Leseprobe Nächster Halt Polen Polen liegt näher an Berlin, als die Hauptstadtbewohner glauben. Wenn man die Berliner S-Bahn-Station Strausberg-Nord verlässt, sind es keine 60 Kilometer mehr. |
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Um von Berlin nach Polen zu kommen, braucht man ein S-Bahn-Ticket und ein Rad. Keine besondere Ausrüstung. Meine amerikanische Freundin Miranda hatte ihr Rennrad dabei, ich mein Trekkingrad, Fahrradkarte, Wasser, ein paar Euro. Das sollte reichen, denn Polen liegt viel näher an Berlin, als man glaubt. Doch es ist eine Nähe, von der in Berlin kaum jemand spricht, im Gegensatz zu Hamburgs Nähe zum Meer oder Münchens Nähe zu Italien, mit der in beiden Städten ständig angegeben wird. Mit Polen gibt in Berlin keiner an, im Gegenteil. Dass Polen quasi eine S-Bahn-Endhaltestelle dieser Stadt ist, das ist ihr schäbiges kleines Geheimnis. Warum ist das so? Der harmloseste Grund ist wohl der, dass Polen für Deutsche keinen besonders attraktiven Klang hat. Auch wenn junge Prenzlauer-Berg-Bewohner ihr Wochenende gern mal im Oderbruch verbringen, begleitet von den Kurzgeschichten von Judith Hermann: Polen ist nicht gerade ein etabliertes Ziel für Touristen. Schon die Ortsnamen sind so sperrig, als hätte beim Tippen der Buchstaben ein Kleinkind die Patschhände auf die Tastatur fallen lassen, unten links bei yxc. Mit dem Landesnamen ist es nicht viel besser. Polen. Das klingt so kalt wie Nord- und Südpol zusammen, und hatte Lech Walesa nicht immer eine Atemwolke vor dem Mund, wenn er auf den Werften von Danzig zu den Arbeitern sprach? |
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Es sollte ein heißer Tag werden, aber noch fröstelten wir, vor Morgenfrische und Aufregung, als wir dastanden und warteten, am Bahnsteig hoch über dem Alexanderplatz, am Rande des Ostens. So nah, dass ja auch alle Autodiebe mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln nach Berlin kommen könnten, und hier ist auch schon das Wort, dass in einer Geschichte über Polen eigentlich nicht vorkommen darf: Autodiebe. Wahrscheinlich – und das ist der zweite Grund, weshalb in Berlin keiner über Polen spricht – haben die Berliner einfach Angst, dass unsere Sachen, und schließlich auch wir selbst, im Osten verschwinden könnten. Es ist, so kommt es einem vor, ein Schritt in die falsche Richtung, einem Naturgesetz zuwiderlaufend, dem zufolge die Menschen immer nach Westen streben. In den Westen geht man, um ein besseres Leben zu finden. Im Süden machen wir Urlaub. Und vom Osten, vom Osten wird man verschluckt, man verschwindet in dieser riesigen Weite, die erst immer ärmer und dann immer staubiger und schließlich ganz eisig wird, bis sie sich irgendwann im Pazifik auflöst. Ich war noch nie so aufgeregt, während ich auf die S-Bahn gewartet habe, und noch nie war eine geplante S-Bahn-Fahrt bereits am Tag zuvor Gesprächsthema gewesen. Ob mein Handy da drüben noch funktionieren würde?, fragte ein Freund beim Abendessen. Und, auch wenn das vielleicht blöd klinge, sollten wir in Polen übernachten, wäre es bestimmt eine gute Idee, die Fahrräder mit auf die Zimmer zu nehmen. Ich würde euch da rausholen, hatte ein anderer Gast angeboten, was natürlich ein Witz war. Eine ironische Anspielung unter Leuten, die sich weniger über Polen selbst als über das Klischee von Polen lustig machen. Zwischen dem Berliner Nahverkehrsnetz und dem Osten liegt eine Landschaft
ohne besondere Merkmale, außer dass ihr jegliche besonderen Merkmale
fehlen: Wenn man hier an einem Sommernachmittag aus einem Koma erwachen
würde, in einem der riesigen Kornfelder, dann wüsste man wahrscheinlich
sofort, wo man sich befindet: in dieser staubigen Vorsteppe, wo Berlin
in den Osten übergeht. Klosterdorf. Grunow. Die Strecke ist perfekt
für Fahrradfahrer, flach, außer einem kleinen Anstieg nördlich
der Seelower Höhen, wo im Zweiten Weltkrieg die letzte große
Schlacht um Berlin stattgefunden hat. Normalerweise wären wir an dieser Stelle wahrscheinlich in unsere Kindheit abgebogen, hätten uns an den Westen erinnert, an seine Sicherheiten und kleinen Idyllen, aber wir fuhren ja in die andere Richtung, deshalb sprachen wir darüber, was wir an beruhigenden Geschichten über Polen gehört hatten. Dass die polnischen Schreiner angeblich viel besser und billiger sind
als die deutschen. Dass die polnischen Putzfrauen angeblich viel besser
und billiger sind als ghanaische oder gar deutsche Putzfrauen. Dass die
Polen wahnsinnig schöne Menschen sind, was man seit Jahren hört
und wie ein Gerücht klingt, aber von Polen-Besuchern jedes Mal begeistert
bestätigt wird. Und tatsächlich könnten die beiden polnischen
Brüder, die meine Küche renoviert haben, auch die Stars einer
Gucci-Kampagne sein, so bleich und androgyn, wie sie aussahen. |
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Merkwürdig, wie fremde Länder die Dinge anders erscheinen lassen, seltsam, dass man einem polnischen Wald immer mehr Bedeutung beimessen würde als einem deutschen. Die Dinge, so kommt es einem vor, leuchten von innen. Wir waren nur wenige Minuten in Kostrzyn, aber es waren wunderbare Minuten, und alles war so, wie wir uns das vorgestellt hatten, nur wilder. Wir sahen einen Fluss, der schmal war, das musste die Oder sein. Wir liefen über die enge Fußgängerbrücke auf ein heruntergekommenes leeres Zollhäuschen zu, das mit Konzertplakaten beklebt war. Ob die Ostgrenze schon gar nicht mehr bewacht wurde? Immerhin war heute der Tag, an dem die Polen über ihren EU-Beitritt abstimmten, und vielleicht waren sie schon beigetreten? Auf der Brücke kamen uns drei Männer entgegen, einer von ihnen schob einen Kinderwagen, in dem teilnahmslos ein kleiner dicker Junge saß. Wir dachten an Kinderhandel, und Miranda und ich lächelten uns glücklich an. Die Luft roch schlecht, aus einem Fabrikschornstein auf der östlichen Seite des Flusses quoll Rauch. Es war fünf Uhr nachmittags, und auf der Mitte der Brücke hielten wir an und starrten in das fast stehende Wasser, in das ein Fischer seine Angel gehängt hatte. Wir waren nur eine halbe Stunde auf der anderen Seite gewesen, aber es war ein Land, zu dem man sofort gehören wollte. Alles war so wild, wie man es eigentlich kaum zu hoffen wagt, wenn man heute eine Reise macht. Wir sahen über hundert Meter lange, überdachte Marktgassen, in die das Licht in den Farben der bunten Wellplastikdächer fiel, Waldgrün, Schwimmbadblau, Karmesinrot, Schmutziggelb. Es war Sonntag, kaum ein Mensch war zu sehen, und man konnte mit dem Fahrrad durch das bunte Licht rasen, begleitet vom hohen Surren der Kühlaggregate. Durch die Rollläden der Verkaufsstände sah man, was an den Werktagen verkauft wurde: Anglerbedarf, Billiglimonade, Frisuren, aufblasbare Schwimmmonster. Im Süßwarenladen des Bahnhofs fächelte sich die Verkäuferin mit einem Liebesroman Luft zu. Ihre Schokoriegel hingen schlaff im Regal, der Ausdruck kontinentales Steppenklima fiel mir ein, den am Vorabend, in einem kühlen Berliner Esszimmer, ein Gast erwähnt hatte. Hatte er nicht gesagt, diese Hitze käme direkt aus den Weiten Russlands? Ich konnte mich kaum noch an Berlin erinnern in diesem Moment, als das Licht orange von schräg oben in den Bahnhof fiel. Und plötzlich kam es mir so vor, als würden sich die Leute hier langsamer bewegen, wie man das aus den Tropen kennt: um Kraft zu sparen. Wir wollten neues Wasser kaufen, für die Rückreise, aber die Süßigkeitenverkäuferin hielt unseren Euro-Schein misstrauisch gegen die Sonne und gab ihn kommentarlos zurück. Nie gesehen.
Heike Faller Der Text (gekürzt) ist einem gerade erschienenen Buch entnommen: „Osten.
In sechsundzwanzig Geschichten um die Welt.“ blumenbar Verlag, 448
S., 24 Euro. |
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