufstellen der Verkehrsschilder „dauerhaft und endgültig verbannt“ sei. Solle hingegen eine Straße offiziell zur Fußgängerzone werden, seien aufwändige Entwidmungs-Verfahren nötig.

In Stadtvierteln der Gründerzeit war all das noch Schnee von übermorgen. Die Gehwege waren breit – wahre Flaniermeilen, auf denen das gesellschaftlich erstarkte Bürgertum mit Kleidern, Stöcken und Hüten erbaulich spazieren ging und sich stolz zeigte – Bürgersteige eben. Josef Brix, ein angesehener Berliner Städtebau-Professor, schlug 1905 vor, in Großstädten sollten Gehwege mit weniger als vier Metern Breite „im Interesse größerer Bequemlichkeit des Publikums“ nicht mehr angelegt werden.

Doch der Siegeszug des Automobils hat die Vorgaben für Planer verändert. In den „Richtlinien für Anlagen des Fußgängerverkehrs“, 1972 herausgegeben von der damaligen „Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen“, stand zu lesen: „Die Breite der Geh- und Fußwege richtet sich nach der zu erwartenden Zahl der Fußgänger. Gehwege sollen mindestens 1,5 Meter breit sein.“ So konnten zwei Menschen bei einem „Kopfmittenabstand“ von 75 Zentimetern einander rempelfrei passieren – zumindest ohne Regenschirm oder Einkaufstasche.

Gehwege in Geschäftsstraßen sollten zwar mindestens 4,5 Meter Breite aufweisen. Doch die Mindestbreite von 1,50 Meter für Gehwege sei „bei der konkreten Entwurfsarbeit vor Ort häufig zur Standardbreite geworden“, befindet Andreas Schmitz.

Rigides Regelwerk

In ihren 2002 veröffentlichten „Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen“ (EFA) hat die FGSV inzwischen eine Regelbreite von 2,50 Meter als Mindestmaß für Gehwege vorgeschlagen. Gegen die „harten Vorgaben des Kraftfahrzeugverkehrs und mittlerweile auch des Radverkehrs“ würden Fußgänger allerdings auch künftig „wohl eher an die Wand gedrückt“, vermutet Schmitz.

Foto: Valeska Zepp

Auf der sogenannten Straße sind sie jedenfalls fehl am Platz. Die StVO fordert klipp und klar: „Fußgänger haben Fahrbahnen unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung zu überschreiten, und zwar, wenn die Verkehrslage es erfordert, nur an Kreuzungen oder Einmündungen, an Lichtzeichenanlagen innerhalb von Markierungen oder auf Fußgängerüberwegen.“ Das Regelwerk will Autofahrern gar nicht erst zumuten, wegen beliebig querender Fußgänger bremsen zu müssen.

Betrüblich ist jedoch nicht nur das geringe Platzangebot für Gehende. Hinzu kommen die Umwege, die Stadt- und Verkehrsplaner ihnen abverlangen. Bisweilen bricht sich der Mangel buchstäblich Bahn – in Form von Trampelpfaden in begrünten Mittel- und Randstreifen. Deren Botschaft ist immer dieselbe: Hier möchten Menschen gehen, sollen es aber nicht.

Wer hingegen durch Altstädte oder gar Fachwerk-Schätze wie Quedlinburg oder Rothenburg ob der Tauber schlendert, findet überall Schleichwege: schmale Gassen, Haus-Durchlässe, enge Stiegen in höher liegende Stadtteile. Bis heute ist hier niemand gezwungen, mit schweren Einkaufstaschen oder altersschwach 200 Meter lange Umwege zu bewältigen, wenn doch das Ziel nur 50 Meter entfernt liegt.

Wie Physiker der Universität Stuttgart ermittelt haben wollen, weichen Fußgänger erst dann von vorgegebenen Pfaden ab, wenn der aufgenötigte Umweg um mehr als ein Viertel von der kürzestmöglichen Strecke abweicht. Verlangen Planer einem Fußgänger ohne ersichtlichen Grund mehr Wegstrecke ab, dürfen sie mit Folgsamkeit nicht rechnen. Statt jedoch Trittmuster – zum Beispiel winters im Neuschnee – oder hartnäckig genutzte Trampelpfade als hilfreiche Hinweise auf Fußgänger-Wünsche zu nutzen, werden immer noch Barrieren errichtet, um vermeintliche Fehlgänger zur Räson zu bringen. An vielen Straßenkreuzungen sollen Absperrketten – wahre Stolperfallen bei Dunkelheit – den rechten Umweg weisen.

Gehen als Lebensstil

Doch wie könnte eine Verkehrswende gelingen? Andreas Schmitz wünscht sich eine neue Kultur des Zufußgehens. „Fußgänger müssten Selbstbewusstsein entwickeln“, sagt der Kasseler Planer. Ähnlich wie die Entscheidung fürs Radfahren müsse das Gehen zur „Lebensstilfrage“ werden. In den 1920er Jahren habe es eine ganze Literaturgattung zum lustvollen Flanieren durch Städte gegeben. „So etwas fehlt heute“, bedauert Schmitz.

Foto: Valeska Zepp

Der Fachverband FUSS e.V. fordert, Ampelschaltungen auf die Bedürfnisse der Fußgänger auszurichten. Auch will er Autofahrern „mindestens ebenso lange Wege zu ihrem Verkehrsmittel“ zumuten wie Nutzern öffentlicher Verkehrsmittel von und zur Haltestelle. Zudem müsse die „Gehwegmöblierung“ durch Verkehrseinrichtungen für Autos „rückgängig gemacht“ werden. „Nach dem Verursacherprinzip gehören Parkuhren, Poller, Ampeln und Verkehrszeichen auf die Fahrbahnfläche“, befindet der Fußgängerschutzverein. Schließlich stehen Ruhebänke auch nicht auf Fahrwegen.

Beherzte Vorschläge hat Heiner Monheim auf Lager. Erstens würde er Städte – mit Ausnahme größerer Durchgangsrouten – komplett zu Tempo-30-Zonen machen. „Die Fußgänger dürften dort generell die Fahrbahnen benutzen“, schwebt Monheim vor. Das würde nichts kosten; viele Tempo-Schilder würden sogar überflüssig. Zweitens „dürfte auf Gehwegen nicht mehr geparkt werden“ – auch nicht mit zwei Rädern. Dann wäre dort endlich Platz, auch für radelnde Kinder. Ihnen schreibt die StVO bis zum Alter von acht Jahren vor, die Gehwege zu benutzen – wobei sie „besondere Rücksicht“ auf Fußgänger nehmen sollen. Auch das ginge auf freigeräumten Gehsteigen leichter.

Solche Vorschläge seien „überhaupt nicht utopisch“, urteilt der Rechtsanwalt Dietmar Kettler. Sie klängen nur ungewohnt. Entsprechende Ansätze gibt es längst. Lobenswert zum Beispiel findet Kettler die in der Schweiz seit 2002 erlaubte „Begegnungszone“ in Wohn- und Geschäftsbereichen. Fußgänger dürfen hier die ganze Verkehrsfläche nutzen und sind gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern vortrittberechtigt. Allerdings dürfen sie Fahrzeuge (Maximaltempo 20 km/h) nicht unnötig behindern. „Der Mischverkehr funktioniert hier wunderbar“, urteilt Kettler.

Über eine besonders gewagte Begegnungszone verfügt seit Oktober 2005 St. Gallen: Ein kleiner Innenstadt-Bereich namens Bleicheli wurde nach Künstler-Plänen zur wohnzimmerartigen „Stadt-Lounge“ – mit einem roten „Teppichboden“ aus Kunststoffgranulat und kuriosen Sitz-Elementen. Für Fahrzeuge gilt Einbahnverkehr.

Ähnlich radikal ist auch Hans Mondermanns Konzept „Shared Space“. Der niederländische Verkehrsicherheits-Experte hat zum Beispiel im nordholländischen Drachten Verkehrsschilder, Ampeln und Fahrbahnmarkierungen beseitigt, denn kein Verkehrsteilnehmer soll sich gegenüber anderen im Recht fühlen – ein Lieblingssport gerade der Deutschen. Zunächst verwirrt, suchen alle Augenkontakt miteinander und stimmen sich ab. Man müsse „den Verkehr gefährlicher machen, dass er sicherer wird“, befindet Mondermann. Inzwischen fördert die EU das Konzept in sieben Städten; in Deutschland beteiligt sich die Gemeinde Bohmte in Niedersachsen daran (fairkehr 2/2006).

Schneller zu Fuß

Wie man nach den Bedürfnissen von Fußgängern und Radfahrern planen kann, zeigt die 1979 neu entworfene niederländische Kleinstadt Houten bei Utrecht. Planer haben die kreisförmige Stadt in Sektoren aufgeteilt, die untereinander nur für Fußgänger und Radler durchlässig sind. Autos müssen den jeweiligen Sektor nach außen verlassen und erreichen einen anderen nur über die umlaufende Ringstraße – die Fahrt endet quasi immer in der Sackgasse. „Für Autos ist Houten die Stadt der Umwege“, sagt Monheim verschmitzt. Anfängliche Bedenken, die zusätzlich nötigen Auto-Kilometer würden mehr Benzin kosten und Abgase produzieren, sind unbegründet. „Es wird viel weniger Auto gefahren, weil man mit dem Rad oder zu Fuß schneller ist“, berichtet der Verkehrsexperte. Auch Unfälle sind deutlich seltener geworden.

Um in bestehenden Städten Stolpersteine und Hemmnisse für Fußgänger aufzuspüren, können sich „Mängel-Touren“ eignen, wie sie der „Arbeitskreis Fußverkehr Kiel“ dort erstmals im September veranstaltet hat. Am Rundgang teilgenommen haben zum Beispiel Vertreter des städtischen Ordnungs- und Tiefbauamtes, des Behindertenbeirats sowie der Polizei. Arbeitskreis-Mitglied Susanne Heise wünscht sich in gewisser Weise eine verkehrte Welt, wenn sie sich für eine Verkehrsraumplanung „von außen nach innen“ ausspricht, also von den Häuserwänden zur Straßenmitte. Vorrang hätten die Bedürfnisse von Fußgängern und Radfahrern – „was dann noch übrig bleibt, bekommen die Autofahrer“, fordert Heise. Schließlich sei das Zufußgehen die „bescheidenste, gesündeste und stadtverträglichste Fortbewegungsart“.

Internet-Infos zu Begegnungszonen nach Schweizer Modell:
www.vcs-sgap.ch/dossiers/
Begegnungszonen/begegnungszonen.html

www.stadtlounge.ch

 

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