Politik 6/2006

Verkehrssicherheit

Mahnmal für Kinder

Ein Stadtteilbündnis in Berlin kämpft für mehr Sicherheit im Straßenverkehr.

Foto: Gerhard Fitzthum

Es gibt Berliner, die bekommen ein Hochgefühl, wenn sie, aus der Provinz zurückkehrend, den Kaiserdamm hinunterfahren. Endlich die untrüglichen Zeichen einer Weltstadt! Der schnurgerade, achtspurige Highway, an dessen fernem Ende die Siegessäule in den Himmel ragt! Die meisten anderen sehen Hitlers „Via Triumphalis“ weniger pathetisch. Für sie ist die fünfzig Meter breite Schneise durch Charlottenburg bloß der schnellste Weg, um dorthin zu kommen, wo die 3,5-Millionen-Metropole am behaglichsten ist – in den Altstadtvierteln mit Kopfsteinpflaster, breiten Trottoirs und altem Baumbestand.

Eine dritte Gruppe befährt die innerstädtische Bundesstraße mit Wut im Bauch. Es sind eine handvoll Einzelaktivisten und Mitglieder des Kiezbündnisses Klausener Platz, die hier seit zwei Jahren für mehr Verkehrssicherheit kämpfen. Gegen die Realität von täglichen 60000 Autos kommen sie nicht an, kleinere Erfolge konnten sie aber doch verbuchen, darunter den Bau des deutschlandweit ersten Mahnmals für verletzte Kinder im Straßenverkehr. Mit Spenden finanziert, steht es an einer der frequentiertesten Kreuzungen der West-Ost-Achse – dort, wo sie bereits Bismarckstraße heißt, und genau dort, wo Dersu Scheffler im März 2004 sein Leben verlor.

Seiner Mutter folgend radelte der Neunjährige damals über die Fußgänger- und Radfahrerampel der einmündenden Kaiser-Friedrich-Straße. Ein in die gleiche Richtung brausender Lkw-Fahrer hatte aber ebenfalls Grün, bog ab, übersah dabei das Kind und überrollte es. Dersus Tod war kein tragischer Einzelfall. Am gleichen Tag starb in Berlin ein weiterer Radfahrer durch einen rechtsabbiegenden Lkw. Allein in Deutschland, so schätzt der ADFC, fordert dieser Unfalltypus jedes Jahr rund einhundertfünfzig 0pfer. Und das aus einem schrecklich banalen Grund: Kaum ein Laster hat hierzulande den zusätzlichen Weitwinkelspiegel, der in Holland und Belgien seit 2003 vorgeschrieben ist. Rund ein Drittel dessen, was sich rechts neben dem Fahrzeug abspielt, bleibt deshalb im sogenannten Toten Winkel.

Zusatzspiegel können helfen

Inmitten der besagten Kreuzung steht sie nun, die makabre neue „Sehenswürdigkeit“ der Hauptstadt, das „Denk mal für Kinder im Straßenverkehr“. Blickfang ist die drei Meter hohe Stele, die die Bildhauerin Rachel Kohn aus rotem Ton gebrannt hat. Sie verdickt sich an der Spitze zu einer Art Haus ohne Tür. Die Treppe, die nach oben führt, endet auf halber Höhe – Sinnbild nichteingelöster Geborgenheit, Metapher für das Versagen der Vorsorge. Direkt vor der Stele ruht – einer Grabplatte ähnlich – der zweite Teil des Mahnmals: eine Keramiktafel, die der Kiezkünstler Michael Stürenberg nach einer Zeichnung des getöteten Jungen angefertigt hat.

Wer hier innehält, macht mit einem jener Un-Orte Bekanntschaft, die bei der Wahrnehmung einer Großstadt ansonsten zuverlässig ausgeblendet werden. Rechts und links rasen Autos vorbei, im Zeitdruck des Ampeltakts schießen sie von allen Seiten heran. Da irgendeine Richtung immer Grün hat, ändert der Gefahr signalisierende Motorenlärm ständig seinen Ort. Er unterminiert das Gedenken, unterbindet jedes Gespräch, weckt im Grunde nur genau einen Wunsch – den, so schnell wie möglich hier wegzuwollen. Weil das Auge nirgendwo Ruhe findet, bleibt auch die den Platz umgebende Architektur seltsam unwirklich. Gründerzeitliche Schwerkraft mischt sich hier mit der Tristesse abgasgeschwärzter Kunststofffassaden. Die Eckhäuser präsentieren die zur Atmosphäre passende Geschäftswelt – einen Erotik-Shop, einen Video-Supermarkt, einen Matratzen-Outlet und einen Schlüsseldienst.

Ein Schlüssel zum Schutz der nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer wäre es, den Spediteuren den Zusatzspiegel gesetzlich vorzuschreiben. Auf EU-Ebene gilt eine entsprechende Verordnung ab Januar 2007 – jedoch nur für Neufahrzeuge über 3,5 Tonnen. Für die vier Millionen bereits zugelassener Lkw bleibt erstmal auf Jahre hinaus alles beim Alten. Zudem begnügt sich die EU mit einer flauen Minimallösung, die den Toten Winkel lediglich halbiert. Dem Weltmarktführer für Spiegel aus Deutschland öffnen sich nun zwar bequem zu bedienende Absatzmärkte, übersehen bleibt aber das eindeutig wirkungsvollere Produkt – der in Holland und Belgien seit Jahren bewährte und EU-geprüfte Dobli-Spiegel. Er erhöht das Sichtfeld auf immerhin 96 Prozent und kostet gerade mal sechzig bis achtzig Euro mehr.

Das Kiezbündnis tat deshalb nicht ganz unrecht, die Einweihung des Mahnmals auf den 11. September zu legen – auf den Tag, an dem die Weltöffentlichkeit auf eine Katastrophe der modernen Zeit starrte und eine andere vergaß – genau wie an den restlichen 364 Tagen des Jahres.

Gerhard Fitzthum

Das VCD-Konzept für mehr Verkehrssicherheit heißt »Vision Zero – Null Verkehrstote« www.vcd.org/visionzero.html

 

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