Titel 6/2004

Blind in Marburg

Ausstieg in Fahrtrichtung rechts!

Im Alter von 23 Jahren ist Franz-Josef Hanke aufgrund einer erblichen Augenkrankheit praktisch erblindet. Heute arbeitet er als freier Journalist in Marburg. Für fairkehr schildert er den täglichen Hindernislauf mit Blindenstock, Bus und Bahn durch seine Heimatstadt.

Fotos: Stephan Sonntag                      
Weil sehbehinderte Menschen nicht Auto fahren können, sind sie bevorzugt mit Bus und Bahn unterwegs.

Ein Auto bleibt direkt vor dem Haltestellenmast stehen. Der Fahrer verschwindet im Geschäft nebenan. Ein Lieferwagen hält hinter dem parkenden Auto an. Mit einem Paket verschwindet auch sein Fahrer in dem Geschäft. Jede Minute müsste der Bus jetzt kommen. Doch die Haltestelle ist vollständig zugeparkt.

„Wer sein Fahrzeug verlässt oder länger als drei Minuten hält, der parkt“, heißt es in der Straßenverkehrsordnung. Parken im Haltestellenbereich ist verboten. Unternommen wird dagegen in vielen Städten indes wenig. Daher betrachten viele Autofahrer das Abstellen ihres Fahrzeugs in der Haltebucht als Kavaliersdelikt.

Als sich der Bus nähert, ist von den Fahrern der beiden Autos immer noch nichts zu bemerken. Für den langen Gelenkbus reicht der Platz nicht aus. Anstatt an die Bordsteinkante heranzufahren, bleibt der Bus mitten auf der Fahrbahn stehen. Hektisch schlängeln sich die Passagiere zwischen den parkenden Autos hindurch zum Bus. Bis ich die Situation erfasst habe, schließen sich die Türen wieder, und der Bus fährt an.

Seit dem 23. Lebensjahr bin ich aufgrund einer angeborenen Sehbehinderung als blind anerkannt. Meine Sehschärfe kann kein Augenarzt mehr messen. Meine Werte liegen unterhalb von einem Prozent des normalen Sehvermögens. Scharf sehen kann ich damit nicht. Nur Licht und Schatten vermag ich noch wahrzunehmen.

Deswegen habe ich auch die Situation an der Haltestelle nicht rechtzeitig überblicken können. Ich konnte zwar einen Motor hören, doch bis mir klar wurde, dass der Bus hinter den geparkten Autos angehalten hatte, war er auch schon wieder weg. Vermutlich hat niemand an der Haltestelle mein Problem durchschaut. So muss ich also auf den nächsten Bus warten. Hoffentlich kriege ich jetzt am Bahnhof noch meinen Zug nach Frankfurt!

Blinde fahren Bus und Bahn

Bus und Bahn sind die bevorzugten Verkehrsmittel der knapp 800000 blinden und hochgradig sehbehinderten Bundesbürgerinnen und -bürger. Da sie selbst nicht Auto fahren können, bleibt den meisten gar keine andere Wahl. Sie sind auf den ÖPNV angewiesen. Nicht zuletzt auch deswegen ist knapp ein Fünftel der Fahrgäste in Bus und Bahn im weitesten Sinne mobilitätsbehindert.

„Wollen Sie mitfahren?“, fragt eine Stimme. Der Busfahrer hat mich an der Haltestelle stehen sehen. Er ist eigens ausgestiegen, um mir in seinen Wagen hineinzuhelfen. Er fordert einen Fahrgast auf, mir den Schwerbehindertenplatz hinter dem Fahrersitz freizumachen.

Fahrgäste mit einem Grad der Behinderung von mindestens 30 Prozent haben Anspruch auf einen Sitzplatz. Oft räumen andere Passagiere den Schwerbehindertenplatz aber nicht frei. Versichert ist ein Behinderter bei einem Unfall aber nur, wenn er sich während der Fahrt hingesetzt hat.

Ich muss schon allein deswegen sitzen, weil ich Hindernisse oder Kurven vorher nicht sehen kann. Zudem muss ich mich auf die Haltestellenansage konzentrieren, um an der richtigen Station auszusteigen. Gottseidank gibt es dafür fast überall ein Band oder eine elektronische Stimme.

„Die Haltestellen sind laut und vernehmlich anzusagen“, heißt es in der Verordnung für den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen (BO Kraft). Eine optische Anzeige allein genügt also nicht.

„Hauptbahnhof“ tönt es ein bisschen blechern. Ich stehe auf und trete drei Schritt nach vorne. Mein Stock tastet nach der Bordsteinkante. Ich mache einen großen Schritt, dann bin ich ausgestiegen. Nun muss ich von der Bushaltestelle zum Bahnhofsgebäude gehen. Mit meinem weißen Langstock taste ich mich dabei voran.

Der Langstock ist an Körpergröße und Schrittlänge des jeweiligen Nutzers angepasst. In rhythmischen Pendelbewegungen führt der Blinde seinen Stock vor sich her. Setzt er den rechten Fuß nach vorne, pendelt der Stock nach links. Tritt der linke Fuß weiter vor, schlägt der Stock rechts auf dem Boden auf. Der Langstock geht dem Blinden damit immer einen Schritt voran. So tastet er die Flächen genau dort ab, wo beim nächsten Schritt der Fuß hintritt.

Mein Stock stößt gegen ein Hindernis. Ich muss stehenbleiben und zunächst einmal sondieren, was mir da den Weg versperrt. Es ist eine Werbetafel, die vor einem Geschäft auf dem Gehweg steht. Fast wäre ich darüber gestolpert. Ich konnte gerade noch anhalten.

„Leitlinien“ wie Hauswände oder Bordsteinkanten dienen den Blinden zur Orientierung. Schließlich können sie nicht – wie die Sehenden – einfach quer über einen Platz auf ein bestimmtes Ziel zulaufen. Deswegen benötigen sie tastbare Orientierungshilfen, um die Richtung zu halten. Oft werden aber gerade an den Hauswänden Werbetafeln auf- oder Fahrräder abgestellt und die Auslagen von Geschäften aufgebaut. So wird mancher kurze Weg für Blinde zum anstrengenden Hindernislauf.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt eine freundliche Männerstimme. „Wollen Sie zum Zug?“ Der hilfsbereite junge Mann bietet mir seinen Arm an. Ich greife nach seinem Ellenbogen. So kommen wir schnell durch das Gedränge in der Bahnhofshalle hindurch. Ich muss zum Zug nach Frankfurt, mein Begleiter ist in eine andere Richtung unterwegs. Daher bringt er mich nur an die Treppe zum Gleis.

Ansagen sind unverzichtbar

Bevor man behinderten Menschen helfen möchte, sollte man zunächst immer fragen. Auch sollte man sich erkundigen, wie man seine Hilfe am besten gewähren kann. Eine unfreundliche Ablehnung sollte man sich nicht zu Herzen nehmen. Vielleicht ist der Angesprochene ja gerade an diesem Tag schon etliche Male auf einem bekannten Weg gestört worden. Trotz negativer Erfahrungen sollte man seine Unterstützung immer wieder anbieten. Blinde sehen schließlich nicht, wo möglicherweise ein freundlicher Zeitgenosse ansprechbar wäre.

Der Zug läuft ein. Ich folge den Menschenmassen, die zur nächsten Tür gehen. An der Wand des Waggons tastet meine Hand, wo genau die Türöffnung beginnt. Dann ertastet mein Stock die Trittstufen. Ich steige ein und gehe hinauf ins Oberdeck des Doppelstock-Zuges.

Schwieriger Übergang: Hält der Zug an der falschen Stelle, können sich zwischen Treppe und Bahnsteig gefährliche Abgründe auftun.

 Im Nahverkehr genießen Behinderte Freifahrt. Diese Regelung gilt in einem Umkreis von 50 Kilometern um den Wohnort sowie in allen Verkehrsverbünden. Die üblichen Automaten könnten Blinde und Rollstuhlfahrer auch kaum bedienen. Zudem legen Behinderte mit Bus und Bahn oft Wege zurück, die Nichtbehinderte problemlos zu Fuß bewältigen. Dennoch mussten die Behinderten um den Erhalt dieser Regelung gerade erst im Sommer 2004 kämpfen. Ebenso langwierig war auch das Engagement der Blinden für eine qualifizierte Ansage in der Bahn.

„Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“, heißt es da. Zufrieden erinnere ich mich an die zähen Verhandlungen mit der Deutschen Bundesbahn. Bis sie von Erfolg gekrönt waren, hatte das Unternehmen seinen Namen geändert. Aber nun hat die Deutsche Bahn AG endlich eine Gefahrenquelle beseitigt.

Lassen sich Türen auf beiden Seiten des Waggons öffnen, steigen Blinde möglicherweise auf der falschen Seite aus. Statt auf dem Bahnsteig können sie dann tief stürzen oder gar vor einen entgegenkommenden Zug geraten. Deshalb ist die Ansage der Ausstiegsseite für Blinde lebenswichtig.

Mein Zug läuft in den Zielbahnhof ein. Nun muss ich nur noch aufpassen, dass ich nicht zwischen Bahnsteig und Zug gerate. Voller Horror entsinne ich mich eines solchen Vorfalls am Kölner Ubierring. Dort hielt die U-Bahn-Linie 16 in einer Kurve. Das große Loch zwischen Waggon und Bahnsteig verschluckte meinen Stock und mein rechtes Bein. So hing ich minutenlang voller Angst zwischen Tür und Bahnsteig, bis es mir schließlich gelang, mich mit eigener Kraft wieder herauszuziehen. Meinen Taststock reichte mir ein hilfsbereiter Fahrgast.

Ohne seinen Stock ist ein Blinder im Verkehr ebenso hilflos wie ein Nichtbehinderter es mit verbundenen Augen wäre. Zudem ist der weiße Stock das internationale Erkennungszeichen der Blinden.

Im Frankfurter Bahnhof kann ich meinen Stock zusammenklappen. Ich werde erwartet. Meine Begleiterin ergreift meinen Arm und fragt: „Nun, gab es irgendwelche Probleme unterwegs?“ Ich antworte: „Keine besonderen!“

Franz-Josef Hanke

 

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