Titel 6/2005PendlerliebeEin Herz auf ReisenPaul lernt im Urlaub die schöne Helena kennen. Unvorstellbar für den Berliner, dass die moderne, unternehmungslustige Frau auf dem Land wohnt. Aber sie hat sein Herz erobert, und so macht sich der überzeugte Großstadtsingle zum ersten Mal seit vielen Jahren mit dem Zug auf den Weg in die Provinz.Bahnhof-Zoo, der ICE fährt ein. Lautlos schieben sich die Türen auf. Paul nimmt den riesigen Rosenstrauß schützend vor den Körper. Was für eine Idee, Rosen mit in die Bahn zu nehmen. Sie werden ihn während der ganzen Fahrt behindern, und bis er ankommt, lassen sie wahrscheinlich die Köpfe hängen. Fünf Stunden und 41 Minuten wird er insgesamt unterwegs sein. Drei Mal muss er dabei den Zug wechseln. Er steigt ein und sucht seinen Platz. Der ICE setzt sich langsam in Bewegung. Die Vororte von Berlin ziehen am Fenster vorbei, dann lange nichts mehr, nur die endlosen Felder der Altmark. Nach etwas über drei Stunden erreicht der Zug dann endlich den ersten Umsteigebahnhof. Würde nicht die Sehnsucht nach der Liebsten ihn vorantreiben, würde Paul hier in dieser verschlafenen Barockstadt eine Pause einlegen. Sicher würde er den Dom besichtigen, und vielleicht würde er sogar dem Schloss einen Besuch abstatten, in dem die Stadt einem ihrer berühmten Söhne einen Gedenkraum eingerichtet hat. Der Mann hatte sich unter anderem im vergangenen Jahrhundert um die Anfänge des Fernsehens verdient gemacht. Ein anderes Mal. Heute steigt Paul hier nur in den nächsten Fernzug um. In einer Werbebroschüre der DB liest er, dass auf der Strecke, die er jetzt befährt, 1988 eine Weltrekordfahrt stattfand. Dieser Rekord ist zwar längst eingestellt, aber Hochgeschwindigkeit bleibt Hochgeschwindigkeit. Da ist die nächste Domstadt schnell erreicht. So ist das eben, wenn man durch katholische Gegenden reist, denkt Paul. Umsteigen muss er hier zum Glück nicht. Aber statt auf dem direkten Weg zu seinem Ziel zu fahren, begibt er sich nun auf einen Umweg Richtung Osten. Wie so oft bei der neuen Bahn kommt er schneller ans Ziel, wenn er die längere Streckenvariante wählt. Schließlich erreicht er seinen nächsten Umsteigepunkt. Vorsichtig nimmt er den Rosenstrauß von der Ablage. Im Zug und auf dem Bahnsteig herrscht heilloses Durcheinander. Während der Weihnachtszeit scheint die ganze Welt hierher zu pilgern, geht es Paul durch den Kopf, während er sich mit Koffer und Rosen durch die Menge kämpft. Und einen Dom gibt es natürlich auch … Um zum nächsten Zug zu kommen, muss er hinunter in die Bahnhofskatakomben und dann durch einen endlosen Tunnel aufs nächste Gleis. Jetzt hat er nur noch 46 Minuten zu fahren – immer der untergehenden Sonne entgegen. Ungeduldig schaut er aus dem Fenster. In der Dämmerung sieht er Hügelketten vorbeiziehen. Fünfmal hält der Zug, bis Paul endlich angekommen ist. Einen verwegenen Hut auf dem Kopf, steht die schöne Helena auf dem Bahnsteig und strahlt ihm entgegen. Paul lacht. Er stürmt aus dem Zug in die Arme seiner Liebsten. Hand in Hand schlendern sie zu Helenas Wohnung. Auf dem Küchentisch steht ein bunter Blumenstrauß. Oh nein, die Rosen! denkt Paul. Die sind noch mit dem Zug unterwegs durch die Nacht.
Wie kommt Paul zu Helena?
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