Titel 1/2006

WEGE DES ÖLS

Ein kleiner Liter auf großer Fahrt

Nie zuvor war Benzin so teuer wie heute. Warum?
Reiner Luyken begleitete einen Liter Rohöl auf seiner Reise von der Quelle in Kuwait durch den Sueskanal nach Rotterdam und weiter zur Tankstelle nach Wesseling bei Köln. Die Stationen einen kolossalen Preissteigerung.

Foto: Archiv
Rackern in Zwölf-Stunden-Schichten: Wer auf einer Ölbohrinsel arbeitet, muss fit und schwindelfrei sein.

Tag 1: Muhammad Almulla schraubt einen Druckmesser auf ein Rohrgebilde, das er christmas tree nennt. 500 psi zeigt das Gerät an. Was das bedeutet, kann man erahnen, wenn man die Hand auf einen Ast des „Weihnachtsbaums“ legt. Er vibriert wie ein Schienenstrang, auf dem sich ein Schnellzug nähert. Almulla öffnet ein Ventil. Mit Gas vermischtes Öl zischt heraus. Er füllt eine Probe in eine Flasche – unsere Geschichte kann beginnen. Es ist die Geschichte eines Liters Öl auf seiner Reise von der Quelle 473 im kuwaitischen Ölfeld Burgan bis zur Tankstelle in Wesseling bei Köln.

Hält man, für einen ersten Eindruck, die Flasche Öl aus der Quelle 473 gegen die Sonne, dann zeigt sich, dass es nicht schwarz ist, sondern tiefbraun mit einem oszillierenden Stich Dunkelrot. Umso eindeutiger ist der Geruch der Flüssigkeit. Sie riecht jetzt schon schmutzig, wie ein undichter Tanklaster.

Burgan ist das zweitgrößte Ölfeld der Welt, fünfmal so groß wie das Fürstentum Liechtenstein. Das erste Öl wurde hier 1948 von BP und der amerikanischen Gulf Oil Company gefördert. Bis heute dringt es wie Lava an die Oberfläche. Der Druck, der unseren Liter Öl aus dem Wüstenboden treibt, wird durch den natürlichen Auftrieb eines unterirdischen Sees erzeugt. Bei der Entleerung dringt das Wasser ins Ölreservoir ein, sehr langsam, aber doch unaufhaltsam. Auf einer Karte des geologischen Untergrundes kann man das in Form eines kleinen weißen Randes sehen. Da war früher Öl. Jetzt ist da nur noch Wasser.

In der Sammelstation Nummer 19, in der Öl aus Dutzenden Quellen zusammenläuft, legen Arbeiter Hebel um, dirigieren die Flüssigkeit durch Ventile mal hierhin, mal dorthin. Wasserreste werden abgeschieden, Gas abgefackelt, der Druck heruntergefahren. Öldunst würzt die Luft.

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Viele kleine Brüder und Schwestern unseres Liters Öl erfüllen ihre Aufgabe: Geländewagen wie diese verbrauchen beim Dünen-Erklimmen mindestens 15 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometern.

Tag 2: Unser Liter fließt aus der Sammelstation in das Öllager Süd, eine kaum zu überblickende Ansammlung riesiger Tanks, die zusammen mit einer weiteren Tankfarm ein Fassungsvermögen von 16 Millionen Tonnen besitzt. Das entspricht fast einem Sechstel des Jahresbedarfs der Bundesrepublik, des viertgrößten Erdölmarktes der Welt.

Jede Ölsorte hat bestimmte Eigenschaften – wie Wein aus verschiedenen Anbaugebieten. Neben dem mittelschweren Burganöl gibt es in Kuwait schweres Öl aus Minagisch, leichtes Öl aus South Maqua und ein sehr leichtes Öl mit dem schönen Namen Kara’a al-Mara Nadschmah Nargelu. In den Tanks wird unser Liter mit den anderen Sorten zu Kuwait Export Crude (KEC) gemixt, das durch ein spezifisches Gewicht von 30,5 API (kurz für American Petroleum Institute) und einen Schwefelgehalt von 2,65 Prozent definiert ist. Einen Tag lang wird die verpanschte Tunke gelagert, damit sich letzte Wasserreste absetzen können.

Tag 3: Kuwait produziert das billigste Öl der Welt. Es kostet einen Dollar pro Barrel. Ein Barrel enthält 159 Liter. Rechnen wir den Dollar für unseren Liter in Euro um, kommen wir auf 0,6 europäische Cent. Der Liter fließt in einer Überlandpipeline ein paar Hundert Meter meerwärts und dann auf dem Meeresboden zur Al Salheia, einem weit vor der Küste an einer Boje verankerten Supertanker der Kuwait Oil Tanker Company. Mit 300000 Tonnen voll beladen, schleppt das Schiff einen 25 Meter tiefen Bauch unter sich her. Im relativ flachen Gewässer des Persischen Golfs kann es nicht näher als zwanzig Kilometer unter Land navigieren. Die Boje verbindet die Unterwasserrohre über auf dem Wasser schwimmende Schläuche mit der Al Salheia.

Als unser Liter über die Bordwand flutscht, geschieht ein Wunder. Plötzlich kostet er anstatt 0,6 Cent 64-mal so viel, 38 Cent. So viel hat der Käufer für ihn bezahlt. Das finanzielle Schicksal des Liters hatte schon zwei Monate, bevor er aus ölschwammiger Tiefe in die Steigleitung der Burganquelle 473 gerissen wurde, seinen Lauf genommen. In Wesseling bei Köln liegt eine von drei Raffinerien der deutschen Shell. Ihr lag ein Großauftrag einer Straßenbaugesellschaft für Bitumen vor, den Grundstoff zur Herstellung von Asphalt. Bei der Destillation von Öl entstehen nicht nur Benzin und Diesel, sondern über ein Dutzend andere Produkte, darunter auch Bitumen. Aus dem Öl des Nahen Ostens lässt sich besonders viel Bitumen gewinnen.

Die Raffinerie bestellte bei der für den Einkauf zuständigen Shell Trading and Shipping Company (Stasco) in London arabisches Rohöl. Die bekannten Namen im Geschäft – Shell, BP, ExxonMobil, Chevron und TotalFinaElf – kaufen den größten Teil ihres Bedarfs ein. Der Preis wird an der New Yorker Nymex, der SGX in Singapur und der International Petroleum Exchange (IPE) in London fixiert. Hier besorgte die Stasco das Nahostöl für Wesseling, oder besser: ein Papier mit Preis- und Lieferdatum. Solche Termingeschäfte sind ein unverzichtbares Elixier des internationalen Rohstoffhandels.

Tag 4: Die Beladung des Schiffs dauert 36 Stunden. Das rote Unterteil der Al Salheia versinkt langsam im Wasser, bis nur der obere schwarze Rand zu sehen ist. Sie mutet fast wie ein überdimensionales U-Boot an. Wenn die Tanks bis oben voll sind, bleiben hier gerade zwei Meter Freiraum zwischen Kiel und Meeresboden.

Tag 5: Die Al Salheia legt ab. Fährt durch einen engen Tiefwasserkanal in den Persischen Golf hinaus, dann mit 15 Knoten parallel zur Küste Saudi-Arabiens nach Südost. Reisegeschwindigkeit und Anlieferdatum sind im Chartervertrag genau festgeschrieben.

Tag 15: Voll beladen kommt die Al Salheia nicht durch den zu flachen Sueskanal. Vor der Einfahrt wird ein Großteil der Fracht gelöscht und durch eine Rohrleitung auf die Mittelmeerseite gepumpt. In Port Said kommt die Ladung zurück an Bord. Ob es wirklich dasselbe Öl ist, da ist sich Kapitän Masoud Ali nie ganz sicher. Hauptsache, es hat die gleichen Eigenschaften: spezifisches Gewicht, Schwefel- wie Wassergehalt. Hauptsache, es fehlen nicht 400 Tonnen, was auch schon vorgekommen ist. Hauptsache, die Ladepapiere sind in Ordnung.

Kapitän Ali, ein würdevoller Herr, spricht von dem komplizierten Beziehungsgeflecht von Händlern, Mittelsmännern und Maklern und der Schlüsselrolle, die sie in der Bewegung des Liters Öl von A nach B spielen. So viel ist schnell klar. Die umständliche Passage durch den Sueskanal kommt trotz der einmaligen Gebühr von 305000 Dollar pro Durchfahrt billiger als eine monatelange Reise um die Südspitze von Afrika. Während Wirtschaftsflauten, wenn Schiffstreibstoff billig, die Nachfrage nach Öl flau und Chartergebühren niedrig sind, ist das manchmal umgekehrt.

Derzeit kostet die Charter um die 20000 Dollar am Tag. Die Reeder verdienen prächtig, weil ihre Kosten nur zwischen täglich 11000 bis 14000 Dollar liegen. Für die Reise nach Rotterdam verlangen sie rund eine halbe Million Dollar. Der Charterer muss neben der Kanalgebühr den Treibstoff, etwa 600000 Dollar, und später noch 130000 Dollar Hafengebühr in Rotterdam bezahlen. Mit dem Transport addieren sich 1,53 Millionen Dollar, etwas über eine Million Euro, zu den Kosten der Ladung. Für unseren Liter schlägt die große Zahl mit gerade 0,5 Cent zu Buche. Der legt sein kommerzielles Fett anderswo an.

Foto: BP
Hier wird aus Rohöl Benzin: Blick auf den Destillationsturm einer Raffinerie des Mineralölkonzerns BP.

Tag 30: Die Al Salheia macht nach 25-tägiger Reise zum festgelegten Zeitpunkt am Maasvlakte Olie Terminal in Rotterdam fest. Die kolossale Anlage an der Ausfahrt des 35 Kilometer langen Hafens ist ein Gemeinschaftsunternehmen von BP, ExxonMobil, Kuwait Petroleum, Shell, Total und Vopak, letztere eine holländische Reederei. Alles ist auf Masse und Größe ausgerichtet. Zwei Anleger für Supertanker. 36 Tanks, jeder so hoch wie ein siebenstöckiges Haus mit einem Durchmesser von 85 Metern. Über vier Millionen Kubikmeter passen in alle zusammen hinein, mehr als das Ladevermögen der gesamten Tankerflotte Kuwaits. In 36 Stunden wird das Schiff leer gepumpt. Hafenmeister Leo Koet lässt drei Proben ziehen, die er in einem kleinen Nebengebäude wie in einem Weinkeller aufbewahrt. Als flüssige Belege, dass alles mit rechten Dingen zugeht.

Rotterdam ist der Ausgangspunkt eines internationalen Pipelinenetzes. In Deutschland reicht es bis nach Hamburg und Ludwigshafen (Ostdeutschland wird aus dem russischen Samava versorgt, Süddeutschland aus Triest und dem französischen Lavéra). Für den Notfall hält die Bundesrepublik Öl auf Vorrat, ein Viertel des Jahresverbrauchs, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Ein Großteil ist unterirdisch in Salzstöcken bei Wilhelmshaven, Bremen, Hamburg und Heide eingelagert. Der am Hamburger Jungfernstieg ansässige „Erdölbevorratungsverband“ treibt zur Finanzierung von allen Ölfirmen eine Zwangsabgabe ein, die sich mit 0,005 Cent beim Preis unseres Liters Öl niederschlägt.

Tag 32: Unser Liter verschwindet in der Rotterdam-Rhein-Pipeline (RRP), um in vier Tagen nach Wesseling bei Köln zu kommen. Auch das Ölrohr gehört einem Konsortium von Multis, in diesem Falle Shell, BP und Texaco. Der Transport kostet drei bis vier Euro pro Tonne. Ebenfalls eine kaum merkliche Größe in unserem Liter, weitere drei Zehntel hinter dem Komma, die seinen Wert aufgerundet auf 39 Cent springen lassen. Er treibt im Spaziergängertempo unter holländischen Wiesen und der norddeutschen Tiefebene rheinwärts. Der Transport auf einem Rheintanker würde nicht viel mehr kosten, einen halben Cent für den Liter. In einem Eisenbahnkesselwagen wären es neun, in einem Straßentankwagen 30-mal so viel.

Tag 36: Ankunft in Wesseling. In der Raffinerie und dem nördlich von Wesseling gelegenen Schwesterwerk Godorf destilliert Shell jährlich 16 Millionen Tonnen Rohöl, ein knappes Sechstel des deutschen Gesamtverbrauchs. Das zwei Quadratkilometer große Gelände reicht von der A 555 bis ans Rheinufer. Der Betrieb ist so hoch automatisiert, dass 48 Arbeiter die Kernfunktionen der acht Produktionsanlagen steuern können, gerade drei Mann mehr, als in der Betriebsfeuerwehr beschäftigt sind. Vom Öl sieht man keine Spur. Unser Liter ist irgendwo in den Destillationskolonnen, Hydrocrackern, Entschwefelungs- und Olefinanlagen verschwunden. Das „wilde Gemisch aus verschiedenen Stoffen“, wie einer der Angestellten es nennt, wird in für einen Laien rätselhaften Prozessen in Flüssiggas, Gasöl, Mittelöl und Schweröl verwandelt. Das dauert nicht länger als einige Minuten. Ruck, zuck entsteht aus dem Öl das Benzin.

Und wieder ereignet sich ein Wunder. An einer Shell-Tankstelle vor dem Firmentor kostet unser Liter aus Burgan als Benzin 123 Cent. Er hat mehr als einen Euro, genau 106 Cent, angesetzt und seinen Wert mehr als versechsfacht. Shell zufolge ist das nicht die Schuld des Unternehmens: Diesmal schlage vor allem die Bundesregierung zu. Steuern machen 75 Prozent des Benzinpreises aus. Der Endverbraucher zahlt sechs Prozent für Transport, Vertrieb und Kapitalverzinsung. 19 Prozent spiegeln den Produktpreis wider. Ein Fünftel davon bleibt bei der Shell hängen.

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