Titel 6/2005

Interview

Muss der Mensch mobil sein?

Wenn Menschen zu viel unterwegs sein müssen, werden sie krank. Stress durch chronische Zeitknappheit verursacht Erschöpfungszustände, Schlafstörungen und macht unzufrieden. fairkehr sprach mit dem Soziologen Norbert Schneider über seine Studie zu Berufsmobiliät und Lebensform.

Foto: www.marcusgloger.de
Viele Pendler müssen für ihren Job oft noch zusätzlich für Termine ins Ausland reisen.

fairkehr: Der moderne Mensch wird immer mobiler, der Weg zur Arbeit weiter, die Anfahrtszeit länger. Was macht das mit den Menschen?

Schneider: Fern- und Wochenendpendler befinden sich in einer hoch belastenden Situation. Sie haben weit höhere Gesundheitsrisiken als Sesshafte. Fernpendler leiden häufig unter Schlafstörungen, Nacken- und Gliederschmerzen, Erschöpfungszuständen und Depressionen. Außerdem scheinen sie häufiger unter Bluthochdruck zu leiden.

fairkehr: Hängt das nicht eher mit dem Stress im Job zusammen?

Schneider: Nein, unsere Studien haben relativ viele Variablen kontrolliert: Alter, Familienstand, Wohn- und Einkommenssituation sowie Berufstätigkeit. Das Pendeln hat eindeutig einen eigenständigen Einfluss auf die Gesundheit. Außerdem sind Pendler mit ihrem Leben unzufriedener. Je länger die täglich zurückgelegte Wegstrecke, desto geringer ist die Lebenszufriedenheit.

fairkehr: Woran liegt das?

Schneider: Pendeln erzeugt Stress durch die chronische Zeitknappheit. Bei Wochenendpendlern beeinträchtigt das Mobilsein sogar die Familienplanung. Sie haben seltener Kinder. Pendeln kostet einfach Energie und führt tendenziell dazu, dass Menschen sozial isoliert sind. Sie kommen nach Hause und sehnen sich nur noch nach Ruhe und Erholung. Ehrenamtliche Tätigkeiten oder Mitwirkung in Vereinen sind nur eingeschränkt möglich.

fairkehr: Vagabundieren mehr Männer oder Frauen zwischen Berufswelt und sozialem Umfeld?

Schneider: Bei Verheirateten können wir davon ausgehen, dass Männer mobiler sind als Frauen. Mobile verheiratete Frauen leiden unter der Pendelsituation stärker als Männer. Sie haben im Prinzip eine dreifache Belastung: Beruf, Familienarbeit und Mobilitätsbewältigung, weil der Mann sie selten zu Hause entlastet. Ledige Frauen sind allerdings mobiler als ledige Männer.

fairkehr: Gibt es Unterschiede im Mobilitätsverhalten zwischen Arm und Reich, Ost und West, Alt und Jung?

Schneider: Mögliche Unterschiede haben sich aufgelöst. Früher war Mobilität auf wenige Berufsgruppen oder auf die Führungsetagen beschränkt. Die Prozesse der letzten 20 Jahre haben zu einer horizontalen und vertikalen Diffundierung geführt. Das heißt: Immer mehr Berufsgruppen sind mit Mobilitätserfordernissen konfrontiert. Wird zum Beispiel ein Betrieb verlagert, steht heute auch der einfache Arbeiter vor der Wahl: Mitgehen oder arbeitslos werden.

Foto: Valeska Zepp
Norbert Schneider ist Professor für Soziologie an der Universität Mainz. Sein Forschungsgebiet ist der mobile Mensch. Mit der fairkehr sprach er über Risiken und Nebenwirkungen des Fern- und Wochenendpendelns.

fairkehr: Unternehmen wünschen sich flexible und mobile Mitarbeiter. Für die gesellschaftliche und soziale Entwicklung ist das aber nach Ihren Erkenntnissen alles andere als erstrebenswert – wie kann man das Problem lösen?

Schneider: Unternehmen und Politik müssen sich folgende Fragen stellen: Wie viel Mobilität brauchen wir? Wie viel Mobilität können wir den Beschäftigten zumuten? Und: Was können wir tun, um den mobilen Menschen zu helfen, die Belastungen zu reduzieren?

fairkehr: Wie mobil muss der heutige Mensch Ihrer Meinung nach sein?

Schneider: Im historischen Kontext war der Begriff Mobilität grundlegenden Veränderungen ausgesetzt. Bis ins 18. Jahrhundert, im Prinzip bis Goethe, war Mobilität etwas Unerwünschtes, Gefährliches, Bedrohliches. Damals war Sesshaftigkeit sozial gewollt. Mit der Aufklärung wandelte sich Mobilität zum Symbol für Fortschritt, Freiheit, Aufbruch, Zukunft. Das ist bis heute so. Aus Sicht der Unternehmen und der Politik wird Mobilität vollkommen positiv bewertet – zu Unrecht. Momentan stehen wir an einer Zeitenwende. Viele Menschen sind nur mobil, weil sie keine andere Chance haben. Sie sind getrieben, fremdbestimmt. Mobilität heißt nicht mehr, sich aktiv zu bewegen, sondern bewegt zu werden.

fairkehr: Was muss sich ändern?

Schneider: Wir müssen kritischer über die Folgekosten von Mobilität reflektieren. Und damit meine ich nicht nur die ökologischen und sozialen, sondern vor allem die produktiven Folgekosten. Pendler sind so hoch belastet, dass ihre Produktivität am Arbeitsplatz leidet. Es ist doch vollkommen klar, dass jemand, der nach zwei Stunden Stau gestresst am Arbeitsplatz ankommt, anders arbeitet als jemand, der nur ein paar Minuten mit dem Fahrrad unterwegs war. Darüber wird in den Unternehmen so gut wie gar nicht nachgedacht. Es gibt Controlling-Maßnahmen für alle möglichen Abläufe, aber nicht für mobilitätsinduzierte Kosten.

fairkehr: Was kann der Einzelne tun, um seine Situation zu verbessern?

Schneider: Man kann versuchen, die Wegezeit sinnvoll zu nutzen, sich fortzubilden oder zu entspannen: Hörbücher im Auto hören, lesen im Zug, Fahrgemeinschaften bilden, zu Hause die Kinderbetreuung so organisieren, dass man weniger unter Druck gerät, wenn man sich mal verspätet.

fairkehr: Und was können die Unternehmen tun?

Schneider: Sie müssen flexiblere Arbeitszeiten anbieten, sich an den Kosten des Pendelns beteiligen, Heim- und Telearbeitsplätze anbieten. Interessant ist ein Phänomen bei Wochenendpendlern. Die empfinden das Pendeln als weniger schlimm, wenn sie freitags schon früh ins Wochenende gehen können oder sogar ganz frei haben. Als besonders belastend empfinden Wochenendpendler ihre Situation, wenn der Freitag ein voller Arbeitstag ist.

fairkehr: Was müsste sich auf Seiten der Politik ändern?

Schneider: Die Verkehrsinfrastruktur muss besser werden. Die Bahn baut seit Jahren den Fernverkehr aus und vernachlässigt den Regionalverkehr mit der Folge, dass Pendler leiden. Bei Bahnfahrern hat unsere Studie ergeben: Sobald jemand Umsteigen muss, erhöht sich automatisch die Belastung. Unannehmlichkeiten wie überfüllte Züge, ungünstige Fahrpläne, laute, stickige Wagen sorgen für zusätzlichen Stress.

fairkehr: Verursacht Autofahren mehr Pendelstress als Zugfahren?

Schneider: Das kann man so nicht sagen. Grundsätzliche Unterschiede zwischen Bahn- und Autofahrern konnten wir nicht feststellen. Es hängt wirklich sehr davon ab, was die Leute daraus machen. Unerwartete Staus, Nebel und Glatteis führen grundsätzlich dazu, dass die Belastung steigt.

fairkehr: Haben Sie einen Erste-Hilfe-Ratschlag für angehende Berufspendler?

Schneider: Wir haben bisher ja nur über die Probleme des Pendelns gesprochen. Für eine begrenzte Zeit, vielleicht bis zu zwei Jahren, würde ich sagen, kann das Pendeln auch eine berufliche und persönliche Chance sein. Wochenendpendeln ist oftmals die einzige Möglichkeit für hoch qualifizierte und spezialisierte Menschen, Partnerschaft und Berufstätigkeit zu vereinbaren. Wer vor der Pendlerfrage steht, sollte immer alle Varianten prüfen und sich dann fragen, welche die beste ist. Eigentümlicherweise ist für die meisten Fernpendler der Umzug als Alternative überhaupt nicht präsent. Sie nehmen das Pendeln einfach hin. Dabei verkraften Familien einen Umzug nach unseren Erfahrungen gut.

Interview: Valeska Zepp

Mehr lesen: Schneider, Limmer, Ruckdeschel: Mobil, flexibel, gebunden. Beruf und Familie in der mobilen Gesellschaft, Campus-Verlag 2002, 29,90 Euro. Infos im Internet unter:
www.soziologie.uni-mainz.de/schneider/wwwbmlf.html

 

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