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STADTSPAZIERGANG WIEN
Wer hat Angst vorm dritten Mann?
Es kommt vor, dass eine Stadt in einem Film eine Hauptrolle spielt, aber selten,
dass ein Film so sehr Teil der Identität einer Stadt wird, wie das bei „Der dritte Mann“
mit Wien geschehen ist. Ein Stadtspaziergang spürt dieser engen Beziehung nach.
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Foto: Canal+
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Die meisten Filme haben ein Ablaufdatum und verschwinden dann in der Versenkung. Selten sind sie
Ausnahmeerscheinungen, die auch nach Jahrzehnten immer noch – fast – jeder kennt.
„Casablanca“ ist so ein Film. Oder „Der dritte Mann“. Dieser Film, der im
Spätherbst 1948 im kriegszerstörten Wien gedreht wurde, gehört zu Wien wie der Stephansdom,
die Lippizaner oder das Riesenrad. Er prägte mit seinen bedrohlichen Schwarzweiß-Aufnahmen, den
nassen Pflasterstraßen oder der Verfolgungsjagd im Kanalnetz die unheimliche, morbide Seite des
Wienbildes in der Welt. Die Zithermelodie des Wiener Heurigenmusikers Anton Karas, die mit dem Film zum
Welthit wurde und damals sieben Wochen die US-Charts anführte, gehört bis heute mit Donauwalzer
und Radetzkymarsch zum identitätsprägenden Soundtrack der österreichischen Donaumetropole.
Vor 17 Jahren erfand Barbara Timmermann für ihr Familienunternehmen „Vienna Walks+Talks“
die Stadtführung „Der dritte Mann“, die den Film rund um den von Orson Welles gespielten
Penizillinschmuggler Harry Lime zweimal die Woche wieder lebendig werden lässt. Die Passion für
den Film hat die gelernte Historikerin und Anglistin nicht mehr losgelassen: Letztes Jahr hat sie die
erste große Monographie zum Filmklassiker veröffentlicht.
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Foto: Sacher
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Der Drehbuchautor Graham Greene logierte zur Recherche 1947 im Hotel Sacher. |
Orson Welles weigerte sich
Treffpunkt für die Führung ist jeden Montag und Freitag um 16 Uhr bei der Station Stadtpark
der U-Bahnlinie 4. Bald weiß man auch warum: Gegenüber, vorm Konzerthaus, steht die
legendäre Litfasßsäule, über deren steinerne Wendeltreppe im Inneren Harry Lime alias
Orson Welles im Wiener Kanalnetz verschwindet. 5000 Kilometer lang ist dieser heimliche Hauptdarsteller
des Films, in dem sich die finale Verfolgungsjagd abspielt, 2000 Kilometer davon sind begehbar. Dass Orson
Welles dieses unterirdische Wien nur im Film, nie aber wirklich betreten hat, ist eine der vielen
Anekdoten, die den Stadtspaziergang kurzweilig gestalten. Der launischer Star verweigerte
naserümpfend, sich dem Kanalgestank auszusetzen. Bei den wenigen Szenen, die vor Ort gedreht wurden,
hat ein Wiener Fleischermeister Herrn Welles und seine empfindliche Nase gedoubelt. Neunzig Prozent der
Kanalszenen wurden ohnehin im Londoner Studio gedreht.
Wem der Platz rund um die Litfaßsäule zu eng vorkommt, ist dem nächsten „Fake“
auf der Spur: Hier, mit dem Original, wurden nur die Innenaufnahmen gedreht. Für die
Außenaufnahmen wurde die Säule am weitläufigen Platz „Am Hof“ gut zwei
Kilometer weiter stadteinwärts überdimensioniert nachgebaut, wo sie im Film durch geschickte
Kameraführung auch die dortige riesige barocke Pestsäule ausblendet.
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Hier beginnt – wie damals im Film – der Abstieg in
Wiens Unterwelt.
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Foto: Vienna Walks +
Talks |
Abstieg ins Kanalnetz
So entsteht Schritt für Schritt – und es sind viele Schritte, die in den zweieinhalb Stunden
zu machen sind – ein kenntnisreiches „Making of …“ vom Entstehen eines
Filmklassikers. Die Teilnehmer lernen viele der Tricks kennen, mit denen der Regisseur Carol Reed und
seine Crew ihr Wienbild ziemlich frei gestalteten und zum bis heute gültigen Bild des zerstörten
Nachkriegswien verdichteten. Der Kameramann des Filmklassikers, Robert Krasker, wurde für seine
Arbeit mit dem Oscar ausgezeichnet.
Die Stadtführung beginnt mit dem Abstieg durch die Litfaßsäule ins Wiener Kanalnetz, das
hier – wie auch im Film – vom zehn Meter hohen und zwanzig Meter breiten eingewölbten
Lauf des Wienflusses dargestellt wird. Seit Anfang November 2003 ist der Abstieg mit Blick in den
Wientaltunnel auch der einzige Ausflug in die Unterwelt. Der anschließende halbstündige Marsch
mit flackernden Fackeln durchs feuchtkalte Dunkel entfällt seither für mehrere Jahre wegen
Umbauarbeiten. Barabara Timmermann sieht es mit einem lachenden und einem weinenden Auge: „Jetzt
bleibt halt mehr Zeit, Interessantes zum Film über der Erde zu zeigen, was bisher weggelassen werden
musste.“
Die Führung beschränkt sich nicht nur auf Filmanekdoten, sondern bettet den Film und seine
Story kenntnisreich in die Zeitgeschichte des von den vier Siegermächten besetzten Wiens unmittelbar
nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Denn Graham Greene recherchierte sein Drehbuch vor Ort und ließ viele
tatsächliche Begebenheiten einfließen. Als Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes logierte er
im Hotel Sacher, dem Wiener Sitz seines Arbeitgebers. Auch hier, unmittelbar hinter der im Krieg
völlig zerstörten Oper – die amerikanischen Bomberpiloten hatten sie für einen
Bahnhof gehalten – macht der Spaziergang halt. Um die Ecke liegt gleich das „Cafe
Mozart“, das auch im Film mitspielt, und heute im Schaufenster mit seiner Filmvergangenheit prahlt
– nicht ohne sich dabei ein paar grobe Schnitzer zu erlauben: Der britische Jahrhundertfilm wird
hier zum „Hollywoodklassiker“ gemacht und im Namen von Orson Welles fehlt das zweite
„e“.
Und plötzlich eine Melodie
Weiter geht es durch die Innenstadt. Mittlerweile hat sich Dämmerung über die Stadt gelegt.
Die Straßenbeleuchtung wirft lange Schatten. Wien wird wieder ein wenig zur Kulisse des
„Dritten Mann“. Wir haben die Innenstadt fast durchquert und sind an der Mölker Bastei
angelangt, die mit ihren barocken Bürgerhäusern und dem Kopfsteinpflaster auf der ansteigenden
Straße wie eine permanente Filmkulisse wirkt – und es auch schon oft war. Im „Dritten
Mann“ geht hier das Fenster auf und der plötzliche Lichtschein fällt auf Harry Limes
Gesicht im dunklen Hauseingang gegenüber, während dazu die wohlbekannte Zithermusik anhebt, die
immer dann erklingt, wenn Harry Lime ins Spiel kommt. Wir betreten ein altes Wiener Beisl – und
Anton Karas berühmtes Harry-Lime-Thema erklingt plötzlich tatsächlich: Eine junge Frau
sitzt am Tisch und spielt es für uns müde Wanderer. Eine Spur zu brav. Mit einem launigen Exkurs
über diesen musikalischen Geniestreich, der wesentlich zum Erfolg des Filmes beitrug, endet hier der
Spaziergang.
Spätestens jetzt stellt sich bei vielen der Wunsch ein, das viele neue Hintergrundwissen mit dem
Film selber zu konfrontieren. Und auch das ist – besonders nach der Freitagsführung –
leicht möglich: Das etwa zehn Minuten entfernte Burgkino spielt seit vielen Jahren
regelmäßig den Film – jeden Freitag um 22.55 Uhr und samstags um 15 Uhr – in der
reizvollen Originalfassung, die das Sprachengewirr im besetzten Nachkriegswien widerspiegelt.
Christian Höller
Weitere Informationen im Internet:
www.burgkino.at
www.derdrittemann.at
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Ausgeschlafen
anreisen Täglich fahren die Nachtzüge der CityNightline von Dortmund und
Amsterdam nach Wien und zurück. Der Zug aus dem Ruhrgebiet verlässt Dortmund um 18.40
Uhr, fährt über Bonn, Mannheim, Salzburg und erreicht Wien um 8.50 Uhr.
Sehenswürdigkeiten Alles über imperiale und
moderne Architektur, Kunst, Kultur, Shopping, Kaffeehäuser und Heurigen, Szenebars, Clubs
oder Würstelstände bis hin zur Hotelbuchung im Internet unter www.wien.info. Etwas hipper und jünger: www.viennahype.at, die jugendliche Website des
Wiener Tourismusverbandes.
Veranstaltungen Vorher sehen was los ist: Wiens Stadtmagazin
kennt alle Programme, happenings und Szenelokale – und ist online: www.falter.at
Museumsquartier Eines der zehn größten
Kulturareale der Welt und Wiens angesagtester Kulturtreff mit vielen Restaurants und Cafés.
www.mqw.at
Spaziergänge Rund 80 verschiedene Touren zu
unterschiedlichsten Themen in vielen Sprachen bietet an: www.wienguide.at |
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