Titel 2/2006

Fahrradfreundliches Nordrhein-Westfalen

Neue Wege an Rhein und Ruhr

Im Jahr 2002 beschloss der Deutsche Bundestag endlich einen Nationalen Radverkehrsplan. Das Ziel wurde allerdings schwammig formuliert: Bis 2012 soll das Rad einen „deutlich höheren“ Anteil am Verkehr haben. Entsprechend mager fällt auch die Zwischenbilanz nach vier Jahren aus: bestenfalls Stagnation. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen zeigt, wie man deutlich mehr erreichen kann.

 
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Die Fortschritte des Nationalen Radverkehrsplans sind gering. Verbände wie VCD und ADFC klagen über die zögerliche Umsetzung in den Ländern und Kommunen. In einem Bundesland allerdings wird Radverkehrsförderung schon seit 1978 groß geschrieben, ganz ohne den Nationalen Radverkehrsplan: 1,2 Milliarden Euro hat Nordrhein-Westfalen bislang in den Radverkehr investiert. So viel wie kein anderes Land in der Bundesrepublik. Ein Beispiel dafür, was möglich ist bei gutem Willen.

„Radverkehrsförderung ist preiswert.“ Wenn Ministerialdirigent Ernst Salein im Düsseldorfer Verkehrsministerium das sagt, mit einem Lächeln, mit Überzeugungskraft, aber ohne missionarischen Eifer, dann versteht man, warum Radverkehr in Nordrhein-Westfalen gut vorankommt. Der Radverkehr in NRW, das ist keine parteipolitische Angelegenheit, auch wenn sich SPD und Grüne über Jahrzehnte besonders für das Zweirad engagierten. Viele Kommunen und Kreise, die heute an erster Stelle stehen in Sachen Rad, sind tiefschwarz geprägt: die Kommunen im Münsterland, am Niederrhein, in der Eifel. „Parteipolitik spielte nie eine entscheidende Rolle“, beschreibt Salein. Es wird nicht darüber gestritten, dass das Fahrrad den Städten und Gemeinden gut tut, Feinstaub und Lärm reduziert, die Lebensqualität steigert, Chancen für sanften Tourismus bietet. Die meisten wissen das.

Anträge für viele Millionen laufen jedes Jahr über Saleins Schreibtisch. Seit 1990 ist der Ministerialdirigent für Straßen- und Radverkehrsförderung zuständig. Der passionierte Radler setzt bei seiner Arbeit klare Prioritäten: „Radverkehrsprojekte werden bevorzugt bearbeitet.“ Förderanträge von rund 135 Millionen Euro – Straßen- und Radverkehrsprojekte – müssen bewilligt werden, davon rund zehn Prozent für das Rad. Eine gute Ausstattung angesichts der Kassenlage. „Kein Projekt scheitert in NRW an fehlenden Fördermitteln“, so Salein. Schon eher daran, dass ein Straßenbauprojekt keine vernünftige Planung für den Radverkehr ausweist. Salein: „Wir fragen bei jeder Straßenbaumaßnahme: Und was macht ihr mit dem Radverkehr?“ Und selbst bei knappen Raumverhältnissen und beliebten Ausreden wie „Da ist kein Platz für einen Radweg“ bleibt der Ministerialdirigent hart: „In Solingen haben wir durch Beharrlichkeit erreicht, dass ein Radweg ein Stück abseits gebaut wurde.“ Erfolge, von denen es in Nordrhein-Westfalen viele gibt.

52 Radstationen in NRW

52 Radstationen an Bahnhöfen hat NRW gefördert und eine beim ADFC angesiedelte Agentur zur Gründung von Radstationen ins Leben gerufen. 52 Radstationen, die anderen 17 Bundesländer bringen es zusammen auf ganze 17 (www.radstation.de). NRW verfügt über ein überregionales Radnetz von 13800 Kilometern, das schon zu mehr als 50 Prozent ausgeschildert ist (www.radverkehrsnetz.nrw.de). Ein Hit im Internet ist der vom Land finanzierte Radroutenplaner, mit dem sich die Wochenendtour ebenso organisieren lässt wie die Urlaubreise in NRW. Ein Projekt, dessen Resonanz rekordverdächtig ist: Von August 2003 bis August 2005 wurde der Planer 32 Millionen Male genutzt (www.radroutenplaner.nrw.de).

Eine echte Besonderheit in Nordrhein-Westfalen ist aber die Verankerung der Radverkehrsförderung in den Kommunen und Landkreisen. Die 1993 gegründete Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise, kurz AGFS, der inzwischen 33 Städte und drei Landkreise angehören, ist ein Think Tank in Sachen Fahrrad. Der regelmäßige Gedankenaustausch der fahrradfreundlichen Kommunen, die Innovationsfreude und die Förderung durch das Land sorgen für bundesweite Wirkung.

Viele neue Regelungen der Fahrradnovelle der StVO wurden in NRW „erfunden“: Bonn experimentierte in den 90er Jahren wegen beengter Straßenräume mit abmarkierten „Suggestivstreifen“ – aus denen heute in der StVO die Angebotsstreifen geworden sind. Vorrangschaltung für Radfahrer und Aufstellflächen vor den Autos an Kreuzungen – damit begann Troisdorf schon Ende der 80er Jahre. Heute ist das in vielen Städten Standard. Marl hat den Ampelgriff erfunden, an dem wartende Radfahrer Halt finden, ohne absteigen zu müssen, was der Stadt bundesweite Aufmerksamkeit einbrachte. Innovationen – ganz freiwillig.

„Der Erfahrungsaustausch stand von Anfang an im Mittelpunkt und war der Motor für viele Projekte“, sagt der Geschäftsführer der AGFS, der Krefelder Verkehrsplaner Harald Hilgers. Jede einzelne Stadt verstehe sich als „Modellstadt“, so Hilgers, weil jede eigene Wege gehe, neue Lösungen für alte Probleme suche – und sie den anderen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft vorstelle.

Schon in den 80er Jahren begann das westfälische Münster, damals bereits von der CDU regiert, Einbahnstraßen zu öffnen. Denn die Einbahnstraßen in Wohngegenden, die eigentlich den Autoverkehr ablenken sollten, behinderten auch den erwünschten Radverkehr und zwangen ihn zu Umwegen. Also entschied man sich in Münster mit dem Segen der Bezirksregierung und der Polizei, diese Einbahnstraßen zu sogenannten „unechten“ Einbahnstraßen zu machen. Quartier für Quartier erhielten die Radfahrer in Münster freie Fahrt durch ihre Stadt. 1992 bescheinigte eine wissenschaftliche Untersuchung dieser ungewöhnlichen Maßnahme einen durchschlagenden Erfolg – geäußerte Sicherheitsbedenken hatten sich als unbegründet herausgestellt. Die positiven Erfahrungen machten nicht nur bei der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundliche Städte Schule, sondern führten 1997 zur Änderung der Straßenverkehrsordnung. Ein Segen für den Radverkehr in ganz Deutschland.

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Voraussetzung für Steigerung des Radanteils: Mehr Platz fürs Rad.

Dass es in Münster möglich war und ist, solche Ideen schnell in die Tat umzusetzen, liege an der guten Zusammenarbeit aller Beteiligten, sagt Stephan Böhme, Verkehrsplaner im Stadtplanungsamt. „Wenn es eine Idee gibt, setzen wir uns gleich zu Beginn zusammen. Und wenn jemand Bedenken hat, bedeutet das nicht das Ende der Idee. Sondern wir arbeiten gemeinsam daran, die Bedenken auszuräumen.“ Probleme lösen und sich nicht davon abhalten lassen: Diese Haltung hat den Radverkehrsanteil in Münster auf den deutschen Spitzenwert von rund 35 Prozent steigen lassen.

Viele Städte haben Beispielhaftes geleistet. AGFS-Gründungsmitglied Troisdorf – eine Industriestadt mit 70000 Einwohnern in der Nähe von Bonn – hatte nach dem Krieg wie viele Städte Deutschlands vor allem aufs Auto gesetzt. Mit den bekannten Folgen. Erst das Programm Fahrradfreundliches Troisdorf brachte eine radikale Kehrtwende, begrenzte den Autoverkehr zugunsten einer lebenswerteren Innenstadt und brachte die Troisdorfer zurück aufs Rad. Von 1989 bis 1996, in nur sieben Jahren, stieg der Radverkehrsanteil um ein Drittel auf zwölf Prozent. Hauptprofiteure waren die Senioren: Bei den über 60-Jährigen verdoppelte sich die Fahrradnutzung. Möglich machte diese rasante Entwicklung eine Besonderheit: die Schaffung eines Sonderausschusses, der in allen Fragen der Fahrradförderung – von Grundstücksfragen über Tiefbau bis zur Verkehrsplanung – beschlussfähig war. Er brauchte nur die Zustimmung des Rates. Das Warten auf zahllose Ausschusssitzungen wurde überflüssig.

Tempo 70 auf Landstraßen

Dass Radverkehr nicht nur in Städten, sondern auch auf dem Land gefördert werden kann, beweisen die drei Mitgliedslandkreise Euskirchen, Rhein-Erft und der Rhein-Kreis Neuss. Marcus Sprung, Verkehrsplaner im Kreis Euskirchen, beschildert 160 Kilometer Radnetz, stattet Busse mit Anhängern aus, damit die Radler in der Eifel ohne Schweiß die Berge hinaufkommen, oder spricht Gastronomen an, doch Patenschaften für Teilstücke touristischer Strecken zu übernehmen. Dass das Schwergewicht derzeit auf der Schaffung touristischer Routen liegt, nützt nach Einschätzung von Sprung auch den Alltagsradlern: „Im ländlichen Raum nutzen Alltags- und Freizeitradfahrer überwiegend die gleichen Wege.“ Zumal in den engen Eifeltälern meist nur eine Route bleibt: am Fluss entlang.

Der mit 450000 Einwohnern und 700 Quadratkilometern riesige Erft-Kreis ist noch ehrgeiziger: Bereits 650 Kilometer lang ist das Hauptnetz, das weiter ausgebaut wird und den Radfahrern auch da helfen will, wo es brenzlig wird: am Radwegende. Hier geht NRW ebenfalls ganz neue Wege: Derzeit läuft ein Modellprojekt, das die Abmarkierung von zehn Radwegen auf Landstraßen erprobt, um Straßendörfer miteinander zu verbinden – unter anderem in den Kreisen Euskirchen und Erft. Die Voraussetzungen sind streng: von Tempo 70 für den motorisierten Verkehr bis hin zu Abstandsflächen zum Radstreifen. „Erste Ergebnisse erwarten wir im Herbst“, sagt Verkehrsplaner Ralf Kaulen aus Aachen, dessen Büro das Modellprojekt im Namen des Landes durchführt. Bei den Vorarbeiten für das Modellprojekt fanden die Planer zwei Landstraßen in NRW mit Schutzstreifen. „Die haben die Planer damals einfach markiert, ohne zu wissen, dass das eigentlich verboten ist“, so Kaulen. Ein unfreiwilliger Modellversuch, der bislang erfolgreich verläuft. Kaulen: „Beide Strecken funktionieren.“

Eines haben die 36 Fahrradfreundlichen Städte in NRW ganz besonders gut gelernt in den vergangenen Jahren: das Trommeln. Es gibt große Plakatserien im Herbst, die mit professionellen und witzigen Motiven für die richtige Fahrradbeleuchtung werben. Eine eigene Internetseite informiert über die Mitgliedsstädte, ihre Aktionen und Erfolge (www.fahrradfreundlich.nrw.de). Hinzu kommen Fahrradkongresse, Magazine, Broschüren, Pressearbeit.

Mit dem Rad zur WM

Die jüngste Aktion verspricht besonders breite Wirkung: Zur Fußball-WM wollen die fahrradfreundlichen NRW-Kommunen die Fans gewinnen, mit dem Rad ins Stadion, zur Übertragung auf dem Marktplatz oder zur Grillparty bei Freunden zu fahren. „Mit dem Rad am Ball“ heißt die Kampagne. Sie wird von acht Firmen unterstützt, die sich als „Unternehmen FahrRad“ zusammengeschlossen haben und die Arbeitsgemeinschaft der Fahrradfreundlichen Städte unterstützen – darunter so bekannte Namen wie Shimano Europe, Schwalbe Fahrradreifen, Busch und Müller oder Ortlieb.

Von den vermutlich 65 Millionen Menschen in Deutschland, die die Spiele in Gemeinschaft bei Freunden, in Kneipen oder auf Marktplätzen mit Großbildleinwänden verfolgen, sollen möglichst zehn bis 20 Prozent per Rad anrollen. Das macht bis zu 13 Millionen Fahrten zusätzlich. Und damit sich die radelnden Fans zurechtfinden, verspricht Planer Ralf Kaulen, dass bis zum Eröffnungsspiel auch alle drei WM-Stadien in Dortmund, Gelsenkirchen und Köln ins Radverkehrsnetz NRW aufgenommen werden. Dann hat das Fahrrad bei der WM schon einmal gewonnen.

Axel Mörer-Funk/Nils Flieshardt

   
 

Der Plan und die Zahlen

Die Region Amsterdam hat 100 Millionen Euro für den Bau von Fahrrad-Parkhäusern an ÖPNV-Knotenpunkten beim Staat beantragt. Weitere 100 Millionen sollen von 2006 bis 2010 in die allgemeine Verbesserung der Fahrradinfrastruktur der Stadt Amsterdam fließen. Damit gibt allein Amsterdam in den nächsten vier Jahren 200 Millionen Euro für die Verbesserung des schon sehr guten Radverkehrs aus.

Das Bundesverkehrsministerium hat für den gleichen Zeitraum 400 Millionen Euro für ganz Deutschland vorgesehen, um den sehr niedrigen Radverkehrsanteil auf holländische Verhältnisse zu heben. Der Blick nach Holland macht Fahrradpolitiker in Deutschland immer noch träumen.

Die Niederländer legen 28 Prozent aller Wege mit dem Rad zurück, die Deutschen nur 9 Prozent.

Von 23,7 Milliarden Euro Jahresetat des Bundesverkehrsministeriums fließen 0,1 Milliarden Euro in den Radverkehr, ganze 0,4 Prozent. Von insgesamt 1600 Mitarbeitern des Ministeriums sind gerade mal zwei für den Radverkehr zuständig. Damit nicht genug: Die Sachbearbeiterstelle fällt im Mai der Pensionierung zum Opfer. Ob die Stelle neubesetzt wird, ist derzeit offen. Die einzige Referentenstelle gibt es im Stellenplan des Ministeriums überhaupt nicht. Die derzeitige Stelleninhaberin ist vom Hamburger Senat an den Bund ausgeliehen. Verlängerung ungewiss.

Zum Vergleich: In den Niederlanden wurden zwischen 1990 und 1997 112 Forschungsprojekte mit 15 Millionen Euro bezuschusst. Jährlich wurden in diesen Jahren gut 150 Millionen Euro in Radverkehr investiert. Die koordinierende Projektgruppe war insgesamt mit 40 Personenjahren ausgestattet. Will man diesen Einsatz für den Radverkehr auf deutsche Verhältnisse übertragen, so müsste man Mittel und Personal entprechend der höheren Bevölkerungszahl verfünffachen. Die deutlich schlechtere Ausgangslage und die Denkblockaden noch gar nicht eingerechnet. Bleiben wir aber realistisch: Wenn der nationale Radverkehrsplan auch nur annähernd funktionieren soll, dann braucht es im Ministerium bis 2012 eine stabile Arbeitsgruppe mit mindestens fünf Mitarbeitern. Wenn die genauso engagiert sind wie die jetzigen, dann können sie eine Menge bewegen.

 

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