Titel 6/2005

Pendler

Deutschland bewegt sich

Der moderne Mensch soll mobil und flexibel sein. Dies gilt in allen Lebenslagen, vor allem im Beruf. Die Arbeitnehmer von heute reisen dem Job hinterher – immer weiter, koste es, was es wolle. Es kann eine Chance darin liegen, sich zu verändern – viele Menschen empfinden das Pendeln aber als Stress. Wie lebt es sich, wenn Wohnort und Arbeit in zwei Welten liegen? Wer pendelt in Deutschland wohin und wie weit? fairkehr pendelt mit.

 

Foto: www.marcusgloger.de
Mit Zunahme der Billigflieger-Strecken in Deutschland ist auch das Flugzeug als Verkehrsmittel für Pendler im Kommen.

Etwa 30 Millionen Erwerbstätige in der Bundesrepublik sehen sich nach den Ergebnissen des Mikrozensus 2004, der jährlichen Haushaltsbefragung des Statistischen Bundesamts, als Berufspendler. Davon fahren 17 Prozent mehr als 25 Kilometer zur Arbeit, fünf Prozent legen über 50 Kilometer zurück. Meist genutztes Fortbewegungsmittel: das Auto.
Gut zwei Drittel der befragten Berufstätigen greifen auf den Pkw zurück. Fahrgemeinschaften spielen dabei eine verschwindend geringe Rolle: Lediglich drei Prozent der Pendler gelangen mit einem anderen Wagen als dem eigenen an ihren Arbeitsplatz. Öffentliche Verkehrsmittel benutzen 13 Prozent der Befragten – darunter elf Prozent Nahverkehrsmittel wie Bus, S- und U-Bahn und zwei Prozent Eisenbahn. 18 Prozent erreichen ihre Wirkungsstätte mit dem Fahrrad oder zu Fuß – natürlich hauptsächlich im Nahbereich unter zehn Kilometern. In diesem Bereich haben die meisten Erwerbstätigen nach wie vor ihren Arbeitsplatz: Mehr als die Hälfte sind Nahpendler. Allerdings hat sich seit 1996 der Anteil der Fernpendler mit einem Arbeitsweg von mehr als 50 Kilometern von vier auf fünf Prozent leicht erhöht. Bei solchen Distanzen kommt dem Auto eine überdurchschnittlich große Bedeutung zu: Mehr als 80 Prozent der Fernpendler fahren mit dem Pkw zur Arbeit. Tröstlich: Auch der Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel steigt bei diesen Entfernungen leicht an auf 16 Prozent. Hier spielt vor allem die Eisenbahn eine Rolle.

Die kleinen Unterschiede

Was die Demografen ebenfalls ermittelt haben: Je höher das Einkommen, desto beliebter ist das Auto als Pendelmittel und desto unattraktiver der öffentliche Verkehr. 78 Prozent der Befragten mit einem monatlichen Nettoeinkommen von mindestens 2900 Euro fahren mit dem Pkw zur Arbeit, nur neun Prozent mit Bus und Bahn. Von den Pendlern mit einem Nettoverdienst bis 500 Euro benutzt knapp die Hälfte einen Pkw, etwa ein Fünftel greift auf öffentliche Verkehrsmittel zurück. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass vor allem Führungskräfte ins Auto steigen, um ans berufliche Ziel zu gelangen: Rund drei Viertel der befragten höheren Angestellten und Beamten fahren mit dem Wagen vor. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass für solche Positionen – und dementsprechend mehr Gehalt – gern längere Anfahrtswege in Kauf genommen werden. Die wiederum begünstigen die Pkw-Nutzung.

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Als einen speziellen Fall behandelt der Mikrozensus 2004 die sogenannten Wochenendpendler: Männer und Frauen, die werktags am Arbeitsort wohnen und in ihrer Freizeit den Haupthaushalt heimsuchen, den sie gemeinsam mit Partner, Familie, Freunden führen. Knapp 360000 abhängig Beschäftigte fallen nach Angaben des Statistischen Bundesamts unter diesen Pendeltyp, vor allem Führungskräfte – und vor allem Männer: Sie stellen 60 Prozent des Wochenendheimkehrer-Kontingents. Unberücksichtigt bleiben in der Statistik Selbstständige, Studierende und Schüler. Die tatsächliche Zahl dürfte folglich um etliches höher liegen: Schätzungen gehen von mehr als einer Million Wochenendpendlern in Deutschland aus.

So weit die nackten Nummern – aber was bedeuten das allwochenendliche Pendeln und andere Arten von Mobilität für Partnerschaft, Familie und sonstige soziale Beziehungen? Das haben der Soziologieprofessor Norbert Schneider von der Universität Mainz sowie die Wissenschaftlerinnen Ruth Limmer vom Staatsinstitut für Familienforschung an der Uni Bamberg und Kerstin Ruckdeschel vom Wiesbadener Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums untersucht (siehe Interview). Die 2001 vorgestellte Studie unterscheidet zwischen fünf mobilen Lebensformen: Neben Wochenend- und Fernpendlern sind das Menschen in Fernbeziehungen, die jeweils einen eigenen Haushalt führen und keine gemeinsame Wohnung besitzen – darunter viele Studierende, sogenannte Varimobile, die zwar zusammen mit ihrem Partner einen Haupthaushalt haben, allerdings an wechselnden Orten arbeiten und während dieser Zeit in Übergangsquartieren wohnen – beispielsweise Manager, Piloten oder Pharmareferenten –, und Umzugsmobile, d.h. Paare, die einem Job dauerhaft hinterhergezogen sind.

Jeder sechste in einer Beziehung lebende Erwerbstätige ist aus beruflichen Gründen mobil, davon mehr als ein Drittel zwangsläufig, um überhaupt einen Job zu bekommen oder ihn zu behalten. Besonders häufig geben Wochenendpendler an (50 Prozent), dass sie sich zur Mobilität gezwungen fühlen. Lediglich ein weiteres Drittel der insgesamt Befragten reist seiner Arbeit vollkommen freiwillig hinterher.

Mobil um jeden Preis?

In der Konsequenz berichten fast 70 Prozent aller mobilen Berufstätigen von psychischen und körperlichen Belastungen, die unter anderem durch das Fahren an sich, durch Zeitmangel, den Verlust sozialer Kontakte oder die Entfremdung von Kind und Partner hervorgerufen werden. Auch zwei Drittel der Lebensgefährten mobiler Broterwerber fühlen sich durch deren Pendeldasein beeinträchtigt.

„Berufliche Mobilität kann für den Einzelnen und die Gesellschaft erhebliche Vorteile, aber auch massive Belastungen mit sich bringen“, beschreibt Familienforscherin Ruth Limmer die Ambivalenz der von Erwerbstätigen zunehmend geforderten Flexibilität. Es komme darauf an, in welcher Lebensphase, über welchen Zeitraum hinweg und unter welchen organisatorischen und familiären Rahmenbedingungen ein Mensch mobil sein müsse. Entscheidend ist beispielsweise, wie frei sich der Betroffene seine Arbeitszeit einteilen kann, ob der Partner ebenfalls einen Job hat oder ob Kinder im Haushalt leben. Limmers Fazit: „Es wäre unsinnig, von allen Erwerbstätigen eine hohe Mobilitätsbereitschaft zu verlangen. Die unerwünschten Nebenwirkungen würden unsere Gesellschaft mehr belasten als Vorteile bringen. So hat berufliche Mobilität bei Frauen bislang häufig zur Folge, dass der Wunsch nach Kindern nicht realisiert wird.“

Kirsten Lange

 

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