Titel 6/2004

Reportage

Mitten im Leben

Benjamin Putsch sitzt seit zehn Jahren im Rollstuhl. Er studiert Informatik, spielt Rollstuhlrugby auf paralympischem Niveau und schaut positiv in die Zukunft. fairkehr-Chefredakteur Michael Adler ging mit ihm auf Erfahrungstour durch Köln.

Fotos: Stephan Sonntag                           
Der passende Rollstuhl: Nicht groß und behäbig, sondern leicht und wendig muss er sein.

„Karierte Decke über’n Schoß und das Leben ist vorbei. So ist doch die landläufige Vorstellung vom Leben im Rollstuhl“, empört sich Horst Strohkendl. Ortstermin an der heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln. Horst Strohkendl ist hier Dozent. Außerdem bin ich mit Benjamin Putsch verabredet. Der 26-jährige Student stürzte mit 15 beim Skifahren. Die Diagnose war eindeutig: querschnittsgelähmt. Das Leben im Rollstuhl war besiegelt.

Putsch und Strohkendl sollen mir das Rollstuhlfahren beibringen. Horst Strohkendl ist nicht nur Dozent an der Uni, er ist mit Leidenschaft Ausbilder beim Kölner Verein für Rollstuhlrugby. Er rollt einen leichten Sportrollstuhl heran und gibt klare Kommandos: „Legen Sie Ihren Block weg, ziehen Sie die Jacke aus!“ Ein Rollstuhl müsse passen, doziert Strohkendl. Meist würden breite, unbewegliche „Krankentransporter“ verkauft mit viel Platz für Jacke oder Tasche. Das Ergebnis sei fast immer dasselbe: unhandliche, schwere Rollstühle, die die Beweglichkeit des Behinderten eher verhindern, statt sie zu befördern. „Legen Sie den Daumen seitlich um die zur Faust geschlossenen Finger“, erklärt Strohkendl. „Greifen Sie den Greifreifen am höchsten Punkt, beugen Sie den Oberkörper nach vorne und schieben Sie mit beiden Armen gleichzeitig. Wiederholen Sie das!“

„Das geht viel leichter, als ich gedacht habe“, ist mein erster Gedanke. Eine halbe Stunde übe ich Kurven und rückwärts fahren, bremsen, Randsteine überwinden und – das Schwierigste für Anfänger – Türen öffnen. Strohkendl instruiert leidenschaftlich. Sein Ziel ist es, den Rollstuhl nicht als tristes Ende aller selbständiger Bewegung zu zeigen, sondern als probates Vehikel einer neuen Art von Fortbewegung. „Das Entscheidende spielt sich doch in der Psyche von traumatisierten Unfallgeschädigten ab“, erklärt der Sportlehrer. In der Klinik werde ihnen vom ersten Tag an erklärt, dass sie krank seien. Von Chancen, Beweglichkeit, gar von Sport, Erfolg, Selbstwertgefühl und Spaß sei dagegen kaum die Rede. „So sind dann auch die Rollstühle“, schimpft Horst Stohkendl, „von Ärzten für Kranke konzipiert und nicht von behinderten Sportlern, mit ihrem wertvollen Erfahrungsschatz für alle anderen Behinderten.“

In der Tat bewege ich mich mit dem Sportrollstuhl erstaunlich schnell, auch Richtungswechsel sind auf engstem Raum möglich. Abrupte Höhenunterschiede wie hohe Randsteine sind hingegen eine Herausforderung für Gleichgewicht und Körperbeherrschung. „Außerdem musst Du bedenken“, dämpft Benjamin Putsch die Euphorie der gelungenen Übungsstunde, „dass ich nur noch ungefähr zehn Prozent meiner Muskeln zur Verfügung habe.” Trotz mehr verfügbarer Muskeln erspart Benjamin Putsch mir die Selbsterfahrung einer Rollstuhltour quer durch Köln. „Du hättest Blasen an den Händen und könntest dich drei Tage nicht mehr rühren“, lacht er. Wir verlassen die Uni Richtung Neumarkt, eine zentrale Bahnhaltestelle im Herzen Kölns. Schon auf dem Weg zur Haltestelle schärft sich mein Blick für die alltäglichen Hindernisse. Am Ende einer Sackgasse gibt es nur eine Stelle mit abgeflachtem Randstein. Die Fußgängerüberführung über eine Straße weist eine Steigung auf, die Putsch nur mit Mühe schafft. Ich frage ihn, wie er mit Hilfsangeboten umgeht, wie man es als Nicht-Behinderter richtig macht. „Ganz einfach“, sagt er bestimmt, „bei Steigungen, Höhenunterschieden, Türen öffnen und ähnlichen Dingen fragen und nicht sauer sein, wenn ich dankend ablehne.“

Ausflug mit Hindernissen

Wir steigen in die Straßenbahn. Bei niederflurigem Einstieg für Benjamin kein Problem. Schwieriger ist der Ticketkauf. Er verzichtet gerne auf die wackelige Aktion auf dem Drehkreuz der Waggons, wo der Automat angebracht ist. Ausstieg Neumarkt. Das Pflaster des Platzes ist sehr uneinheitlich und holprig. Erleichterung als wir das glatte Pflaster der Fußgängerzone erreichen. „Am besten ist neuer Marmor“, erklärt Putsch seine unbescheidenen Wünsche bezüglich der Bodenbeschaffenheit, „Kopfsteinpflaster ist die Hölle.“

Geschärftes Bewusstsein: Nur bei Niederflurbahnen können Rollstuhlfahrer selbständig einsteigen.

Wir flanieren durch die Hohe Straße, die Einkaufsmeile der Domstadt. Es ist Freitagnachmittag und entsprechend voll. Immer wieder kommt es zu Beinahezusammenstößen zwischen dem Rollstuhlfahrer und Passanten. „Das ist ganz normal“, sagt Putsch, „das Gesichtsfeld der meisten Erwachsenen endet auf Brusthöhe.“

Für längere Wege benutzt Benjamin Putsch das Auto. Der Rollstuhl passt zusammengefaltet auf den Beifahrersitz.

Wir nähern uns dem Kölner Dom. Der weite Platz davor, die Domplatte, ist ein ideales Rollfeld. „Nur auf den Dom rauf werde ich wohl nicht mehr kommen“, stellt Benjamin Putsch nüchtern fest. Von der Domplatte führen jede Menge Stufen hinunter zum Hauptbahnhof – Endstation für Rollstuhlfahrer. Putsch kennt den Umweg. Wir biegen in eine unscheinbare Seitengasse links vom Dom weg und gelangen über mehrere Ampeln und einige Randsteine schließlich in die Bahnhofshalle. Aufzüge gibt es in dem kürzlich völlig neu gestalteten Vorzeigebahnhof nur in einem Flur. Aber diese funktionieren reibungslos und haben transparente Glaswände. Der Zugbegleiter des abfahrbereiten ICE kann die Frage nach der Mitnahme von Rollstuhlfahrern nicht befriedigend beantworten: „Drei Plätze habe ich“, meint er unsicher, „und wenn die noch frei sind, können Sie natürlich mitfahren.“ Wie lange vorher man normalerweise buchen müsse, könne er jetzt auch nicht sagen.

Wir versuchen ein Ticket an einem der neuen roten Automaten zu kaufen. Ich fange an, am sogenannten Touchscreen zu drücken. „Was steht da auf dem Schirm?“, fragt Putsch.

Wagenstandsanzeiger hängen hoch, die Schrift auf Automatendisplays ist für Rollstuhlfahrer unlesbar.

„Ich kann das von hier unten nicht erkennen.“ Ich begebe mich auf Augenhöhe von Benjamin und in der Tat: Auf dem hochmodernen digitalen Bildschirm ist von schräg unten nichts zu erkennen. Die Augen müssen möglichst im 90-Grad-Winkel auf den Schirm gerichtet sein. Alle, die diese Höhe nicht schaffen, haben Pech gehabt. Das ist doppelt fatal, da alle, die mit weniger als drei Tagen Vorlauf über die sehr gut ausgestattete Mobilitätsservicezentrale der Deutschen Bahn ein Ticket buchen, dieses am Automaten abholen sollen.

Putsch legte weitere Distanzen von Anfang an mit dem Auto zurück. Nach dem Unfall machte er mit einer Ausnahmegenehmigung den Führerschein mit 16. „Im bergigen Wuppertal die einzige Chance für mich weiterhin selbständig mobil zu sein“, erklärt er.

Wir machen Pause im Brauhaus. Putsch erzählt vom Unfall und von seiner ganz persönlichen Erfolgsgeschichte. Die Unterstützung von Lehrern, Eltern und Mitschülern rückt er ganz nach vorne. „Alle haben mitgeholfen“, erinnert er sich, „so habe ich gleich wieder in die Zukunft geblickt.“ Trotz mehrmonatigem Krankenhausaufenthalt verlor er kein Schuljahr.

Vor dem Unfall hatte Benjamin Putsch Fußball gespielt. Im Krankenhaus las er einen Artikel über Rollstuhlrugby. Schon auf dem Krankenbett war sein sportlicher Ehrgeiz wieder geweckt. Seine Leistungsbereitschaft hat ihn bis zu den Paralympics nach Sydney im Jahr 2000 gebracht. „Den siebten Platz haben wir dort gemacht“, sagt er, „das geht in Ordnung, besser waren wir nicht.“ Von den Sportsfreunden hat er am meisten gelernt für sein Leben im Rollstuhl. „Wie ein richtiger Rollstuhl aussieht, was die passende Ausstattung meines Autos ist und nicht zuletzt die Gewissheit, dass man auch im Rollstuhl viel erreichen kann, all das habe ich von meinen Rugbykumpels erfahren“, erinnert sich Putsch.

Auf dem Rückweg von der Uni bringt Benjamin Putsch mich mit dem Auto zum Bahnhof. Zügig lenkt er den Wagen durch den Kölner Innenstadtverkehr, seinen Rollstuhl auf dem Beifahrersitz – ein ganz normaler junger Mann, der mitten im Leben steht, meilenweit entfernt von der karierten Decke und dem gesellschaftlichen Abseits.

Michael Adler

 

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