Editorial 6/05
 

Immer unterwegs

 
Michael Adler

Foto: www.marcusgloger.de

Mein Großvater hat 47 Jahre in ein und derselben Zuckerfabrik gearbeitet und 87 Jahre im gleichen Haus gelebt. Er ist im Urlaub nie weggefahren. Der einzige Anlass, der ihn in die Ferne trieb, war der Krieg. Er war wahrlich kein Kosmopolit, aber er war zufrieden.

Wie viel Mobilität verträgt der Mensch? Und, wie viel Heimat braucht der Mensch?

Seit 6000 Jahren ist der Mensch in unserer Zivilisation vorwiegend sesshaft. Der Globalisierungstrend der Wirtschaft löst bis in die letzte Generation gültige Gewissheiten auf. Autos werden in anderen Weltteilen preiswerter gebaut als bei uns, teilweise auch schon besser. Kohle gibt’s auf dem Weltmarkt billiger als in Gelsenkirchen. Neuseeländische Kiwi und chilenische Äpfel verdrängen heimische Obstsorten vom Markt. Immer mehr Menschen müssen sich immer weiter bewegen, um Lohn und Brot zu finden.

Freizügigkeit ist ein demokratisches Grundrecht. Jeder Bürger kann seinen Wohnort frei wählen. In unseren modernen Zeiten wird aus dem Recht nur allzu oft ein Zwang. 360000 Menschen pendeln in Deutschland zwischen einem fernen Arbeitsplatz und einer Wochenend-Heimat. Selbständige, Studenten und Schüler werden in dieser Statistik nicht erfasst, auch nicht diejenigen Berufe, in denen man einfach viel unterwegs ist. Schätzungen gehen von mehr als einer Million Wochenendpendlern aus. Job-Nomaden, die ihre Sesshaftigkeit aufgegeben haben, viele unfreiwillig.

Diese Menschen leben nicht gesund. Der Mainzer Soziologe Norbert Schneider hat erforscht, dass Fernpendler häufig unter Schlafstörungen, Erschöpfungszuständen und Depressionen leiden. Ursache ist die chronische Zeitknappheit. Sie sind immer in Eile und kommen doch überall zu spät, am Arbeitsplatz wie zu Hause. Je länger die zurückgelegte Strecke, desto geringer ist denn auch die Lebenszufriedenheit.

Oft verhindert die räumliche Unsicherheit schon die Gründung einer Familie. Die weltweite Studie „Globalife“ hat herausgefunden, dass junge Erwachsene längerfristige Bindungen immer später eingehen, weil sie buchstäblich noch nicht wissen, wo sie hingehören.

Wem nützt also der allgegenwärtige Zwang zur Mobilität? Den Pendlern selbst am wenigsten. Der Wirtschaft wohl auch nicht, arbeiten doch ausgeruhte und zufriedene Angestellte besser. Die Vorbilder sind in diesem Thema falsch gesetzt. Wer ständig unterwegs ist, mit Laptop, Palm-Organizer und Miles-and-More-Konto, der hat es geschafft. Eigentlich ist es fast schon egal, was er oder sie auf Reisen tut.

Der Lebensentwurf meines Großvaters mag für viele nicht mehr passen, auch für mich nicht. Doch ich lerne daraus, dass der Mensch ein paar Konstanten zum zufriedenen Leben braucht. Es lohnt sich dafür zu streiten. Denken Sie daran, wenn Ihnen das nächste Mal jemand erklären will, dass nur das Leben aus dem Koffer wirklich modern ist.

Frohe Weihnachtstage und einen guten Jahresanfang wünscht Ihnen Ihr

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