Politik 2/2006

EU-Projekt „Shared Space“

Unsicher ist sicher

Je unübersichtlicher und riskanter Verkehr wird, desto weniger Unfälle passieren. Das ist die Theorie des niederländischen Verkehrsexperten Hans Monderman – der an viel befahrenen, gefährlichen Straßen Verkehrsschilder und Ampeln entfernen lässt. In mehreren holländischen Orten hatte Monderman damit bislang Erfolg. Nun soll sein Konzept Shared Space auch in Bohmte bei Osnabrück umgesetzt werden.

Foto: Photocase.de
Solche Verkehrsschilder gehören zum alten Eisen, wenn eine Kreuzung nach Shared Space-Kriterien umgestaltet wird.

Ein Mann radelt auf der Bremer Straße im niedersächsischen Bohmte, sein Kind im Fahrradanhänger. Hinter ihm eine Kolonne von Autos und Lastwagen, die ers-ten beginnen ungeduldig zu hupen, der junge Vater beschleunigt nervös sein Tempo. Kein ungewöhnliches Bild in dem 7500-Einwohner-Ort bei Osnabrück. Etwa 1200 Lkw und mehr als 10000 Pkw quälen sich täglich durch Bohmte. Die Bremer Straße ist dabei eine der Hauptdurchfahrtsstrecken. Radler trauen sich nur noch selten, die Fahrbahn zu benutzen. Zu Fuß geht kaum jemand mehr, weil das einfach keinen Spaß bringt, wenn unablässig Autos und Laster an einem vorbeiziehen.

Das soll künftig anders werden. Bohmte ist eine von insgesamt sieben Kommunen, die sich an dem EU-Pilotprojekt Shared Space beteiligen, übersetzt bedeutet das „geteilter Raum“. Die Idee dahinter: Fußgänger, Radfahrer, Auto- und Lastwagenlenker – sie alle nutzen die Straße gemeinsam. Es gibt weder separate Wege für Passanten oder Radler noch Fahrbahnmarkierungen. Und es wird auf jegliches Verkehrszeichen verzichtet – keine Ampel springt mehr auf Rot, kein Vorfahrtsschild gewährleistet jederzeit freie Fahrt. Wer glaubt, dieses Prinzip führe ins komplette Chaos, der irrt. Das Gegenteil ist der Fall.

Straßen unsicher machen

Niemand weiß das besser als der niederländische Verkehrsplaner Hans Monderman, der als Erfinder des Shared-Space-Konzepts gilt und die Gemeinde Bohmte bei der Umsetzung der Idee berät. Der 60-Jährige hat bereits mehr als 100 Kreuzungen und Straßen in Holland umgestaltet. Sein Fazit: Je größer das Risiko ist, desto weniger Unfälle passieren. Was absurd klingt, folgt einer erfrischend menschlichen Logik. „Wenn den Bürgern im Verkehr keine Richtlinien vorgegeben werden, wenn sie unsicher sind, wie sie sich verhalten sollen, fahren sie erheblich vorsichtiger. Und sie greifen endlich wieder auf normale soziale Verhaltensweisen zurück. Sie achten auf den anderen, schauen, was ihr Gegenüber will, und kommunizieren miteinander“, erklärt Monderman.

Seiner Ansicht nach vermitteln Verkehrszeichen eine trügerische Sicherheit: Sie nehmen den Menschen die Eigenverantwortung ab und geben ihnen das Gefühl, dass ihnen schon nichts passiere, wenn sie sich nur an die Regeln hielten. „Seit Jahrzehnten versuchen Verkehrsingenieure, jegliches Risiko auf den Straßen zu beseitigen. Sie verbreitern und trennen die Fahrbahnen, sie bauen Unterführungen für Radfahrer und optimieren die Ampelschaltungen. Aber es passieren nicht weniger Unfälle. Die Menschen müssen wieder merken, dass es viele Gefahren im Straßenverkehr gibt, und sie müssen lernen, damit umzugehen. Erst dann wird Verkehr sicherer“, so Monderman.

Foto: Gemeinde Bohmte
In Bohmtes Mitte wird bald vieles anders. Bürgermeister Klaus Goedejohann an einem Modell des Ortes im Rathaus.

Dass seine Theorie zutrifft, zeigt sich unter anderem an der umgebauten Hauptverkehrskreuzung in der holländischen Kleinstadt Drachten, Mondermans bislang bekanntestem Projekt. Dort sind täglich etwa 22000 motorisierte Fahrzeuge, mehr als 1500 Radfahrer sowie unzählige Fußgänger unterwegs. Früher rollte der Verkehr mehrspurig, staute sich vor roten Ampeln, produzierte Lärm und Abgase. Heute teilen sich Busse, Autos, Laster, Motorradfahrer und Radler gleichberechtigt eine Spur um einen Kreisverkehr, der so schmal ist, dass die großen Lkw gerade noch die Kurve kriegen. Kaum jemand fährt schneller als 20 Stundenkilometer. Und das wirkt sich merklich auf die Sicherheit aus: In den vergangenen zwei Jahren hat es lediglich drei kleinere Unfälle gegeben, bei denen niemand verletzt wurde.

Bosch Slabbers/ASTOC Architects and PLanners
Eine Kreuzung, zwei Gesichter. So könnte die Bremer Straße in Bohmte nach der Umgestaltung aussehen.

Ähnliche Effekte erhofft man sich von Shared Space im niedersächsischen Bohmte. Die Ampelkreuzung, die umgebaut werden soll, befindet sich in der Ortsmitte. Autos und Lastwagen, die nach Nordrhein-Westfalen unterwegs sind, biegen hier von der Bremer Straße in Richtung Minden ab. Erst vor kurzem wurde an dieser Stelle eine Radfahrerin von einem Lkw erfasst und schwer verletzt. „Etwa 30 bis 35 Unfälle passieren jährlich an der Kreuzung, vor allem Auffahrunfälle an den Ampeln. Ich hoffe, dass es nach der Neugestaltung nur noch maximal fünf Unfälle sind“, erläutert Peter Hilbricht, Verkehrssachbearbeiter bei der Bohmter Polizei und Mitglied des Ortsrats. Er hat sich von Anfang an für das Projekt engagiert und ist überzeugt, dass es sich positiv auswirken wird. „Im Shared-Space-Bereich werden die Lastwagen lediglich Schrittgeschwindigkeit fahren können. Ich glaube nicht, dass die Fahrer sich das wirklich antun. Die meisten werden den Ort künftig meiden und die Umgehungsstraße nutzen.“

Leben an die Straße bringen

Das hofft auch Bohmtes Bürgermeister, Klaus Goedejohann. „Der Schwerlastverkehr muss zum größten Teil raus aus dem Ort, damit Bohmte für die Bürger wieder attraktiver wird“, sagt er und beschreibt, wie die Kreuzung ab 2008 aussehen soll. „Ampeln und Bordsteine verschwinden komplett, die Straße wird einheitlich gepflastert. Der gesamte Bereich soll am Ende wie ein Dorfplatz anmuten, auf dem sich die Menschen gern aufhalten. Außerdem wird eine Art Kreisverkehr angedeutet, damit die Autofahrer ungefähr wissen, wo sie lang müssen.“

Foto: Kirsten lange
Bohmter Ansichten: Noch quälen sich pro Tag mehr als 12000 Autos und Lastwagen durch den Ort.

Auf diese Weise bekommt Bohmte wieder einen Ortsmittelpunkt, der den Namen verdient. Im künftigen Shared-Space-Bereich befinden sich die Kirche, ein Gasthof und verschiedene Geschäfte. Doch länger verweilen mag hier zurzeit niemand. Kein Wunder, findet Hubertus Brörmann. Er besitzt zwei Textilläden direkt an der Kreuzung. „Die Lastwagen sind unheimlich laut“, klagt der Unternehmer, der das Shared-Space-Projekt vor Ort mitkoordiniert. „Sie halten mit quietschenden Bremsen vor den Ampeln und fahren mit dröhnendem Motor wieder an.“ Wenn die Straße erst einmal umgebaut sei, könne der Verkehr kontinuierlich fließen, die Lärmbelastung werde dadurch erheblich geringer, hofft Brörmann.

Alles in allem steht Bohmtes Geschäftswelt dem Vorhaben positiv gegenüber. „Wir möchten mehr Leben an die Straße bringen“, betont Ronald Fortmann, Vorsitzender der Werbegemeinschaft Bohmte, eines Zusammenschlusses von lokalen Unternehmern. Fortmann besitzt eine Gärtnerei an der Bremer Straße. Wenn die Ladentüren geöffnet sind, versteht er hin und wieder sein eigenes Wort nicht mehr. Er wünscht sich, seine Blumen auch mal draußen vor dem Geschäft verkaufen zu können. Andere Unternehmer hegen ähnliche Vorstellungen: Sie möchten Kleiderständer nach draußen stellen oder vor ihrem Restaurant einen Biergarten eröffnen, um mehr Kunden anzulocken. Das EU-Projekt Shared Space stellt den Menschen in den Mittelpunkt, auch in politischer Hinsicht. So wurden in Bohmte die Bürger von Beginn an mit in die Planungen einbezogen. In mehreren Workshops erarbeiteten Einwohner, lokale Politiker und externe Verkehrsplaner im vergangenen Jahr gemeinsam Lösungen für die Verkehrsprobleme vor Ort. Bis Juli 2008 müssen die Ideen in die Praxis umgesetzt sein, dann läuft die EU-Förderung aus. Rund 1,5 Millionen Euro kostet der Umbau des Teilstücks der Bremer Straße, etwa die Hälfte wird aus der Gemeindekasse bezahlt. Beim Niedersächsischen Verkehrsministerium ist das Vorhaben auf positive Resonanz gestoßen. Bis die Behörde grünes Licht gibt, werden zwar noch einige Wochen verstreichen, da erst die Detailplanungen erstellt und geprüft werden müssen. Bohmtes Bürgermeister Klaus Goedejohann ist jedoch zuversichtlich, dass die Bauarbeiten 2007 beginnen können.

Die Straße erzählen lassen

Die Neugestaltungspläne der Bohmter Bürger gehen weit über das Jahr 2008 hinaus. Bis spätestens 2030 soll die gesamte Ortsdurchfahrt zurückgebaut und zu einer ansprechenden Einkaufsmeile werden, die zum Bummeln einlädt. Verkehrsplaner Hans Monderman begrüßt diesen langfristigen Ansatz. Sein Wunsch ist, dass Shared Space ein generelles Umdenken bei denen bewirkt, die das Konzept in ihrer Gemeinde umsetzen. Er hofft auf neue Zielsetzungen in der Verkehrspolitik. „Bislang geht es den Behörden hauptsächlich darum, so schnell wie möglich Lösungen für akute Verkehrsprobleme zu finden und umzusetzen. Ein Brennpunkt wird entschärft, dann taucht bald der nächste auf, der wird auch beseitigt und so geht es immer weiter. Es gibt keine längerfristigen Ziele, kaum jemand fragt sich: Wie soll, wie kann unser Verkehrssystem in 30 Jahren aussehen?“, kritisiert der Niederländer.

Die Zukunft des Verkehrssystems sieht Monderman bis zu einem gewissen Grad in dessen Vergangenheit: Straßen müssten ihre ursprüngliche Identität zurückbekommen. „Shared Space geht davon aus, dass unser Verhalten auf der Straße stärker von der Umgebung geprägt ist – beispielsweise von besonderen Merkmalen wie einer Baumreihe oder einem gut sichtbaren Kirchturm – als von Verkehrszeichen. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir die Straßen jedoch so einheitlich wie möglich gestaltet. Dadurch sind originale Charaktereigenschaften verloren gegangen, die Verkehrswege haben keine eigene Aussagekraft mehr.“ Die Straßen, die Monderman umgestalten lässt, sollen „ihre Geschichte erzählen“, wie er es ausdrückt. Dann bekämen die Menschen Lust, beispielsweise mit dem Rad dort entlangzufahren.

Ab 2008 dann auch wieder in dem kleinen Ort Bohmte bei Osnabrück.

Kirsten Lange

Weitere Informationen:
www.shared-space.org
www.bohmte.de

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