|
Wart' mal schnell
Wer hat schon „Zeit“ in unserer Zeit? Nehmen Sie sich Zeit, etwas über „Zeit“ zu lesen. Karlheinz A. Geißler schreibt über „Zeit“ für Menschen, die nach vergeblichen Bemühungen Zeit zu ordnen, zu managen oder zu sparen auf der Suche sind nach einem Platz zum Ausruhen, nach einer Zeit-Oase – oder einer ruhigen Bank in sonniger Umgebung, um die Zeit zu beobachten, wie sie vorübergeht.
|
|
Fotos: www.gloger-knipst.de
|
Seitdem das Märchen VOM Schicksal des Hasen bei seinem Wettlauf mit dem Igel beinahe jedem deutschen Kind erzählt oder vorgelesen wird, dürfte bekannt sein, dass die Schnelligkeit nicht immerzu gut und auch nicht überall sinnvoll ist. Wie der Tod des sich die Zunge aus dem Halse hetzenden Hasen nur allzu deutlich belegt, ist das Schnellsein nicht ungefährlich. Es führt nicht immer zum Ziel, aber relativ schnell zum Ende. Schlauere Lebewesen, auch dies eine Moral des Grimm’schen Märchens, können sitzen bleiben und den Wettbewerb trotzdem gewinnen – vorausgesetzt man ist zu zweit, also sozial organisiert. Dass man durchs Warten dem rasenden Konkurrenten überlegen sein kann, das hat sich ein Großteil unserer Bevölkerung inzwischen von der Werbeindustrie ausreden lassen. Die Firma T-Mobile etwa preist dieser Tage auf deutschen Bahnhöfen ihre Dienste als „Wartezeitkiller“ in Magentarot an. |
„Niemand fragt, wie man das eigentlich macht, das schnelle Warten.“
|
Viel gelesene Managementzeitschriften verbreiten gerne die gefährliche Weisheit, dass jene, die nicht die Schnellsten sind, dazu verdammt werden, die Letzten sein zu müssen. Viel Energie, viel Geld wird investiert, um die Botschaft des fabelhaften Märchens vom Hasen und dem Igel zu verdrängen und zu ignorieren. Sogar jene Menschen, die trotz mannigfaltiger Unterstützung durch die Hochgeschwindigkeitstechnologien noch warten müssen, sollen das möglichst schnell tun: „Wart mal schnell, ich bekomm gerade einen Anruf auf der anderen Leitung!“ Und niemand fragt, wie man das eigentlich macht, das schnelle Warten. Besser man fragt auch nicht danach, denn auf eine Antwort, wenn sie gut sein soll, müsste man schon etwas länger warten. Ist man schnell, fällt einem nur jenes seichte Gefasel ein, das die unvermeidlichen Talkshows unserer Fernsehsender kennzeichnet.
Wer nicht warten kann, den bestraft das Leben. Die immerzu Eiligen bestrafen ihre Mitmenschen mit hetzender Penetranz. Die Schnellen bleiben alleine und einsam. Nur jene, die Warten können, das beweist das Igelpaar, sind fähig, gemeinsam etwas zu machen. Und weil sie das können, sind sie dem rasenden Individuum überlegen. Das nämlich läuft immerzu am Leben und an der Zeit vorbei. Nur wer warten kann, hat Zeit – alle anderen haben Terminkalender. Warten können heißt, jene Chancen ergreifen, die sich bieten, wenn man die Zeit zu sich einlädt. Die Hetzenden fallen aus der Zeit heraus, die Wartenden in sie hinein.
Wartezeit ist nicht verloren
Warten ist uns lästig. Zu unseren modernen Paradiesvorstellungen gehört es, nicht mehr warten zu müssen. Vom Warten – so die oft gebrauchte Alltagsformel – werden wir „erlöst“. Früher sahen Erlösungen anders aus, zumindest hat man auf sie gewartet. Das tut heute nur mehr eine zunehmend kleiner werdende Minderheit. Alles soll möglichst sofort, überall und jederzeit zur Verfügung stehen. Warten kommt bei dieser Nonstop-Mentalität nur als möglichst rasch zu behebender Defekt vor. Ganz anders war das in zurückliegenden Jahrhunderten. Warten war ehemals nicht verlorene, im Gegenteil, Warten war gewonnene Zeit (ohne dass damals in diesen Kategorien gedacht wurde). Die „Warte“ nämlich, die heute in so manchem ländlichen Flurnamen überdauert, war ein turmartiges Bauwerk, das bevorzugt auf Anhöhen mit guter Rundumsicht errichtet wurde. Von dort hielt man Ausschau, um die Bevölkerung im Falle ihrer Bedrohung durch Feinde möglichst frühzeitig zu informieren. Mit Hilfe dieser ausgespähten Information gewann man Zeit zur Flucht oder zur Vorbereitung von Gegenmaßnahmen. |
|
Auch in älteren Wörterbüchern, die zur Erläuterung von Begriffen dienen, stößt man bei der Erklärung des Verbs „warten“ auf ein völlig anderes Verständnis als jenes, das wir heute vom „warten“ haben. „Warten“, das bedeutete einstmals „verweilen, pflegen, Ausschau halten, wahrnehmen, sorgen, bewahren, schützen, den Blick auf etwas werfen“. Im „Warten“ sind zwei gegensätzliche Zeitformen eine produktive Verknüpfung miteinander eingegangen. Einerseits das Langsame, das Statische, das Harrende und Beharrende, andererseits das Potential zur Schnelligkeit, zur raschen Reaktion. Man muss warten können, um im richtigen Moment schnell sein zu können. Heutzutage aber beschleunigen wir das Warten und zerstören damit die fruchtbare versöhnte Verschiedenheit seiner zeitlichen Potentiale. „Wer nicht warten kann bis ihn dürstet“, so Montaigne, „wird am Trinken kein Vergnügen finden.“ Und nicht nur am Trinken. Wer nicht warten kann ist auch zur Liebe unfähig. Wer meint, durch Liebe auf den ersten Blick Zeit sparen zu können, wird sich schwer tun, um zu einem zweiten Blick zu kommen. Hetze ist Zeitversessenheit, Liebe ist Zeitvergessenheit, und das Warten auf die Liebe ist das Vorspiel zu diesem zeitlosen Zustand des Glücks. |
„Wer nicht warten kann, den bestraft das Leben.“
|
Warten ist dann ein Störmoment, wenn Zeit mit Geld verrechnet wird, wenn die Logik der knappen Zeit herrscht. Wartezeiten verursachen aus dieser Sicht Kosten, da in der „verwarteten Zeit“ andere Chancen hätten wahrgenommen werden können. Hieraus ergibt sich der Eindruck, warten sei unproduktiv; es müsse etwas dagegen unternommen werden. Die Eile trocknet die Lebensquelle des geduldigen Wartens aus. Wie leer aber müssen zehn Minuten Warten sein, wenn diese Zeit als verloren gilt? |
|
Warten ist ja nicht in jedem Fall ein mehr oder weniger erzwungener Handlungsverzicht, es ist auch Ausdruck einer besonderen Qualität des Handelns. Warten und warten können bedeutet „Zeit haben“ – und das ist etwas Besonderes und etwas Attraktives. Es ist eine Zeit, die nicht unter dem Druck steht, rasch zu Resultaten zu kommen. Wer etwas ernten will, der muss – wie das jeder Bauer erzählen kann – warten können. Und jene, die die Kunst des Wartens am besten beherrschen, erhalten die schönsten Äpfel. So ist warten nicht Handlungsverzicht, sondern produktives Handeln. Ein solches Warten führt weg von der mechanischen Logik der Uhr und eröffnet Zeiterfahrungen, die anderes möglich und erlebbar machen, als das, was die Zeitmesser vorgeben. Die Diktatur der Uhr lässt kein fruchtbares Warten zu. Wartezeit ist ein Geschenk. Nietzsche beschreibt es: „Warten und sich-vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichter und Stimmen vorbereiten; (…) den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel des Südens über sich aufspannen …“. |
„Wer warten kann, hat viel getan.“
|
In Wirklichkeit warten wir alle – auf das Glück nämlich. Und ohne dieses Warten könnten wir’s in dieser Welt nicht aushalten. Da sich das Glück aber – glücklicherweise – nicht kalkulierend herbeiholen lässt, müssen wir uns öffnen für die Zeit und ihre unterschiedlichen Qualitäten, für das Anderswo und Irgendwie. Es sind die Wartesäle unseres Lebens, in denen wir die Zeit erleben und erfahren können, wo wir uns selbst begegnen – und anderen Menschen ebenso. Dann heißt warten nicht mehr nur auf etwas warten, sondern es ist schon ein Teil jener Erfahrung des Glücks, auf das wir alle warten. Wer warten kann, hat viel getan. Wir kommen mit noch so viel Anstrengung und Hektik nicht ans Ziel – aber wenn wir warten, kommt das Ziel vielleicht zu uns.
Zeit-Übung
Eine Übung für jene, die nicht (mehr) warten können – und jene, die es zu wenig tun.
Setzen Sie sich, ausgestattet mit den notwendigen Schreibutensilien, bequem an einen Tisch oder, wenn es die Umstände und das Wetter zulassen, in den Halbschatten eines lichten Laubbaumes und notieren Sie sich die Ihnen einfallenden Antworten auf die Frage: „Was kann ich alles in einer Stunde sein lassen.“
Zumindest in der daran anschließenden Stunde lassen Sie dann alles das sein. Falls es Ihnen zu langweilig wird, beobachten Sie sich beim „Sein-lassen“.
Hinweis: Diese Übung kann beliebig wiederholt werden. Sie ist auf längerfristige Zeitmaße, z.B. Tage, Wochen, usw., ebenso anwendbar. In diesem Falle sollten Sie jedoch Ihre Angehörigen, sowie Ihren Arbeitgeber vorsorglich von ihrem Vorhaben informieren. Viel Erfolg!
Karlheinz A. Geißler
Karlheinz A. Geißler beforscht die Zeitkultur und schreibt darüber u.a.:
- Zeit verweile doch, Herder Verlag, 5. Auflage, 2002
- Vom Tempo der Welt, Herder Verlag, 5. Auflage, 2003
- „Wart mal schnell“ Minima Temporalia, Hirzel Verlag, 2. Auflage, 2002
|
zurück zum Inhalt |
|
|