Titel 4/2006

Interview

Gefährliche Schönheiten

2003 fiel ein Stück Fels vom Matterhorn, aktuell bröckelt die Eiger-Ostflanke. Es scheint, als ob die Alpen ins Rutschen geraten. Wilfried Haeberli, Experte für Gletscherforschung, warnt: „Was wir heute beobachten, dürfte erst der Anfang sein.“

Foto: Privat
Prof. Dr. Wilfried Haeberli ist Leiter der Abteilung „Physische Geographie“ an der Universität Zürich und einer der führenden Schweizer Glaziologen.

fairkehr: Die Alpengletscher sind seit der Eiszeit immer wieder gewachsen und geschrumpft. Was ist neu an der Gletscherschmelze im Alpenbogen?

Haeberli: Das Tempo ist neu. Seit dem Jahr 2000 verlieren die Alpengletscher zwei bis drei Prozent ihrer Masse pro Jahr. Wenn es fünf Grad wärmer wird, und vieles spricht dafür, dass dies in den Alpen noch in unserem Jahrhundert der Fall sein könnte, dann wird wahrscheinlich nur etwas Eis an den höchsten Gipfeln und am Großen Aletsch das nächste Jahrhundert erleben.

fairkehr: Nicht nur die Gletscher schmelzen, auch der Permafrost in Fels und Boden taut. Mit welchen Folgen?

Haeberli: Die Mechanismen im Permafrost sind kompliziert und noch wenig erforscht. Im Gegensatz zur Gletscherschmelze ist die Erwärmung des tiefen Untergrundes ein langsamer Vorgang, hat aber Konsequenzen für Jahrhunderte und Jahrtausende. Die Erwärmung des 20. Jahrhunderts lässt sich heute schon bis zu 60 Meter tief im Fels messen.

fairkehr: Das heißt, das Eis fällt als Kitt aus?

Haeberli: Die Stabilität von Steilflanken im Hochgebirge hängt vor allem von drei Bedingungen ab: Wie steil ist das Gelände, begünstigt die Gesteinsformation Felsabgänge, und wie kalt ist der Permafrost? Von diesen verändert sich zurzeit praktisch nur der Permafrost, der tief ins Berginnere reichen kann. Wo die gefrorene Zone taut, kann Wasser eindringen und wenig stabile Mischungen aus Wasser, Eis und Fels bilden.

fairkehr: Im „Spiegel“ war von Tsunamis in den Alpen zu lesen. Müssen Alpenbewohner mit Schlamm- und Wasserlawinen rechnen?

Haeberli: Von „Tsunamis” sprechen wir im Meer. In Berg- oder Gletscherseen können durch große Eis- oder Felsstürze Schwallwellen entstehen, die dann in einer Kettenreaktion zum Seeausbruch führen oder Murgänge verursachen können. Solche Ereignisse hat es im Hochgebirge – beispielsweise in Nepal – schon immer gegeben. Mit der Erwärmung und dem Gletscherschwund entstehen neue Seen in den Alpen. Solche Seen im Hochgebirge sind gefährliche Schönheiten und müssen genau untersucht werden. Der Gletschersee etwa, der am Fuße des Triftgletschers im Gadmertal entstanden ist, ist ausgesprochen attraktiv. Wenn dort aber größere, vom Gletscher nicht mehr abgestützte Felspartien oder Teile der steilen Gletscherzunge selbst in den See stürzen, könnte eine Schwallwelle entstehen.

fairkehr: Der „Spiegel“ hat die graue, trockene Hochgebirgslandschaft von Afghanistan als Vergleich herangezogen. Werden die Alpen bald so aussehen?

Haeberli: In heiß-trockenen Sommern der zweiten Jahrhunderthälfte könnte das schon sein. Nehmen wir den Sommer 2003. Der Schnee war komplett weggeschmolzen. Die Gletscher hatten ihre Firnoberfläche verloren. Staub wurde aufs Eis geblasen und machte die Gletscheroberflächen dunkler. Dadurch nehmen diese mehr Sonnenstrahlung auf und schmelzen schneller: ein sich selbst verstärkender Mechanismus. Dieses Jahr sieht es auf der Alpensüdseite ähnlich aus.

fairkehr: Braucht man ein neues Gefahrenwarnsystem für die Alpen?

Haeberli: Ein Umdenken sicher. Was wir heute beobachten, ist wahrscheinlich erst der Anfang einer Entwicklung. Das komplexe Geo-System Alpen verändert sich bereits jetzt mit zunehmender Geschwindigkeit. Wir müssen deshalb die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit Computermodellen für zukünftige Zustände und modernen Beobachtungsmethoden ergänzen. Die vom Bundesamt für Umwelt in der Schweiz jetzt erstellten Permafrostkarten sind ein Beispiel für die dazu notwendige Zusammenarbeit zwischen Behörden und Forschung. Man muss sich bewusst sein, welches Ausmaß und welche Geschwindigkeit die mögliche Veränderung hat. Denn drei bis vier Grad globaler Temperaturanstieg gab es zuletzt beim Übergang von der letzten Eiszeit zu der jetzt schon 10000 Jahre währenden Warmzeit. Die vom Menschen verursachte Erwärmung um ähnliche Beträge könnte sich jedoch in wenigen Jahrzehnten abspielen. Für so etwas besitzen wir keine Erfahrung.

fairkehr: Wenn die Gletscher weg sein werden, gibt es dann noch einen Rhein?

Haeberli: Übers ganze Jahr gesehen sicher. Kritisch dürften heiß-trockene Sommer sein, die nach den Klimamodellen sehr viel häufiger werden könnten. Wenn es generell drei Grad wärmer wird, die Schneeschmelze in den Alpen im April vorbei ist, das stabile Subtropenhoch über die Alpen reicht, die Sommerniederschläge ausbleiben und von den geschwundenen Gletschern kein Schmelzwasser mehr kommt, dann könnten auch die großen Ströme mit Ursprung in den Alpen austrocknen.

fairkehr: Mit gravierenden Folgen für die Wasserversorgung in Europa?

Haeberli: Mit Folgen für alles, den Wald, Tiere, Pflanzen und Menschen. Wir wissen noch viel zu wenig über die Auswirkung der Erderwärmung auf das ganze Mensch/Umwelt-System mit seinen komplizierten Vernetzungen und Rückkoppelungen. Wir müssen uns beeilen und die Ergebnisse der Forschung noch besser mit der Politik und den Behörden vernetzen.

Interview: Michael Adler

 

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