Reise 5/2004InterviewDie Probleme verlagern sich nach OstenIm Vorwort zu Cathrin Schauers Buch „Kinder auf dem Strich“ beschreibt der Kriminalpsychologe Prof. Adolf Gallwitz als sachkundiger Beobachter die Situation an der deutsch-tschechischen Grenze als eines „der größten Freilichtbordelle Europas“.
fairkehr: Die tschechische Regierung dementiert Kinderprostitution an ihrer Grenze zu Deutschland. Können Sie die Beschreibungen der Autorin bestätigen? Gallwitz: Für Touristen und übrigens auch für deutsche Politiker, die vor der Veröffentlichung des Buches nach Tschechien fuhren, war es eine Situation, die zumindest bei genauerem Hinsehen sichtbar wurde. Ich war öfter vor Ort, bevor das Buch erschienen ist und kann die Situation bestätigen. Über die heutige Lage kann ich nichts mehr sagen. Es wird sich sicher etwas dadurch verändert haben, dass jede Menge Voyeuristen rübergefahren sind und dass die Polizei einiges unternommen hat, um einen besseren Eindruck zu machen. fairkehr: Wenn Sie sagen, dass Kinderprostitution an der tschechischen Grenze vor aller Augen stattfindet, warum geht die tschechische Polizei nicht gegen Kinderschänder vor? Gallwitz: Es gab bestimmte Tage, an denen die Polizei Razzien gemacht hat, Tage an denen sich die Polizei anders verhalten hat als an anderen Wochentagen. Was dahintersteckte, ob die Kinderprostitution der Grund war oder ob sie einfach nur den Auftrag hatten, einmal in der Woche Präsenz zu zeigen, kann ich nicht beurteilen. fairkehr: Welche Maßnahmen ergreifen deutsche Behörden oder die Polizei- und Grenzschutzbeamten? Gallwitz: Die deutsche Polizei hat keine Möglichkeit dort einzugreifen. Es gab zwar immer schon grenzübergreifende, gemeinsame Rauschgift-Ermittlungsgruppen, aber keine auf der Ebene der Sexualstrafdelikte. fairkehr: Warum kommen die deutschen Täter ungestraft davon? Gallwitz: Das hängt unter anderem mit der deutschen Strafprozessordnung zusammen: Zeugen und Opfer müssen vor Gericht aussagen. Es gibt Hinweise, dass Kinder befürchten, dadurch den „Nachteil“ zu haben, in ihrem Heimatland in ein Kinderheim zu kommen. fairkehr: Auch in Tschechien ist Sex mit Kindern straftbar. Hat das Land kein Interesse an der Ergreifung der Täter? Gallwitz: Tschechien ist nicht das einzige Land, in dem existierende Gesetze nicht angewandt werden. Das ist das Recht jeden souveränen Landes, Vorkommnisse unterschiedlich zu interpretieren. fairkehr: Wird die EU-Mitgliedschaft Tschechiens die Situation verbessern? Gallwitz: Die EU-Mitgliedschaft hat den Vorteil, dass wir zu Ermittlungen keine Rechtshilfeabkommen mehr benötigen, sondern wir uns jetzt innerhalb des EU-Rechts befinden. Das erleichtert die Zusammenarbeit. Andererseits wird sich das Problem Sextourismus mit dem Anstieg des Lebensstandards in einigen Jahren an die EU-Grenzen, das heißt weiter nach Osten, verlagern. Adolf Gallwitz ist Polizeipsychologe und Professor für Sexualdelikte an der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen Interview: Uta Linnert
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