Titel 6/2006

Als Fussgängerin unterwegs

Demokratisches Erlebniskino

Fußgänger aus Leidenschaft – einige wenige gibt es noch. Ihr quasi exzentrischer Fortbewegungsstil birgt Gefahren, aber das ist es ihnen wert. Klar gehen viele andere Menschen auch zu Fuß: zum Auto, zur Straßenbahn, zum Zigarettenholen. Da hört es aber meistens auf. Eine überzeugte Fußgängerin berichtet über ihren Alltag.

Fotos: Marcus Gloger
Zum Warten verdammt: Auch für Fußgängerinnen gibt es in Bonn kein Weiterkommen bei geschlossener Bahnschranke.

Er hat Seltenheitswert, der Fußgänger. Vereinzelt findet man ihn noch im deutschen Volkslied vor, mit Stock und Hut und mit der Welt als Gehweg. Ohne 100-Meter-Fußweggrenze. Frei nach Hänschen Klein lege ich die meisten Wege ganz anachronistisch zu Fuß zurück. Als ungeschützte Verkehrsteilnehmerin bin ich ein gläubiger Mensch. Ich glaube an mein eigenes Reaktionsvermögen und an die Unvorhersehbarkeit des Verkehrschaos.

Bonn, Südstadt, 18:00 Uhr. Ich gucke in die einladenden Erker von Altbauvillen hinein und kann Menschen in maßangefertigten Küchen beim Kochen oder Streiten zuschauen. Abends sind dann die prachtvollen Kronleuchter erleuchtet und vielleicht spielt irgendwo ein osteuropäisches Au-pair-Mädchen virtuos Klavier. Ich atme importierte mediterrane Kochbuchgerichte ein und bringe auch mal einen verletzten Mauersegler, der sich an eine Hauswand kauert, ins Tierheim. Der Gehweg lädt zwar nicht zum Verweilen ein, aber er ist demokratisches Erlebniskino, unser Bürgersteig.

19:00 Uhr. Der Schritt ist gleichmäßig, der Puls tanzt im Takt. Anders als ein flanierender Kurbesucher möchte ich vorwärtskommen, wenn ich zu Fuß gehe. Umso zackiger der Schritt, desto längere Strecken kann ich gehen.

19:05 Uhr. Die Ampel steht auf Rot. Der gemeine Fußgänger hat viele unnatürliche Feinde. Nun könnte ich sinnieren, was ich mir zum Abendessen koche, ob das Ostampelmännchen oder das Westampelmännchen das putzigere ist. Aber es regnet, und in den Autos, die an mir vorbeifahren, sitzen leger angezogene Menschen, die Radiolieder mitsingen, telefonieren oder rauchen. Meine Zehen sind nass und mein Schirm riecht nach Bahnhofsecke.

19:10 Uhr. Die Ampel springt nach gefühlten zehn Minuten auf Grün. Es wird heute Abend Spaghetti mit Tomatensauce geben. Das ist zwar nicht besonders originell, aber immerhin bin ich gleich zu Hause und sitze nicht im kilometerlangen Stau auf der Bonner Reuterstraße. Ja, zugegeben, da ist Schadenfreude im Spiel.

Nächster Morgen. Bahnübergang Lessingstraße, 8:45 Uhr. Die Schranke steht zwischen mir und meinem Arbeitsplatz. Der Gehweg vor den stets horizontalen Zuckerstangen wird schnell zum Sammelbecken für uns Fußgänger. Hier bin ich noch Mensch, treffe meinesgleichen und wir haben Zeit, Zeit und nochmals Zeit, um Fußgänger-Anekdoten auszutauschen. Eine Mopedfahrerin wird ermahnt, ihre Maschine endlich auszuschalten. „Ich kriege es nicht mehr an, wenn es einmal aus ist“, erwidert sie unter ihrem Helm. Eine Frau reibt sich am Bordstein den Hundemist vom Schuh und andere um sie herum balancieren kurz, um verstohlene Blicke auf die eigenen Sohlen zu werfen. Der dritte Güterzug rollt eigenartig langsam, bis klar wird, dass er mitten auf dem Bahnübergang zum Stehen kommt. Es gibt keine Unterführung. Gegenüber ist der Stand einer Landtagsabgeordneten, die Unterschriften gegen den zunehmenden Güterzugverkehr durch Bonn sammelt. Aber ich habe keine Zeit, Politik zu machen, denn anders als ein Flaneur habe ich noch zwei Minuten, bis ich auf der Arbeit erscheinen muss!

8:58 Uhr. Der Ruflaut des Zebrastreifens ist der scharfe Bremston. Die Wildnis lebt und man muss sich ihr anpassen, um zu überleben. Schon hebt die Autofahrerin die Hand zur Entschuldigung, während ich noch eine Augenbraue hochziehe. Kommunikation im Straßenverkehr trainiert die Gesichtszüge.

In meinem Bekanntenkreis bin ich die einzige hauptamtliche Fußgängerin. Viele meiner Kolleginnen sind Fahrradfahrer und warten morgens mit glühend roten Apfelbäckchen auf. Ein paar meiner Freunde sind auch Autofahrer. Die sind nett und fahren mich nachts um eins schon mal nach Hause, wenn ich es sehr weit habe. Schließlich ist die Fußgängerin um diese Zeit noch gefährdeter als bei Tag. Wenn ich spät unterwegs bin, pfeife ich zur Ermunterung gerne alte Gassenhauer zwischen den Laternenpfählen. In der nächtlichen Dunkelheit erkenne ich schnell den Ausweich-Fußgänger, der zu dieser Zeit vermehrt unterwegs ist. Der Ausweich-Fußgänger hat sein Auto aufgrund von Alkoholkonsum stehen lassen, seine letzte Bahn verpasst oder schiebt sein Rad, um sich besser unterhalten zu können. Der Ausweich-Fußgänger hat eine vollkommen andere Gangart. Er ist vor allen Dingen zu langsam. Ich kreuze auf meinem Weg auch die mutierten Fußgänger. Die Sechzigjährige mit Stöcken beim Nordic Walking und den 30-jährigen Jogger, der nirgendwo hinwill und auf der Stelle am Straßenrand weiterjoggt, wenn die Ampel rot ist.

16:30 Uhr. Es ist einsam auf den Gehwegen, und es fürchtet mich um die Zukunft des Fußgängertums. Die dünne Luft am Gipfel der deutschen Alterspyramide schlägt sich auch hier nieder. Wo sind all die jungen Fußgängerinnen und Fußgänger? Der Nachwuchs wird mir auf dem Gehweg meistens in Wagen mit hoher Tragekapazität entgegengeschoben – bis hoch ins propere Alter von drei Jahren. Etwas älter rollen die Kinder mir dann auf Laufrädern entgegen und im Nu sind sie aufs Fahrrad umgestiegen. Mädchen zwischen neun und zwölf Jahren aus Akademikerhaushalten haben eindeutig eine Vorliebe für das Einrad.

Eine ganz andere Stadtkarte

Nein, ich bin nicht durch die Fahrprüfung gefallen. Ich bin aus freien Stücken Fußgängerin geworden. Als ich mit neunzehn Jahren zum ersten Mal genug Geld zusammenhatte, um einen Führerschein bezahlen zu können, bin ich stattdessen für zwei Wochen nach Amerika geflogen. Unter den kritischen Blicken der Amerikaner ging ich die geraden Straßen rauf und runter und sprengte die amerikanische 20-Meter-Fußweggrenze mit Leichtigkeit.

 
  Fotos: Marcus Gloger
  Aus freien Stücken zu Fuß unterwegs: fairkehr-Autorin Dounia Choukri

Bonner Innenstadt, 22:00 Uhr. Fußgängerin zu sein heißt frei zu sein. Andere mögen dieses Gefühl mit einem 20 Meter langen Wohnmobil erlangen, ich dagegen empfinde schon ein Fahrrad als Klotz am Bein. Es will untergestellt, abgeschlossen, aufgepumpt, aufgeschlossen und auch wieder abgeholt werden. Es ist schön, sein Fortbewegungsmittel immer bei sich zu haben. Ich treffe Freunde und muss nicht erst noch zum Bahnhof, um meine dort angeketteten Füße abzuholen. Sicherlich brauche ich mehr Zeit als andere, um an mein Ziel zu kommen. In der Dreiviertelstunde, die ich von einem Stadteil zum anderen brauche, wenn der Rhein dazwischen liegt, fahren Radfahrer die Strecke problemlos hin und zurück. Autofahrer können in der Zwischenzeit wohl noch gemütlich in einem Kaffeehaus einkehren und ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte vertilgen. Entfernungen in Fußgängen gemessen geben eine ganz andere Stadtkarte ab. Nur weil die Straßenbahn von einem Bonner Vorort in fünf Minuten bis ins Stadtzentrum gedüst ist, empfinde ich diesen nicht als nah. Zu Fuß würde ich für die gleiche Strecke ewig brauchen. Da würde ich nie hinziehen.

Ich fahre natürlich mit der Straßenbahn, wenn ich große Einkäufe erledigen muss, wenn ich mich nicht gut fühle oder es in Strömen regnet. In der Regel aber setze ich einen Fuß vor den anderen und atme tief ein. Luft, die nicht erst durch verschiedene Klimaanlagen geblasen wurde, ist auch ein Stück Freiheit.

Unsere Luft könnte während der Stoßzeiten zwar etwas besser sein, aber in Tagen des nationalen Waschunmuts und der Überheizung sind Abgase oft erträglicher als die stickige Luft in der Straßenbahn. Im Frühling blühen dann auch wieder die Alleebäume der Südstadt. Das ist mehr als Entschädigung – das ist beflügelnd!

Dounia Choukri

 

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