Politik 3/2005

Psychomotorik

Bewegung macht schlau

Rund um die Bewegung und Persönlichkeit von Kindern dreht sich das Gesamtkonzept des psychomotorischen Kindergartens „Wolke 7“. Es soll die Bewegungsdefizite von Stadtkindern ausgleichen und kleinen Stubenhockern wieder auf die Sprünge helfen.

Fotos: Marcus Gloger   

 

Andrea versucht den Gipfel zu stürmen. Sie nimmt Anlauf, zieht sich hoch, hängt in der steilen Wand, findet keinen Halt und rutscht wieder zurück. „Ich schwitze!“, ruft sie und nimmt ihre Brille ab. Ein neuer Anlauf: Mit viel Schwung klettert sie die Steilwand hinauf, packt das raue Seil und zieht sich kraftvoll nach oben. Diesmal siegt der Ehrgeiz. Barfuß in T-Shirt und Spielhose strahlt das Mädchen auf die Zuschauer herab. Andreas Berg steht nicht in den Alpen, sondern in einem Wohngebiet des Bonner Stadtteils Kessenich. Keine schroffen Felswände ragen in den Himmel. Hier wartet ein Gebirge aus Turnmatten darauf, erklommen zu werden.

Das Mädchen mit den blonden Locken ist eines von 90 Kindern der Kindertagesstätte „Wolke 7“. Hier dreht sich alles um ein besonderes Konzept: die Psychomotorik. Schon das Wort drückt die Überzeugung aus, dass seelische und körperliche Entwicklung in enger Beziehung zueinander stehen. Erzieher und Lehrer wissen, wie wichtig Bewegung für die Entwicklung und die Gesundheit des Nachwuchses ist. Sie klagen über übergewichtige Kinder, die den ganzen Tag vorm Computer hängen, im Schulsport Probleme haben und nicht mehr Rückwärtslaufen können. Das Konzept der Psychomotorik versucht, mangelnder Bewegungs- und Sozialerfahrung von Kindern entgegenzuwirken: Mit einer Verbindung aus Bewegung und Spiel, in der alle Sinne eingesetzt und die eigenen Grenzen bewusst überschritten werden sollen.
Das Toben, Lachen und Schreien ist an diesem Nachmittag schon von der Straße aus zu hören. Öffnet man die Eingangstür von „Wolke 7“, steigt der Lärmpegel noch um etliche Dezibel. An den Wänden des weitläufigen runden Eingangsbereichs hängt ein buntes Chaos aus nassen Regenmänteln und schlammigen Gummistiefeln. Trotz des schlechten Wetters haben die Kinder den Vormittag im Garten verbracht.

Turnmatte statt Steilwand: Mit fantasievollen Geräteaufbauten versuchen die Pädagogen Alltagsherausforderungen nachzustellen.

 

„Raumerfahrung ist für Kinder sehr wichtig“, erklärt die Leiterin Dorothee Oprach das Konzept der psychomotorischen Kindertagesstätte. „Die meisten Kinder sind Stadtkinder, werden von A nach B gefahren und haben oft gar nicht die Möglichkeit, zu Fuß zu gehen.“ Hier im Kindergarten sollen sie das erleben, was im Stadtalltag nicht mehr möglich zu sein scheint: barfuß laufen, klettern, toben oder sich im Matsch dreckig machen. „Erfahrungen, die Kinder brauchen, um auch in der Schule zu bestehen“, so die Leiterin. Die Sozialpädagogin leitet „Wolke 7“ seit zwei Jahren. 1997 vom Förderverein Psychomotorik Bonn eröffnet war die Einrichtung bundesweit die erste mit psychomotorischem Gesamtkonzept.
Im Bewegungsraum ist es plötzlich ganz still. Mehrere Kinder versuchen, die Kostbarkeiten des Schatzhüters zu stehlen, ohne ihn aufzuwecken. Auf Zehenspitzen schleichen sie sich an den Schlafenden heran, schnappen seine Schätze – große Garnrollen aus rotem, blauem und gelbem Kunststoff – als der Wächter plötzlich erwacht und unter Protestgeschrei hinter ihnen her stürmt. Kreischend fliehen die Diebe in alle Richtungen. Wächter Hans-Jürgen Beins, im wahren Leben Sportpädagoge und Leiter der Rheinischen Akademie Bonn, betreut jede Woche mehrere Fördergruppen im Bewegungsraum des Kindergartens. Die Rheinische Akademie bietet psychomotorische Weiterbildungen und Kurse an und arbeitet eng mit „Wolke 7“ zusammen. Alle Kita-Mitarbeiter haben eine psychomotorische Zusatzqualifikation.

Ganz schön verzwickt: Wie wird aus ein paar Reifen eine Skulptur?

 

Durchgängiges Konzept

„Das Wichtigste an dieser Einrichtung ist, dass sie ein durchgängiges Konzept hat und nicht nur hier und da eine Bewegungsstunde“, erklärt Beins und wendet sich wieder der Gruppe zu. Bewusst eher spärlich eingerichtet, bietet der Bewegungsraum viel Platz zum Toben und Klettern, aber auch für Geschicklichkeitsspiele wie Hindernisläufe, Pyramidenbauen oder Zielwerfen. In den kleinen Gruppen können Kinder noch gezielter gefördert werden – vor allem, wenn sie sehr ängstlich sind oder Schwierigkeiten mit der Feinmotorik haben. Doch „Wolke 7“ ist keine spezielle Fördereinrichtung, sondern eine Kita, die versucht, „ganz normale“ Kindergartenkinder bestmöglich zu fördern. „Es ist wichtig, die Persönlichkeit und Kompetenzen der Kinder über Körper-, Material- und Sozialerfahrungen zu stärken“, erklärt Dorothee Oprach. Dabei werden Alltagsgegenstände zum Spielzeug umfunktioniert: von Leitern, Bürsten und Steinen bis hin zu Zeitungen oder Wäscheklammern. Turnhalleninventar verwandelt sich mit Hilfe der Erzieherinnen in Abenteuerspielplätze, deren Schwierigkeitsgrad mit jedem Aufbau erhöht wird. Auch spezielle psychomotorische Geräte kommen zum Einsatz. Zum Beispiel das Varussell, eine Drehscheibe zum Draufsetzen, -stellen und -legen, die den Gleichgewichtssinn schult.

Überall gibt es Platz für Bewegung. In alle vier Gruppenräume wurden Klettergeräte aus Holz integriert, die man sonst nur auf Spielplätzen findet: Netze, Kletterseile, Höhlen. Jeder Raum steht unter einem ganz bestimmten Motto. Im Rollenspielraum inszenieren die Kinder Bewegungsgeschichten und kleine Theaterstücke, fantastische Bauten entstehen im Bau- und Konstruktionsraum. Wer lieber seine künstlerische Ader ausleben möchte, kann das im Atelier mit Werkstatt – auch mit richtigem Werkzeug. Wem der Trubel zu viel wird, der kann auch mal eine Auszeit nehmen: So wie die Mädchen im Entspannungsraum, die sich jetzt, versteckt in ihrer Höhle aus Tischen und Tüchern, Geschichten erzählen.

„Die Kinder wissen in der Regel selber, was sie können und was sie nicht können“, erklärt Dorothee Oprach. Deshalb ist es wichtig, eigene Erfahrungen zuzulassen und die Kinder genau zu beobachten, damit sie gezielt gefördert werden können. Im Kindergarten üben sie sicheres Verhalten und Bewegungsabläufe, damit weniger Unfälle passieren.

Daher ist Psychomotorik auch gleichzeitig Gesundheitsprävention: „Wir haben hier kein einziges übergewichtiges Kind“, freut sich Dorothee Oprach. Das Konzept konzentriert sich auf die Stärken der Kinder, mit Erfolg: „Wenn sie merken, ‘Ich kann etwas’, trauen sich die Kinder im Alltag mehr Dinge zu, erklärt Sportpädagoge Beins. „Sie wagen sich dann auch auf die hohe Schaukel und nehmen eher Kontakte mit anderen Kindern auf.“ Immer mehr Kindergärten haben das erkannt und arbeiten mit ähnlichen Methoden.

Psychomotorik – eine notwendige Maßnahme in einer Gesellschaft, die Kindern selbstverständliche Erfahrungen vorenthält? Wo Eltern vormachen, dass Fernsehen mehr Spaß macht als Draußensein und Autofahren bequemer ist als Radfahren, hat auch der beste Kindergarten keinen Erfolg.
Um halb fünf kehrt langsam Ruhe ein auf „Wolke 7“. Nach und nach holen die Eltern ihre Kinder ab. Die meisten kommen aus den angrenzenden Wohngebieten. Darauf legt man in der Kita Wert, um den Kindern einen langen Weg zu ersparen. Trotzdem warten mehrere Autos vor der Einfahrt und verstopfen so kurzzeitig die ruhige Spielstraße. „Ein Problem unserer Zeit: Aus zunehmendem Zeitdruck werden viele Kinder auch kurze Wege gefahren“, stellt die Leiterin von „Wolke 7“ fest. Für die Kinder eine alltägliche Raum- und Bewegungserfahrung weniger. Schade eigentlich.

Caroline Conradt
www.kita-wolke7.de
www.psychomotorik-bonn.de

 

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