Titel 5/2006

Maut-flucht

Ohr an der Ausweichstrecke

Scheeßel ist eine kleine niedersächsische Gemeinde, 60 Kilometer südwestlich von Hamburg. Klein, aber keinesfalls beschaulich. Durchschnittlich 45 Lastwagen schlängeln sich tagsüber pro Stunde durch den Ort. Scheeßel liegt an der B75, einer Maut-Ausweichstrecke.

 
  Foto: www.marcusgloger.com
  Noch stehen die Container am Umschlagbahnhof Köln Eifeltor. Bald werden sie auf Lkw verladen und quer durch Deutschland transportiert, über Autobahnen und Bundesstraßen.

Es ist ein sonniger Septembermorgen in Scheeßel. Und es ist ruhig heute. Außergewöhnlich ruhig. Nur alle fünf bis zehn Minuten dröhnen ein oder zwei Lastwagen durch das Zentrum der niedersächsischen 7000-Seelen-Gemeinde. „Für uns sind das paradiesische Zustände“, sagt Käthe Rohde. „Unter der Woche können wir nicht in unserem Garten sitzen. Gerade diese Woche war der Lärm von der Straße mal wieder ohrenbetäubend!“ Doch heute ist Samstag, und das Rentner-Ehepaar Rohde genießt auf weißen Plastikstühlen den warmen Spätsommermorgen und die relative Stille in ihrem Garten, direkt an der B75 im Landkreis Rotenburg/Wümme.

Viele Scheeßeler leiden seit Jahrzehnten unter der Durchgangsstraße, die in drei scharfen Kurven das Zentrum zerschneidet. Und seit dem 1. Januar 2005, als die Lkw-Maut auf Autobahnen eingeführt wurde, ist alles noch schlimmer geworden. „Der Schwerlastverkehr hat deutlich zugenommen“, sagt der 68-jährige Helmut Rohde.

Scheeßels Problem: Die B75 verbindet die Städte Hamburg und Bremen und verläuft auf einem Großteil dieser Strecke parallel zur regelmäßig überfüllten A1. Der Weg durch Scheeßel ist eine offizielle Stau-Ausweichstrecke, die U43, und seit eineinhalb Jahren, so vermuten Anwohnerinnen und Anwohner, auch eine Maut-Ausweichstrecke. „Es ist bitter, ganz bitter“, sagt Käthe Rohde. „Wir haben mehr Lärm, mehr Abgase, viele Menschen werden nachts im Schlaf gestört.“ Bei den letzten Worten muss sie ihre Stimme erheben, da ein gelber Lastwagen der Schenker-Spedition vorbeidröhnt.

Jensen und Petersen

Die B75 ist eine Grenze aus Asphalt. Schulen, Sporthallen, Fitness-Center, Schwimmbad und Tennisplätze befinden sich auf einer Seite des Ortes. Wer von der anderen Seite dorthin will, muss über die B75. Ampeln gibt es gerade drei an der etwa drei Kilometer langen Durchgangsstraße, die besonders im Ortskern schlecht einzusehen ist. „Kaum noch jemand geht zu Fuß oder fährt mit dem Rad. Alles wird mit dem Auto erledigt!“, klagt Käthe Rohde.

 
  Foto: johannes Hillebrand
  An Tagen, an denen viele Lkw auf die B75 ausweichen, ist es kaum möglich, in Scheeßel die Straße zu überqueren.

Die 69-Jährige fürchtet auch um den Zustand der Häuser, die direkt an der Bundesstraße stehen. „Die Bausubstanz wird leiden, wenn hier auf der Strecke diese großen Lkw zugelassen werden, die es in den USA schon gibt – diese Gigalaster“, sagt sie. „Die werden die Straße komplett kaputtfahren.“ Ihre Befürchtungen sind berechtigt. Sollten sich die auf Teststrecken in Niedersachsen bereits erlaubten 60-Tonner künftig auch über die kurvenreiche B75 durch Scheeßel quälen, dürften Lärm und Abgase im gleichen Maße zunehmen wie das Sicherheitsgefühl der Anwohner abnähme.

Den regionalen Lieferverkehr akzeptieren Helmut und Käthe Rohde als notwendig für die heimische Wirtschaft. Aber den Fernverkehr wollen sie raushaben aus dem Ort. „Jensen und Petersen“, sagt Käthe Rohde. „Ich nenne alle Lastwagenfahrer, die hier durchkommen, nur noch Jensen und Petersen. Speditionen aus Skandinavien, die kennen wir mittlerweile gut.“ Eines wird deutlich aus den Schilderungen des alteingesessenen Ehepaars: Durch Scheeßel fahren schon seit Jahrzehnten zu viele Lastwagen, ob nun von einheimischen oder ausländischen Spediteuren, von Zulieferern für den Supermarkt vor Ort oder von für die Kaffeerösterei Jacobs in Bremen. Die Maut-Flüchtlinge haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Rohdes kennen nur eine Lösung: die Ortsumgehung. Das Projekt ist seit 25 Jahren geplant, aber vom Bund immer wieder verschoben worden.

 
  Foto: kirsten lange
  Johannes Hillebrand kämpft für ein Durchfahrtsverbot für Lkw. Das VCD-Mitglied hat sich auch an der Aktion „Maut-Flucht stoppen“ (s. Kasten) beteiligt.

Johannes Hillebrand teilt den Wunsch nach einer Umgehungsstraße. Der IT-Systembetreuer wohnt mit seiner Frau und den beiden fünf und eineinhalb Jahre alten Söhnen wenige Häuser von Rohdes entfernt. Da er befürchtet, dass frühestens 2015 wieder über den Bau der Ortsumgehung verhandelt wird, setzt sich der 36-Jährige nun für ein Durchfahrtsverbot für Lkw ein. Er hat sich der Scheeßeler Interessensgemeinschaft IG B75 angeschlossen. Die gründete sich im Februar 2005, kurz nach Einführung der Lkw-Maut, als Reaktion auf den zunehmenden Schwerlastverkehr im Ort. Etwa 20 Anwohnerinnen und Anwohner gehören dazu, auch das Ehepaar Rohde.

„Den ersten Antrag auf ein Durchfahrtsverbot hat der Landkreis Rotenburg im Dezember 2005 abgelehnt, mit der Begründung, der Lkw-Verkehr auf der B75 habe gar nicht so stark zugenommen“, erzählt Johannes Hillebrand und blättert in den Unterlagen, die vor ihm auf dem Wohnzimmertisch liegen: Schreiben an Verkehrspolitiker und -behörden, Artikel aus der lokalen Tageszeitung. „Der Sachbearbeiter nennt in seiner Antwort ein paar Zahlen: Im Jahr 2000 fuhren tagsüber durchschnittlich 36 Lkw in der Stunde durch Scheeßel, 2005 waren es 45. Ich weiß nicht, ist das wenig? Ich empfinde das schon als viel.“

Schaden für Scheeßel

Zumal drei Lastwagen in einer Kolonne reichen, um vor einer der Fußgängerampeln einen Rückstau zu verursachen, über den sich Anwohner, Passanten und Autofahrer gleichermaßen ärgern, weil’s laut ist und stinkt. Und auch rollend sorgen die Laster für Unmut. „Oft fahren die Lkw mit 60 km/h durch den Ort“, sagt Hillebrand. „Da frag’ ich mich manchmal, ob sie vor der Ampel überhaupt noch rechtzeitig bremsen können.“ Das Haus der Familie liegt etwas abseits der Straße in einer Senke, umgeben von einem großen Garten mit vielen Bäumen. Zur B75 hin begrenzt ein kleiner Wall das Grundstück. „Wäre der nicht, hätten meine Frau und ich kein ruhiges Gefühl, wenn die Jungs draußen spielen.“

Wann der Landkreis über den neuen Antrag auf ein Durchfahrtsverbot entscheidet, ist ungewiss. Er wartet angeblich auf die Ergebnisse einer weiteren Verkehrszählung. Der Gemeinderat Scheeßel reagiert ebenfalls abwartend bis ablehnend, erzählt Johannes Hillebrand. Die Lokalpolitiker befürchten Nachteile für die Unternehmer vor Ort. Das war schon im Dezember vergangenen Jahres ein Grund dafür, dass die B75 nur für zwei Wochen auf der Liste der ab 2007 zu bemautenden Bundesstraßen stand und dann aus dem Katalog wieder herausgenommen wurde. Hillebrand versteht die Bedenken der Gemeinde. „Aber ich sehe nicht ein, dass die Interessen der Wirtschaft generell über denen der Einwohner stehen.“ Erst recht, da der 36-jährige Ur-Scheeßeler überzeugt ist, dass sich die vielbefahrene Bundesstraße auch negativ auf die lokalen Unternehmen auswirkt. „Viele Geschäfte können sich nicht halten, erst kürzlich vermietete Läden stehen jetzt schon wieder leer. Es bringt einfach keinen Spaß, im Ort einzukaufen.“ Hillebrands leise Stimme hat einen nachdrücklichen Unterton bekommen: „Die B75 fügt Scheeßel Schaden zu.“

Kirsten Lange

   
 

VCD-Aktion
„Maut-Flucht stoppen!“

Um gegen den Lkw-Ausweichverkehr auf Bundes- und Landesstraßen zu protestieren, startete der VCD im März 2005 die bundesweite Aktion „Maut-Flucht stoppen!“. Per Fragebogen konnten Anwohnerinnen und Anwohner dem VCD melden, auf welchen Strecken seit Einführung der Maut besonders viele Lkw fahren. Mehr als 2100 Meldungen gingen bis Juli 2006 in der Bundesgeschäftsstelle ein. Die meisten kamen aus dem Großraum Hamburg-Bremen, z.B. von der B4, B73 oder B75. Ebenfalls stark betroffen sind die Räume Uelzen-Hannover-Braunschweig-Magdeburg und Stuttgart.

Die Ergebnisse der Umfrage sollen dazu beitragen, dass an den Ausweichstrecken möglichst schnell etwas gegen Maut-Flucht unternommen und die Lkw-Maut auf das gesamte Straßennetz ausgeweitet wird.
www.vcd.org/lkwmaut.html

 

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