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SlowCity Waldkirch
Der Fortschritt ist eine Schnecke
Zwei Städte in Deutschland können sich bisher mit dem Prädikat „slowcity” schmücken,
Hersbruck in Franken und Waldkirch im Schwarzwald. „Lebenswert” sollen die Städte sein, so lautet
die offizielle Übersetzung. Erreichen wollen sie dies mit einer nachhaltigen Stadtentwicklung, die fest in
Tradition und regionaler Besonderheit wurzelt.
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Foto: Zweitälerland tourismus
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Letztes Jahr zu Nikolaus war’s soweit. Nach 42 Jahren Stillstand setzte sich das Räderwerk der Ölmühle
in Simonswald erstmals wieder in Bewegung. „26 gut erhaltene Rentner“, berichtet der Vorsitzende des
Brauchtumsvereins Simonswald, Erich Schwär, „haben fast zwei Jahre lang gehämmert, gesägt,
geforscht und getüftelt, dann floss zum ersten Mal wieder frisch gepresstes Walnussöl.“
Mit Schöpferstolz und großer Anerkennung für die Leistungen der Vorfahren erläutert der gelernte
Maurer und Musiklehrer den Mechanismus der Mühle. Er leitet den Bach auf das Mühlrad, der 720 Kilogramm
schwere Mühlstein im Innern des mehr als 300 Jahre alten Hauses beginnt rumpelnd sein Mahlwerk. Mit Holzfeuer
werden die gepressten Nüsse oder Kerne erhitzt. „Nicht über 50 Grad”, sagt Schwär, „das
gilt noch als kaltgepresst“. Die erhitzte ölige Masse kommt in eine Presskammer, auf die ein riesenhafter
Eichenbalken verstärkt durch mühlenbetriebene Hebelwirkung einen Druck von 16 Tonnen ausübt. Schwär
hat die wirkenden Kräfte auf einem Diagramm aufgemalt und ist begeistert von der Exaktheit der Mechanik. Auf
dem Eichenbalken ist die Jahreszahl 1712 eingraviert.
Manchmal hat man das Glück, dass eine abstrakte Idee sich an einem Ort beispielhaft manifestiert. So geht
es mit der Idee der slowcity Waldkirch und der Ölmühle im Simonswälder Tal. Zwar gehört Simonswald
nicht zum Stadtgebiet von Waldkirch. Da aber die gesamte Region unter dem Begriff „Zweitälerland“ sowieso
auf allen Ebenen kooperiert, mag die Vereinnahmung der Mühle für die slowcity-Idee angehen.
Eine slowcity ist lebenswert
Was also ist eine slowcity? Gehen alle Waldkircher einen Schritt langsamer? „Um Gottes Willen, nein!“,
ruft Hubert Bleyer, der Pressesprecher der Stadt, entsetzt, „die Gefahr besteht natürlich, dass diese
Bezeichnung nach hinten losgeht.“ Slowcity wird nicht mit „langsamer Stadt“ übersetzt, sondern
mit „lebenswerter Stadt“. Die Satzung der ursprünglich aus Italien stammenden slowcity”-Bewegung
benennt sieben Kriterien, die eine „lebenswerte Stadt“ erfüllen muss: Die charakteristische Stadtstruktur
muss erhalten und wiederhergestellt werden, die Stadt betreibt eine nachhaltige Umweltpolitik, regionaltypische
Produkte werden hergestellt und Nahrungsmittel aus der Region auf Wochenmärkten der Bevölkerung nahegebracht,
Bürger und Stadt pflegen Kultur, Tradition und Brauchtum, aktive Bürger erforschen die Stadtgeschichte
und schaffen Identität, Gastfreundschaft ist selbstverständlich, und die Stadt tut alles dafür, das
Bewusstsein dafür zu schärfen, was es heißt, in einer slowcity zu leben.
Waldkirch ist nach dem fränkischen Hersbruck erst die zweite deutsche Stadt, die sich dieses Prädikat
umhängen darf. Die 20000 Einwohner-Stadt am Eingang zum Elztal und Simonswäldertal hat allerdings gute
Vorarbeit geleistet. Bereits 1992 machte Waldkirch mit einem Sanfte-Ferien-Projekt von sich reden. 1997 wurde der
Ort mit dem Bundespreis für Tourismus und Umwelt geehrt. Seit 1999 arbeiten Waldkircher Bürger gemeinsam
mit der Stadt am Leitbild Waldkirch 2020. Da war es nur folgerichtig, dass das slowcity-Prüfkommittee die auf
Bürgerengagement basierende nachhaltige Stadtentwicklung der Schwarzwälder für wert befand, in die „internationale
Vereinigung der lebenswerten Städte“ aufgenommen zu werden. |
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Foto: Michael Adler |
Nach 42 Jahren wieder in Bewegung: Das Mühlrad der Simonswälder Ölmühle |
Mosaik fügt sich zusammen
„Viele Mosaiksteinchen fügen sich jetzt zusammen“, freut sich Bleyer. Die Breisgau-S-Bahn, die
Waldkirch und das ganze Zweitälerland mit Freiburg im Halbstundentakt verknüpft, ist so eins. „Als
die Deutsche Bahn AG noch für die Strecke zuständig war, war ständig von Stilllegung der Elztalbahn
die Rede“, blickt Albrecht Nitz, der Tourismus-Vermarkter der Region, zurück. Seit Dezember letzten Jahres
fährt die Breisgau-S-Bahn mit nagelneuem Wagenmaterial. „Um rund 40 Prozent stiegen seitdem die Fahrgastzahlen“,
freut sich Nitz, der schon 1992 der Motor der „Sanften Ferien Waldkirch“ war. Jetzt organisiert der
umtriebige Urlaubsmanager Familienausflüge ab Freiburg Hauptbahnhof mit Frühstück im Zug. Mit Erfolg.
Wichtig ist den slowcity-Überzeugten, dass die Bevölkerung bei allen Entscheidungen mitgenommen wird. „Eine
slowcity ist man nicht, das ist ein Prozess, an dem immer wieder alle arbeiten müssen“, erklärt
Bleyer. Ohne die Unterstützung der Bürger ginge auf Dauer gar nichts. Alle Jahre gibt es daher ein Bürgerforum,
an dem zwischen 50 und 100 Bürger teilnehmen. In diesem Jahr steht das Forum unter dem Motto „Kinder
entdecken Nahversorgung und Lebensqualität“. In einem zweijährigen Projekt in Zusammenarbeit mit
Schulen und Kindergärten sollen Kinder begreifen, dass der Apfel besser schmeckt, wenn er nicht allzu weit
vom Stamm fällt. Richard Leibinger, Bürgermeister von Waldkirch und dem guten Essen nicht abgeneigt, gibt
seine kulinarische Lebenserfahrung gerne weiter. Bei Kochkursen mit Kindern kauft er alle Zutaten gemeinsam mit
den Kindern auf dem örtlichen Wochenmarkt ein.
Kinder sind die Zukunft
Das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt ist die 100 Meter höher gelegene Ruine der Kastelburg. Hier wurde
im Oktober ein Kinderwanderweg zur Ritterburg eingeweiht. Mit einem Ritterquiz wurden die kleinen Waldkircher so
an ihre örtliche Geschichte herangeführt, ganz ohne pädagogischen Zeigefinger. „Hunderte von
Kindern wollten mit ihren Eltern Ritter und Burgfräulein spielen“, lacht Hubert Bleyer. „Die Kinder
für die Idee der slowcity zu gewinnen, ist uns besonders wichtig“, sagt er, „wer die Kinder hat,
hat die Zukunft.“ |
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Foto: Hubert Bleyer |
Bürgermeister Leibinger kocht mit Kindern: Die Zutaten kaufen sie auf dem Wochenmarkt. |
Mindestens genauso wichtig ist es, die örtliche Wirtschaft, die Kaufleute und Gastronomen zu gewinnen. Am
organisierten Widerstand der örtlichen Kaufmannschaft sind schon viele gutgemeinte Projekte gescheitert. „Wir
haben mit slowcity eine völlig neue Diskussionsform entwickelt“, sagt Bernhard Steinhart, Sprecher des
Waldkircher slowcity-Kommittees und Inhaber von drei Reformhäusern. „Wenn Sie Stadtmarketing sagen, legen
alle die Hände in den Schoß und warten ab, was die Stadt wohl macht“, erklärt er den Unterschied.
Bei slowcity gebe es kein Warten auf die Obrigkeit, sondern alle Bürger seien gefragt, ihre Stadt besser zu
verkaufen. „In Waldkirch greift diese Bewusstseinbildung“, ist Steinhart überzeugt. Und soviel
Originalität verfängt auch andernorts. Der Bauernmarkt etwa bietet dreimal in der Woche die ganze Palette
des regionalen Obst- und Gemüseangebots. Seit die Breisgau-S-Bahn im Halbstundentakt fährt, verlagern
sich die Einkaufsströme. „Viele Freiburger kommen zum Einkaufen nach Waldkirch“, freut sich der
slowcity-Sprecher. Der Erzeugermarkt sei kleiner, überschaubarer und vor allem authentischer als der Großmarkt
ums Freiburger Münster.
Supermarkt ersetzt Vielfalt
Das Ziel der „Nahversorgung“ treibt Steinhart auch noch in einem anderen Kontext um. „Im Stadtteil
Kollnau gab es früher 23 Einzelhandelsgeschäfte“, erinnert er sich, „heute gibt es noch einen
Edeka.“ Das macht nicht nur das Einkaufen für alte Menschen schwieriger, es schafft auch einseitige Abhängigkeiten.
Klar, dass er mit dieser Philosophie der Nähe auch den örtlichen Einzelhandel hinter sich schart.
Die härtere Nuss scheint die örtliche Gastronomie zu sein. Bis vor einigen Jahren hing der Luftkurort
Waldkirch am Tropf des subventionierten Kurtourismus. Quasi automatisch kamen so wochenlang residierende Kurgäste
in die Stadt. Diese müssen nun durch intelligentes Tourismusmarketing gewonnen werden. „Wir haben schon
frühzeitig auf die Karte des umweltorientierten Tourismus gesetzt“, erklärt Albrecht Nitz. Die Vernetzung
der Tourismusgesellschaften aus dem gesamten Zweitälerland erweist sich hier als strategischer Vorteil. „Wer
bucht schon eine Stadt oder ein Dorf, die Leute wollen wandern, Rad fahren, Ski laufen, gut essen und trinken und
auch noch Unterhaltung für ihre Kinder haben“, weiß Nitz aus Erfahrung. Da wird eine Stadt schnell
zu klein.
Waldkirch besinnt sich schon seit längerem auch in der touristischen Vermarktung auf das Besondere: 200 Jahre
Tradition im Drehorgelbau und die Edelsteinschleiferei. Beides ist in Museen und in noch aktiven Werkstätten
zu besichtigen. Der Orgelbau ist ein echter Besuchermagnet. Bei den jährlich stattfindenden Orgel-Schlemmerwochen
werden örtliche Handwerkskunst und regionale Gastronomie zusammengeführt. Nach anfänglicher Skepsis
empfinden es Köche inzwischen als Auszeichnung, ein „Orgelkoch“ zu sein. Umrahmt wird das kulinarische
Vergnügen mit Orgelkonzerten in den örtlichen Kirchen, mit Sonderausstellungen im Museum und mit öffentlichen
Darbietungen von Moritatensängern an der Drehorgel. Indes ist längst noch nicht jeder Koch ein Orgelkoch,
und auch das regionale Marktangebot sieht nicht jeder als Qualitätsgewinn der besonderen Art. Hier herrscht
noch vielfach diejenige „gut bürgerliche“ Küche, die man einer slowcity nicht wünscht.
Ist am Ende Waldkirch doch eine Stadt wie jede andere? Eine anspruchsvollere Variante von “Unser Dorf soll
schöner werden”? „Mitnichten“, wehrt sich Wolfgang Plattmeier, der Bürgermeister der
ersten slowcity in Deutschland, Hersbruck. „Traditionelle Dorfverschönerungen sind oft nur Rückbesinnung,
sie bergen kein Potenzial für die Zukunft“, lenkt er den Blick auf den Kern der Idee. Als Mitglied der
slowcity-Prüfkommission kann Plattmeier die Waldkircher Vorzüge beurteilen: „Slowcitys arbeiten
an einer neuen Perspektive. Dazu muss man seine Wurzeln kennen. Darauf aufbauend wollen wir nachhaltig unsere Zukunft
entwickeln. Das braucht Zeit. In dieser Hinsicht sind auch die Waldkircher »langsam«. Sie nehmen sich
Zeit, an den langen Linien zu arbeiten.“
So gesehen ist in Waldkirch der Fortschritt eine Schnecke. Und das ist auch gut so.
Michael Adler |
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