Reise 5/2005BregenzerWaldDie unglaubliche Schwerelosigkeit beim SkifahrenVorsicht: Rauschgefahr! Die Kurse des österreichischen Tänzers und Skilehrers Michael Widmer-Willam bewahren einen vor Kraftmeierei und Muskelkater. Dafür setzen sie jede Menge Glücksgefühle frei.
„Es ist wie fliegen“, sagt er und macht vor, wie er das meint. Er streckt die Arme weit nach außen, bewegt die Hände mit den abgespreizten Fingern. Dann stößt er sich mit zwei, drei Schlittschuhschritten ab und gleitet in weiten Kurven majestätisch und schwerelos den Hang hinunter. Ein kollektiver Seufzer folgt ihm. Einmal so Skifahren können … Michael Widmer-Willam ist Tänzer – und Skilehrer. Er unterrichtet Anfänger und Asse, Ängstliche und Verwegene, Büromenschen und Bewegungstalente. Er hat ein System entwickelt, eine neue Skipädagogik, die sich aus den Erfahrungen beider seiner Disziplinen speist und ein spielerisches und tänzerisch-leichtes Skifahren zum Ziel hat. Ein Schüler nach dem anderen fährt hinter dem Skilehrer her und versucht das Bewegungsmuster zu kopieren: Schräg am Hang entlang gleiten, dann hoch aufrichten, die Arme weit ausbreiten, als wollte man die ganze Bergwelt umarmen und dann – eine Hand Richtung Himmel, eine Hand Richtung Boden – das Körpergewicht in die Kurve sinken lassen, dahin, wo es sowieso hin möchte: zum Tal hinunter. „Sabine, deine Zehen sind verkrampft!“, ruft Michael einer Teilnehmerin durchs Schneetreiben entgegen. Mit einem gewagten Schwung kommt sie neben ihm zu stehen und schaut auf ihre klobigen Skistiefel: „Woher weißt du das?“ Michael malt mit einer Geste die Haltung ihres Oberkörpers nach: „Das sehe ich an der Haltung deines Oberkörpers." Bei manchen Übungen weiß der Körper gleich, was gemeint ist. Es fühlt sich richtiger an, wenn der Bergski leicht nach vorne geht oder der Arm in der Kurve wie beim Walzertanzen den Schwung mitnimmt. Bei anderen Anweisungen fängt der Kopf an zu arbeiten und versteht nicht und kann nicht umsetzen. Dann verkrampfen nicht nur die Zehen, und das schöne Gleichgewicht ist dahin. Widmer-Willam beaobachtet aufmerksam. Er sieht sofort, wenn einer seiner Zöglinge aus dem Rhythmus kommt, und er kommt zu Hilfe, bietet ein neues Bild an, dirigiert mit Handbewegungen oder fährt einfach ein Stückchen vor einem her, bis das Gefühl wieder da ist: Jetzt ist die Bewegung im Fluss. Nicht nur Anfänger, auch geübte Skifahrer pilgerten in der vergangenen Saison in den Bregenzerwald, um in einem der Ski!Projekt-Kurse an ihrem Fahrkönnen zu feilen. Entspannte Bewegungsabläufe und vor allem der Spaß am Spiel mit der Schwerkraft sind Ziel allen Übens. Die Lehrer der unkonventionellen Skischule nutzen ihr breites Bewegungswissen, um jedem Schüler optimal weiterzuhelfen. Ein Feldenkrais-Lehrer betreut die Kurse für Tourengeher und Freerider und vermittelt kraftsparende Aufstiegstechniken. Vorsichtige Wiedereinsteiger nach einer Verletzungspause werden von einer Physiotherapeutin mit medizinischem Fachwissen gecoacht. „Die meisten, die zu mir kommen, arbeiten im Büro und sitzen den ganzen Tag. Sie müssen viele Bewegungsabläufe erst wieder lernen.“ Wie bei einer Tanzchoreografie teilt Widmer-Willam, der an der Kunsthochschule im niederländischen Arnhem seine Ausbildung gemacht hat, diese Bewegungsabläufe in einzelne erfassbare Lernschritte ein. „Ein Tänzer setzt eine Tanzperformance auch nicht an einem Tag um“, erklärt er. „Er überlegt sich, was er ausdrücken will, übt einzelne Sequenzen und verbindet erst zum Schluss alles zu einem in sich stimmigen Ablauf.“ Für die Kursteilnehmer ist der Skihang die Bühne, auf der sie ihren „Tanz“ zur Aufführung bringen werden. Was sie dort umsetzen wollen, entscheiden sie selbst. „Mein Mann fährt sehr gut Ski. Ich möchte endlich besser mit ihm mithalten können“, formuliert Gaby ihr Kursziel. Sabine liebäugelt damit, ihren Gleitschirm auch mal mit Skiern starten zu können, und Hannes möchte nach 25 Jahren ohne Skifahren einfach mal ausprobieren, ob er es noch kann. Trockenübungen im StudioDamit die Teilnehmer die Bewegungsabläufe beim Skifahren leichter lernen, hat Michael Widmer-Willam den Skikurs zweigeteilt. Der eine Teil findet „auf dem Trockenen“ im Studio statt. In kleinen aufeinander aufbauenden Übungen vermittelt er hier im sonnendurchfluteten Gemeindesaal des Ortes Au eine Ahnung davon, wie sich harmonisches, flüssiges Skifahren anfühlen soll. Das Spiel mit der Schwerkraft, das richtige Momentum, das Loslassen des Körpergewichts, ist eines der Hauptanliegen Widmer-Willams. „Nur wer sich richtig in die Drehung fallen lassen kann, kommt auf Skiern auch gut um die Kurve“, sagt er. Um ein Gefühl dafür zu entwickeln, lässt er die Kursteilnehmer auf einer aus Decken ausgelegten Rollbahn um die eigene Achse rotieren. Rollen, abbremsen, beschleunigen, solange bis der Körper verinnerlicht hat, was gemeint ist.
„Ich seh’s dir an, Gaby! Du fragst dich: »Was hat das hier mit Skifahren zu tun?«“, grinst Michael eine Teilnehmerin an, die mit deutlichen Zweifeln im Gesicht am Rollbahnrand kniet. „Mein Mann lacht sich kaputt, wenn ich ihm abends erzähle, was wir hier machen“, sagt die Zweifelnde. „Er glaubt nicht, dass ich so jemals Skifahren lerne.“ Gaby hat den Kurs übers Internet gebucht. Sie wohnt in der Nähe von Bregenz und suchte einfach irgendeinen Wochenkurs in der Region. Dass sie mit Michael zwei von sechs Kursstunden nicht auf Skiern, sondern im Studio und zwei von fünf Kurstagen nicht auf der schwarzen Piste, sondern auf dem „Idiotenhügel“ verbringen würde, war ihr beim Buchen nicht klar. Aber sie zügelt ihre Ungeduld und lässt sich erst einmal auf das Experiment ein. Auch wenn man anfangs nicht absehen kann, ob man nach der Ski!Projekt-Methode tatsächlich besser Skifahren lernt, lässt man sich gerne auf den Versuch ein. Die Körperarbeit macht Spaß, tut gut und bringt auch für gut trainierte Teilnehmer überraschende Beweglichkeitsfortschritte.
Nach zwei Tagen sanfter Vorbereitung auf dem fast menschenleeren Übungshang kommt die Probe aufs Exempel: Der Himmel ist strahlend blau, der Neuschnee vom Vortag glitzert in der Sonne und das aufgeregte Grüppchen schwebt mit der Gondel hoch zum 2090 Meter hohen Diedamskopf. Bis zum Horizont reihen sich Gipfel an Gipfel – ideale Bedingungen, um das Geübte nun auch auf „echten“ Pisten umzusetzen. „Es ist ein bisschen steiler hier, das ist aber auch schon der ganze Unterschied“, ermutigt Widmer, bevor es losgeht. Viele Skifahrer auf der Piste bleiben stehen und schauen interessiert zu, wie die Widmersche Gruppe den Hang hinunter segelt. Ohne Skistöcke, mit weit ausgebreiteten Armen und weit ausholenden Schwüngen lassen sich die Schüler dem Tal entgegenfallen. Unruhe im SkischulverbandDie Kollegen der lokalen Skischule beäugen die pädagogischen Ansätze des tanzenden Kollegen misstrauisch. Er trägt zwar wie sie die auffällige rote Uniform der lokalen Skischule, geht aber pädagogisch seinen eigenen Weg. Nachdem Widmer-Willam lange Jahre in Lech am Arlberg als ganz normaler Skilehrer die Flagge des Österreichischen Skischulverbands hochhielt, sorgt er nun für Unruhe in den eigenen Reihen. Letzten Sommer musste er den Ort im Montafon, in dem er sein Kurskonzept zur ersten Reife brachte, verlassen. Obwohl die Landesregierung sein Ski!Projekt mit dem Tourismus-Innovationspreis auszeichnete und das Programm erfolgreich lief, blieb ungewiss, ob und wie das Programm überleben sollte. So kam das Angebot der Skischule von Au-Schoppernau gerade recht. Ulrike Marte vom Toursimusverband Bregenzerwald freut sich über die neue Errungenschaft und setzt die ungewöhnlichen Skikurse als Hingucker bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit ein. „Wir hoffen, gerade durch das individuelle Konzept neue Kunden auf unsere Region aufmerksam machen zu können“, sagt Ulrike Marte. Sie weiß, dass der Bregenzerwald nicht Zermatt ist und auch nicht Sankt Anton. Die gemütliche, familienfreundliche Skiregion kann ein bisschen Extra-Werbung durch einen öffentlichkeitswirksamen Skikurs gut gebrauchen. Auch die lokalen Verkehrsbetriebe unterstützen Widmer-Willam gern, denn er wirbt bei seinen Kunden offensiv für die Anreise mit Bus und Bahn. (siehe Kasten) Er selbst vermutet noch einen weiteren Grund für die breite Unterstützung, die seine Arbeit außerhalb des Skiimperiums erfährt: „Ich glaube, viele haben einfach keine Lust mehr auf den üblichen Skizirkus, wo es nur um Mut, Leistung und Kraftmeierei geht. Was uns vor allem von einer herkömmlichen Skischule unterscheidet, ist nicht die Technik, sondern der Spaß, den die Teilnehmer beim Skifahren haben.“ Seliges Strahlen, wenn ein Schwung besonders gut geklappt hat, Jubel nach einer rundum harmonischen Abfahrt, Freudentänze, wenn endlich der Knoten platzt. Und der Lehrer freut sich mindestens genauso wie die Schüler. „Jetzt hab ich’s verstanden, das ist ja ganz leicht“, jubelt eine Teilnehmerin und kurvt elegant den Hang hinunter. „Da machst du mir das schönste Sonntagsgeschenk“, sagt Michael Widmer-Willam und strahlt als ob er selbst gerade eben das Skifahren gelernt hätte. Regine Gwinner
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