Titel 5/2005

Autofreie Wohngebiete

Spiel- statt Stellplätze

Etwa ein Dutzend autofreie Wohngebiete gibt es bislang in Deutschland, vor allem in größeren Städten wie Hamburg, Freiburg oder München. Viele Landesbauordnungen und kommunale Satzungen behandeln sie als Sonderfall. Hauptschwierigkeit dabei: der Umgang mit der Stellplatzpflicht.

 

Das wegen nicht gebauter Parkplätze eingesparte Geld kann in Gemeinschaftsprojekte fließen.

Wo eine Wohnung entsteht, da muss auch ein Autostellplatz hin – so steht es in den meisten Landesbauordnungen. Grund: Die Fahrzeuge sollen nicht „wild“ im öffentlichen Raum parken, sondern bitte dort, wo ihre Besitzer leben. Als Anfang der 90er-Jahre die ersten autofreien Siedlungen in Deutschland entstanden, war die restriktiv ausgelegte Stellplatzpflicht eine große Hürde für die Projekte: Warum sollte für mehrere zehntausend Mark eine Parkmöglichkeit pro Wohneinheit errichtet werden, wenn die Bewohner doch gar kein Auto besaßen? „Mittlerweile sind die Bauordnungen jedoch kein Hindernis mehr“, sagt Ulrike Reutter vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes NRW (ILS), das autofreie Wohnformen seit etwa 15 Jahren begleitet. „Wenn eine Interessentengruppe ein schlüssiges Konzept für ein Projekt vorlegt und die Investoren begründen, weshalb sie weniger Parkmöglichkeiten benötigen, als es der Richtwert in der Landesbauordnung vorsieht, dann dürfen die Kommunen den Stellplatzschlüssel reduzieren“, erklärt das Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des VCD. In Berlin ist die Stellplatzpflicht 1997 sogar bis auf wenige Ausnahmen abgeschafft worden.


Wo Parkplätze fehlen, gibt es mehr Platz für Menschen.

Diese Lockerungen erleichtern zwar die Verwirklichung autofreier Wohnviertel, auf langwierige Verhandlungen mit der örtlichen Politik und Verwaltung müssen sich die Projektinitiatoren dennoch einstellen. „Formal legt die Kommune den reduzierten Stellplatzschlüssel im Bebauungsplan für das jeweilige Grundstück fest“, erläutert Henrik Freudenau, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim ILS NRW. „Dem geht allerdings ein Begründungsprozess zwischen Baubehörde und Bauherr voraus.“ Und der kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Denn, so Freudenau: „Autofreies Wohnen kommt in der Genehmigungspraxis der Baubehörden nicht vor und wird somit zum erklärungsbedürftigen Sonderfall.“ Sowohl Verwaltungsmitarbeiter als auch Politiker wüssten meist nur wenig darüber, das sei ein großes Hindernis.

Markus Heller hält deshalb Lobbyarbeit für elementar. Er ist Architekt und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Autofreies Wohnen Berlin, die sich für ein Projekt an der Panke einsetzt. „Man muss immer wieder den Kontakt zu örtlichen Politikern suchen, ihnen das Prinzip »autofreies Wohnen« erklären und näher bringen. Informationsarbeit ist äußerst wichtig“, betont Heller.

Stellplätze für die Wechselfälle des Lebens

Das kann Rainer Licht von der Hamburger Genossenschaft Wohnwarft und Mitinitiator der Siedlung Saarlandstraße nur bestätigen. Bereits Anfang der 90er-Jahre bemühte sich die Genossenschaft gemeinsam mit dem Verein Autofreies Wohnen um ein brach liegendes ehemaliges Industriegrundstück im zentral gelegenen Stadtteil Barmbek, das der alte Bebauungsplan aus den 60er-Jahren ausgerechnet für ein Stadtautobahndreieck vorsah. Drei Jahre dauerte es, bis die Verwaltung 1997 einen neuen Bebauungsplan beschloss. „Es gab etliche Hürden zu überwinden“, sagt Licht. Doch der Einsatz der Initiatoren für das Hamburger Pilotprojekt hat sich gelohnt: Die Baubehörde genehmigte einen Schlüssel von 0,15 Stellplätzen pro Wohnung und alle 110 Einheiten des ersten Bauabschnittes sind bezogen.

In der Regel liegt der Schlüssel für autofreie Siedlungen bei 0,2 statt bei einem Stellplatz je Wohneinheit, wie in konventionellen Neubaugebieten üblich. Das bedeutet 80 Prozent mehr Raum für Grünflächen und Spielplätze und bringt darüber hinaus Bauherren und Wohnungseigentümern direkte finanzielle Vorteile: Sie müssen einen nur geringen Stellplatzanteil zahlen, was sich auf die Baukosten bzw. den Kaufpreis auswirkt. Die eingesparten Summen fließen oftmals in Gemeinschaftsprojekte. Die Hamburger Genossenschaft Wohnwarft beispielsweise hat das Geld in einen Fahrstuhl investiert, mit dessen Hilfe 60 Prozent ihrer Wohnungen barrierefrei zu erreichen sind. „Das ist uns wichtig, da die meisten Mieter auch noch im Alter hier leben wollen“, erklärt Rainer Licht.

Nachbarschaftliches Miteinander als Erfolgsgarantie

Komplett darf in autofreien Siedlungen auf Parkmöglichkeiten nicht verzichtet werden: Sie sind vorgesehen für Lieferverkehr, Car-Sharing-Fahrzeuge und sogenannte Wechselfälle des Lebens – falls ein Bewohner beispielsweise wegen Krankheit oder Behinderung zeitweise oder dauerhaft auf ein Auto angewiesen ist.

Und was geschieht, wenn sich doch so viele Menschen im Viertel gegen die Pkw-Abstinenz entscheiden, dass die zur Verfügung stehenden Stellplätze nicht mehr ausreichen und neue gebaut werden müssen? Dann sind zunächst die jeweiligen Bauherren bzw. Eigentümer und Vermieter gegenüber der Kommune in der Pflicht: Sie müssen für die Errichtung der Parkmöglichkeiten Ausgleichsbeträge zahlen. Damit die Vermieter jedoch nicht auf den finanziellen Forderungen sitzen bleiben, schließen sie privatrechtliche Verträge, beispielsweise Mietvereinbarungen, mit den Bewohnern ab. Darin ist in der Regel festgelegt, dass diejenigen, die sich ein Auto anschaffen, auch für die Kosten des Stellplatzbaus aufkommen müssen. Die Initiatoren des autofreien Projekts Gartensiedlung Weißenburg in Münster gehen sogar noch einen Schritt weiter: Kauft sich dort ein Mieter ohne Ausnahmegenehmigung ein Fahrzeug, muss er ausziehen.

Damit es gar nicht erst zu solchen Sanktionen kommt, schließen sich die Bewohner häufig in Organisationen mit unterschiedlichen Rechtsformen zusammen, beispielsweise in Vereinen oder Genossenschaften. Diese entscheiden, teilweise in eigens eingerichteten Schlichtungsstellen, unter anderem darüber, in welchen Fällen ein Pkw benutzt werden darf. Abweichungen von rechtlichen Vereinbarungen werden also zunächst untereinander geregelt.

Auch wenn er den Ausdruck „soziale Kontrolle“ nicht gern benutzt, findet Rainer Licht von der Hamburger Wohnwarft ein solches nachbarschaftliches Miteinander und das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen entscheidend für den Erfolg des Projekts Saarlandstraße. Er berichtet von einer jungen Mieterin, die die Siedlung von sich aus verließ, als ihr Partner mit ihr zusammen ziehen wollte. Der hatte ein Auto und mochte auch nicht darauf verzichten. Die Frau stand vor der Wahl: Autofreiheit oder Freund? Licht mit einem Augenzwinkern: „Sie hat sich für den Freund entschieden.“

Kirsten Lange

Die Projekte im Überblick:
www.autofrei-wohnen.de
www.autofrei.de
www.autofreie-siedlung-koeln.de

 

  • Betreiber- und selbstverwaltete Modelle
    Betreibermodelle werden von Wohnungsunternehmen mit primär wirtschaftlicher Zielsetzung realisiert. Die späteren Bewohner können nur in geringem Umfang mitbestimmen. Sie gehen in der Regel ein Mietverhältnis ein. Beispiele sind die Garten-siedlung Weißenburg in Münster oder das Wohnprojekt Unterneustadt in Kassel.
    In selbstverwalteten Modellen planen und realisieren die späteren Bewohner die autofreie Siedlung selbst. In Eigenregie werden mögliche Wohninteressenten angesprochen, geeignete Baugrundstücke gesucht, rechtliche Konstrukte mit den Baubehörden ausgehandelt, bauliche Entwürfe in Auftrag gegeben und Finanzierungsmodelle für die zumeist Eigentums- oder Genossenschaftswohnungen aufgestellt. Beispiele sind die Hamburger Siedlung in der Saarlandstraße und das Projekt in München-Riem.
  • Von autofreien bis zu gemischten Formen
    Autofrei: 0,1 bis 0,2 Stellplätze pro Wohneinheit, im Quartier ist kein Privatverkehr erlaubt, der Verzicht auf den Pkw ist verpflichtend.
    Autoarm: Wie in verkehrsberuhigten Gebieten gibt es keinen durchgehenden Pkw-Verkehr. Es werden Anreize zum Verzicht aufs Auto gegeben, er ist jedoch nicht verbindlich. Der Schlüssel liegt bei 0,3 bis 0,7 Stellplätzen je Wohnung.
    Optisch autofrei: Geparkt wird am Rande der Viertels oder in Tiefgaragen. Privatverkehr im Quartier ist verboten. Der Stellplatzschlüssel wird nicht reduziert.
    Mischformen: Paradebeispiel hierfür ist Freiburg-Vauban. Das Viertel besteht aus autofreien und konventionellen Haushalten mit jeweils verschiedenen vertraglichen Bindungen. Es gibt wenig Privatverkehr in Vauban, die Stellplätze befinden sich am Quartiersrand.

 

 

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