Politik 4/04

Interview

Das Umsteuern beginnen

Die Gesundheitsfolgen durch Verkehr auf der Straße werden dramatisch ansteigen.

 

Fotos (3): www.marcusgloger.de

fairkehr: Welche gesundheitlichen Gefahren gehen nach Ansicht der WHO vom Verkehr aus?
Klein: Die Weltgesundheitsorganisation geht aus zwei Richtungen an gesundheitsbezogene Problematiken heran. Die eine ist die Quantifizierung von Krankheit und Leiden in größerem Ausmaß. Die andere die Suche nach Konzepten, wie Gesundheit erhalten, gepflegt und gefördert werden kann – unabhängig vom Niveau des Leidensdrucks. Die Verkehrsproblematik steht ganz oben auf beiden Agenden. Wir haben einen Indikator entwickelt, mit dessen Hilfe wir den Verlust an gesunden Lebenstagen quantifizieren können. Verkehrsunfälle finden wir jetzt auf Position neun. Die Verkehrs- und Bevölkerungsentwicklung lässt erwarten, dass im Jahre 2020 Verkehrsunfälle weltweit etwa auf Position drei stehen werden. Die Haupttodesursachen dieser Zeit wie Aids, Malaria und Tuberkulose werden weiter unter Kontrolle gebracht sein, gleichzeitig aber die Gesundheitsschäden durch Verkehr auf der Straße dramatisch ansteigen.

fairkehr: Werden diese Gesundheitsgefahren durch die EU-Erweiterung weiter zunehmen?
Klein: Nicht mehr. Der typische, uns sehr nahe liegende Studienfall ist die Exploration Ostdeutschlands nach der Wende. Dort hatten wir einen Anstieg der Unfallzahlen hauptsächlich bei jungen Männern im Alter von 15 bis 35, die auf katastrophalen Straßen bei schlechter Fahrausbildung und ungenügenden Verkehrssicherheitskonzepten erstmals mit Fahrzeugen konfrontiert wurden, die 150 oder 200 Stundenkilometer schnell sind. Die WHO lenkt heute die Aufmerksamkeit auf die Entwicklungsländer. Dort stirbt sich’s noch leichter, weil es noch weniger Verkehrssicherheit gibt: keine Beleuchtung auf den Straßen, keine Verkehrsregeln, keine Führerscheine, Fahrzeuge in katastrophalem Zustand, viel Fußgängerverkehr – mehr als eine Million Verkehrstote pro Jahr und 20 bis 50 Millionen Verletzte.

fairkehr: Welche anderen gesundheitlichen Probleme gehen auf den Verkehr zurück?
Klein: Neben Tod und Verletzung beschäftigt sich die WHO in den letzten fünfzehn Jahren sehr intensiv mit den subtileren Formen der Gesundheitsgefährdung. Da ist zuerst die Luftverunreinigung zu nennen. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat die WHO mit den „Air Quality Guidelines“ Kriterien erarbeitet, wie Luft zu sein hat, damit sie nicht gesundheitsschädigend ist. Vor 25 Jahren war in Europa Blei aus den Autoabgasen ein Thema. Wir haben uns mit Benzol beschäftigt und die verschiedenen Komponenten, die an der Ozondemontage beteiligt sind, ins Visier genommen. Heute untersuchen wir Partikel aus Dieselruß oder von Reifenabrieb in der Luft. Die WHO sieht in Ballungsräumen immer noch steigende Tendenzen mit verschiedenen Luftverunreinigungskomponenten.

fairkehr: Über Jahre hat der VCD strengere Schadstoffgrenzwerte eingefordert. Heute sagen viele Experten, dass bei Euro4-Pkw mit Ottomotor Schadstoffe kein Problem mehr sind.
Klein: Es ist die Frage, auf welche Bevölkerungsgruppe unter welchen Belastungsbedingungen wir uns im Einzelfall einlassen. Personen, die Zigaretten rauchen, sind von verkehrsbedingten Luftverunreinigungen nur marginal betroffen, da kommt es auf ein bisschen mehr nicht an. Für spielende Kinder im innerstädtischen Raum sind die verbleibenden Schadstoffe sehr wohl relevant. Es ist schwierig, die Dinge aufzuschlüsseln und zu sagen, in Deutschland ist die Luftverunreinigung aus dem Straßenverkehr für eine bestimmte mittlere Belastung rechnerisch zuständig oder für gesundheitliche Folgen verantwortlich.

fairkehr: Welche gesundheitliche Gefahren gehen vom Dieselruß derzeit aus und in welcher Relation stehen sie zum Ruß, der aus den Industrieschloten kommt? Können Sie eine Gewichtung vornehmen?
Klein: Wer direkt neben einem Industrieschlot wohnt, hat es sicher schlechter als jemand, der irgendwo in einem verkehrsberuhigten Ballungsraum wohnt. Bei der Partikelanalyse sind im Moment noch sehr viele Unwägbarkeiten abzuarbeiten. Gesundheitsrelevante Grobpartikel aus Dieselmotoren, sogenannte PM10, können mit einem Filter zurückgehalten werden. Gleichzeitig sehen wir aber, dass ultrafeine Partikel, die durch jeden praktikablen Filter hindurchgehen, ebenso gesundheitsrelevant sind. Sie wirken subtiler, auf der molekularen Ebene. Wir können zur Zeit mit Daten aus Tierversuchen oder aus Kohortenstudien mit Asthmatikern und Nicht-Asthmatikern nicht quantitativ sagen: Wenn wir alle Dieselfahrzeuge mit PM10-Filtern fahren lassen, dann ist das Risiko um Faktor 7, 13 oder 83 niedriger. Wir haben widersprüchliche Ergebnisse, je nachdem, welches Reaktionsmuster im Körper wir uns anschauen.

fairkehr: Das Umweltbundesamt hat letztes Jahr veröffentlicht, dass in Deutschland ca. 10000 bis 18000 Menschen zusätzlich pro Jahr durch Rußpartikel sterben. Ist das eine realistische Größenordnung?
Klein: Das stimmt in etwa mit dem überein, was wir 1999 bei der Verabschiedung der Verkehrscharta geschätzt haben. Da waren wir bei 30000 bis 50000 zusätzlichen Fällen für Westeuropa. Damit haben wir erstmals deutlich gemacht, dass diese Gesundheitsbelastung gleichauf mit dem Verkehrstod auf den Straßen liegt, sie ist nur viel schwieriger nachzuweisen. Asthmakranke oder die Karzinom-Betroffenen liegen nun mal nicht auf der Straße herum, wenn sie verkehrsbedingt diese Erkrankungen haben.

fairkehr: Welche gesundheitlichen Auswirkungen des Verkehrs untersucht die WHO darüber hinaus?
Klein: Bewegungsmangel durch autogerechte Stadtplanung ist ein weiteres Problem. Als Gesundheitsproblem Nummer 2, 3 oder 4 werden wir in 20 bis 30 Jahren Übergewicht durch Fehlernährung und Bewegungsmangel haben – und Bewegungsmangel hat viel damit zu tun, wie wir unsere Verkehrssysteme organisieren.

fairkehr: Lärm ist eine klassisch unterschätzte Gefahr, die vom Verkehr ausgeht. Wie wirkt Lärm auf Menschen?
Klein: Das ist ähnlich kompliziert wie das Zusammenwirken unterschiedlicher chemischer und physikalischer Komponenten aus den Abgasen. Die WHO untersucht das Schlafverhalten von Menschen: Was ist gesunder Schlaf? Welche Störung des Schlafs hat gesundheitliche Folgen? Welche dieser gesundheitlichen Folgen lassen sich direkt welchem Schlaf störenden Ereignis zuordnen? Wie stört nächtlicher Fluglärm mit fünf oder zehn Ereignissen pro Stunde oder ständig rollender Autobahnlärm oder das regelmäßige Wellenrauschen von Güterzügen an einer nachts befahrenen Bahnlinie oder das Moped vom Nachbarn? Wir sind zur Zeit in der Lage, für bestimmte Störungsformen des Schlafs äquivalente Schallpegel anzugeben, bei denen man sagen kann, da ist man auf der sicheren Seite. Wenn man uns aber zwingen will, zu sagen, bei 48 dB(A) in Stadt X sterben soundso viele Leute mehr an einem Herzinfarkt, dann geraten wir in ein nutzloses Zahlenspiel.

fairkehr: Obwohl es solche Zahlen natürlich gibt. 2000, 3000 Tote zusätzlich durch Herzinfarkt pro Jahr in Deutschland wird geschätzt.
Klein: Das kann man über den Daumen genauso berechnen wie 30000 oder 50000 Atemwegsgeschädigte in Europa. Greifen wir mal in die andere Kiste! Wir haben in den 80er Jahren 17 Kleinkinder in Deutschland identifiziert, die an frühkindlicher Leberzirrhose durch Kupfer aus unangemessen organisierter Wasserversorgung gestorben sind. Wir haben uns Gedanken gemacht, wie man sie vermeidet – und es wird diese Fälle nicht mehr geben. Wer behauptet, 17 sei eine vernachlässigbare Zahl, möge bitte mit den Eltern dieser Kinder sprechen.

fairkehr: Wie müsste Mobilität der Zukunft aussehen, damit ein gesundheitliches Gesamtmodell daraus wird, das den Kriterien der WHO entspricht?
Klein: Pkw mit der Philosophie der Mitte des vorigen Jahrhunderts weltweit zu vermarkten, ist eindeutig eine Sackgasse. Wir müssen darüber nachdenken, welche Art von Verkehrsentwicklung in anderen Teilen der Welt aus dem Beispiel folgt, das wir hier geben. Nachdem wir über hundert Jahre vorgeführt haben, dass immer mehr Automobile das Erfolgskonzept sind, wird es Zeit, zu zeigen, dass dieser Erfolg in vielerlei Hinsicht einen zu hohen Preis hatte. Vieles, was im Bereich der Produktion oder der Industrie passiert, tun wir mit dem Hinweis darauf, dass Menschen etwa Schraubenzieher, Autos, Flugzeuge und Panzer brauchen. Bei Landminen und Handfeuerwaffen sind wir gerade dabei, global zu lernen, dass man sie nicht braucht. Bei Atombomben auch. Bei Fahrzeugen bestimmter Kategorien, zum Beispiel bei Geländefahrzeugen mit Kuhfängern für den innerstädtischen Verkehr, müssen wir erst noch lernen, dass man sie nicht brauchen kann.

Die Gesundheitsfolgen durch Verkehr auf der Straße werden dramatisch ansteigen.

fairkehr: Das ist ein schönes Bild, aber wer müsste denn konkret was tun?
Klein: Die Akteure sind Verkehrsminister, Umweltminister, Gesundheitsminister, die Automobilindustrie, Gewerkschaften, die NGOs – gemeinsam. Auf kommunaler Ebene gibt es einige gute Beispiele, die sind aber noch nicht hochgekommen auf einen nationalen oder europäischen Konsens. Da wird sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren hoffentlich mehr tun, als sich in den letzten dreißig Jahren getan hat – denn die Zeit zwischen der Ölkrise 1973/74 und 2004 haben wir nicht genutzt.

fairkehr: Wie sollte denn ein Fahrzeug der Zukunft aussehen?
Klein: Wir sehen nach wie vor in Europa Fahrzeuge herumfahren, die genau so viel Benzin verbrauchen wie vor dreißig Jahren. Es gab vor dreißig Jahren Fahrzeuge, die sich mit drei oder vier Litern pro 100 km begnügten, sie sind aber nicht auf den Markt gezwungen worden. Hier kommt jetzt die Politik ins Spiel. Mit relativer Leichtigkeit hat sie bleifreies Benzin in Europa durchgesetzt, obwohl es zunächst einen Riesenaufschrei gab und der Untergang der Automobilindustrie heraufbeschworen wurde. Der Katalysator war die nächste Riesenherausforderung – und zehn Jahre später kein Thema mehr. Heute erleben wir das Gezerre um den Dieselrußfilter. Die Politik hätte vor dreißig Jahren sagen können: „In zehn Jahren soll das Benzin zehn Mark pro Liter kosten und in Deutschland wird kein Neuwagen mehr verkauft, der mehr als 1,5 Liter Benzin verbraucht – dann, liebe Bürger, habt ihr 30 Prozent gespart.“

fairkehr: Dann wären wir heute weiter.
Klein: Solch eine Politik brauchen wir. Wenn wir heute beginnen, die Weichen zu stellen, dass die fünf Milliarden Autos, die 2050 für acht Milliarden Erdenbürger zur Verfügung stehen, weniger fossile Energie verbrauchen als die Autos, die wir heute auf dem Markt haben, und zwar nicht ein Prozent, sondern 30 oder 50 Prozent weniger, dann haben die Industriegesellschaften gezeigt, dass sie etwas können.

fairkehr: Haben Sie eine Idee, wie das politisch zu bewerkstelligen ist?
Klein: Die WHO hat 1999 bei der Vorbereitung ihrer Verkehrscharta auch in Gesprächen mit Volkswagen und BMW versucht, eine europäische Motivation zu erzeugen, aus der Mitte Europas heraus, aus dem Land, das als Haupttransitland mittendrin steckt und das durch die Produktion hervorragender Automobile weltweit angesehen ist. Die Automobilindustrie hat sich lediglich darauf beschränkt, mit fine tuning die Schadensbegrenzung zu optimieren. Innovationsimpulse kommen zur Zeit eher aus Japan. Durch diese abwartende Haltung beraubt sich die deutsche Automobilindustrie, die hundert Jahre kreativ war, ihres Potenzials. Mit der EU-Erweiterung wartet ein Markt von 300 Millionen Menschen darauf, ebenfalls die Modernität des westlichen Europas zu erreichen.

fairkehr: Welche Fahrzeuge sollte die Automobilindustrie anbieten? Wie sehen Sie Verbrennungsmotoren und Dieseltechnologie in der Zukunft?
Klein: Wir haben ja gesagt: Um Belastungen hier in Europa stufenweise herabzusetzen, lohnt es sich, Filter einzubauen. Es lohnt sich auch, einen Katalysator einzubauen, bleifrei zu fahren usw. Für einen nachhaltigen Verkehr in Ballungsräumen mit fünf, zehn oder 20 Millionen Menschen in Asien, in Afrika oder in Lateinamerika aber ist eine Organisation mit Verbrennungsmotoren, wie wir sie heute haben, die derartig viel Energie verbrauchen, nicht denkbar und nicht machbar. Wir werden Ballungsräume niemals so organisieren können, dass bei einer Verkehrsdichte, wie wir sie jetzt erleben, Gesundheit nicht geschädigt wird. Deshalb kann man heute schon sagen, dass in 5, 15 oder 50 Jahren Diesel genauso out ist wie Blei vor 20 Jahren out war. Wir müssen Dieselfahrzeuge aus dem innerstädtischen Verkehr herausbekommen – auch im Bereich des öffentlichen Verkehrs. Wir werden in fünf oder zehn Jahren über ultrafeine Partikel und deren direkte Auswirkungen auf das Lungengewebe noch mehr wissen. Dann kommt wieder die Frage, wie ein bestimmtes Kanzerogen, das jetzt an diesen feinen Partikeln anhaftet, auf ein Zehntel oder ein Hundertstel der Menge vermindert wird. Dieses schrittchenweise Nachbessern führt uns von einer Problemlage zur nächsten. Wir können mit den begrenzten Erdölvorräten viele gute und schöne Dinge machen und den Preis dahin bewegen, wo er hingehört, wenn wir das Öl nicht allein nach dem Brennwert bewerten.

fairkehr: Die aus Sicht der Gesundheit und des Menschen nachhaltige Antriebsform für menschliche Mobilität ist …
Klein: … solar. Wir müssen Transmissionssysteme anwenden, mit denen Solarenergie in nutzbare Energie umgeformt wird. Es gibt bereits einen Hersteller, der Zweiräder anbietet, die mit solar erzeugtem Wasserstoff fahren. Das wäre die Lösung für die italienischen Städte, aber auch für viele ostasiatische Städte, in denen neben dem Fahrrad das Zweirad mit kleinem Motor sicher eine Zukunft haben wird.

fairkehr: Solar erzeugten Strom sinnvoll in Mobilität zu übersetzen wird noch eine Weile dauern, so die Prognosen.
Klein: Wir können Forschungsmilliarden umschichten, wir können aber auch die schon investierten Forschungsmillionen schneller technikwirksam werden lassen. Wenn politische Anforderungen da sind, bestimmte Prozesse umzusteuern – und das Wissen für die Umsteuerung ist da –, dann müssen sich nur die richtigen Leute zusammensetzen, und in 15 Jahren ist die Technik fertig, vielleicht schon in zehn Jahren. Wenn wir im Jahre 1974 nicht begonnen haben und im Jahre 2004 nicht beginnen, dann werden wir vielleicht in 2034 noch mal darüber nachdenken müssen, ob man nicht mal anfangen sollte.

 

Mit Günter Klein sprachen Michael Adler und Uta Linnert

 

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