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Spielen sorgt für Sicherheit
Verkehrsregeln zu beherrschen ist für
Kinder lebensnotwendig und auf den ersten Blick vielleicht wichtiger,
als auf Bäume klettern zu können oder zu wissen, dass
Kühe nicht lila sind. Aber für eine gesunde Entwicklung
müssen Kinder rennen, Rad fahren, toben und klettern. Kinder,
die viel draußen spielen, sind selbstbewusster, bewegen
sich sicherer im Verkehr und haben mehr Spaß am Lernen.
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Fotos: Marcus Gloger
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Wie die Gesundheitsforscher bestätigen,
ergab der Test bei den 10- bis 14-Jährigen einen Rückgang
der Fitness um 20 Prozent bei Jungen und um 26 Prozent bei Mädchen
gegenüber einem bereits schlechten Ausgangsniveau 1995.
Einen besonders drastischen Rückgang haben die Forscher in
den Bereichen Koordination und Ausdauer festgestellt, beides Fähigkeiten,
die für eine gesunde geistige und körperliche Entwicklung
unabdingbar sind. „Wir haben aus der Untersuchung erfahren,
dass allein in den letzten fünf Jahren bei unseren Kindern
einfache motorische Fähigkeiten wie Ballprellen oder
Hochspringen aus dem Stand langsam zu verkümmern scheinen“,
sagt Hans Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. „Wenn
diese Entwicklung so weiter gehen sollte, dann werden wir
es eines Tages nur noch mit Jugendlichen zu tun haben, die mit
verkümmerter Muskulatur, Übergewicht, einem unbelastbaren
Herz-Kreislauf-System und einem Riesenfinger vom Mouse-Clicken
vor ihrem Computer sitzen.“ Weil es so weit nicht kommen soll, müssen die Kinder in Bewegung
gebracht werden. Die AOK appelliert an die Schulen. Aber natürlich
sind auch die Familien gefragt. Kinder, die sich ihre freie
Zeit alleine organisieren müssen, etwa weil ihre Eltern arbeiten,
sind am ehesten gefährdet, ihre Nachmittage vor der Spielekonsole
abzusitzen. Väter und Mütter, die mehr Zeit haben und
die es sich erlauben können, bringen ihre Kinder nachmittags
zum Ballett, zum Tennis oder zum Reiten – vorzugsweise bewegungsarm
und vermeintlich sicher mit dem Auto. Denn vielen Eltern ist es
schlichtweg zu gefährlich, den Nachwuchs unbeaufsichtigt
zum Radfahren oder Spielen nach draußen zu lassen.
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Das Kinder- und Jugendhilfegesetz schreibt
vor, dass bei der Bauleitplanung die Interessen von Kindern zu
berücksichtigen sind. Trotzdem planen Erwachsene immer noch
Siedlungen mit breiten Straßen, Parkplätzen und abbiegungsfreundlichen
Kreuzungen – aber keine Freiräume für Kinder. |
Die größte Gefahr für Kinder geht vom Straßenverkehr
aus. Die Zahl der Todesfälle sinkt zwar kontinuierlich,
aber trotzdem kam im Jahr 2001 in Deutschland durchschnittlich
alle 12 Minuten ein Kind im Straßenverkehr zu Schaden.
231 Kinder wurden bei Autounfällen tot gefahren, ein
Drittel von ihnen starb als Mitfahrer im Pkw, die anderen Kinder
waren mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs. Insgesamt
verunglückten rund 43000 Kinder unter 15 Jahren bei Straßenverkehrsunfällen.
Davon wurden mehr als drei Viertel (80 Prozent) leicht und fast
ein Fünftel (19 Prozent) schwer verletzt. Drei Viertel der
Kinder verunglücken innerhalb geschlossener Ortschaften.
Besonders unfallträchtig sind dicht besiedelte Wohngegenden
mit mangelnden Spielplätzen und parkenden Autos am
Straßenrand, alles nachzulesen im Bericht des Statistischen
Bundesamtes. In manchen Stadtvierteln steigt gar die Zahl
der verletzten Kinder – und das bei schrumpfender
Kinderzahl.
„
Kinder benötigen für ihre körperliche, geistige
und soziale Entwicklung einen Freiraum für Spiel, Bewegung
und Geselligkeit – möglichst in der Nähe ihrer
Wohnung“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin
Maria Limbourg, die sich an der Universität Essen seit Jahren
mit der Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr beschäftigt
(siehe auch Interview rechts). Viele der im freien Spiel erworbenen
Fähigkeiten seien gerade im Straßenverkehr besonders
wichtig, und Defizite in diesen Bereichen erhöhten wiederum
das Unfallrisiko. Ein Teufelskreis, denn immer mehr Autos, Straßen
und Parkplätze haben den Kindern in den letzten Jahrzehnten
ihre Spiel- und Freiräume genommen.
Viele Umwege erhöhen die Ortskenntnis Nur Kinder, die ihre motorischen Fähigkeiten täglich
trainieren, die Selbstbewusstsein im Spiel erlangen
und selbständig ihre täglichen Wege zurücklegen
können, bewegen sich sicher im Straßenverkehr.
Bewegung ist deshalb kein Unfallrisiko, sondern ein
wirksames Mittel zur Unfallverhütung. Alle neueren
Ansätze der Verkehrserziehung setzen deshalb – besonders
in Kindergarten und Grundschule – auf die Förderung
der Bewegungssicherheit. Kinder, die mit dem Auto
von Termin zu Termin gefahren werden, haben keine Chance. Und
oft sind es gerade die eiligen, autofahrenden Eltern, die andere
Kinder auf ihrem Schulweg gefährden oder durch Anhalten
auf dem Bürgersteig vor der Schule den laufenden und radfahrenden
Kindern den Weg versperren.
Auch wenn Erziehungswissenschaftler immer noch den Erwerb
theoretischer Kenntnisse hochhalten, das Üben im „Schonraum“ propagieren
und den Gebrauch von „unfallträchtigen Gegenständen“ wie
Bälle, Roller, Inline-Skates und Fahrrad für die Kinderunfälle
verantwortlich machen: Kinder müssen raus. Fahrrad fahren
kann man nicht am Computer lernen, das Überqueren einer
Straße nicht auf dem Papier üben und das Stolpern
ohne zu fallen nur durch Stolpern üben. Kinder müssen
selbst ihre Umgebung erkunden, Umwege machen dürfen,
selbst entdecken wo sie wohnen, etwas erleben auf dem Schulweg,
lernen sich sicher auszukennen und einschätzen können,
wie weit die Wege sind, die sie täglich zurücklegen.
„
Kindliches Fehlverhalten ist die Ursache von ca. 50
Prozent der Fußgänger- und Radfahrunfälle im
Kindesalter. Bei den anderen 50 Prozent liegt das Fehlverhalten
bei den beteiligten Kraftfahrern“, sagt Maria Limbourg.
Trotzdem setzt die Verkehrserziehung immer noch allein bei den
Kindern an und legt den Schwerpunkt auf Sicherheitstraining.
Vorgeschrieben ist in der Schule nur die praktische Fahrradprüfung
im 3. und 4. Schuljahr. „Weil viele Lehrer diesbezüglich
nicht ausgebildet sind, überlassen sie die Verkehrserziehung
gerne externen Kooperationspartnern wie der Verkehrswacht oder
der Polizei, die dann mit den Kindern Verkehrsregeln einstudieren“,
sagt Philipp Spitta, „da könnte man mehr draus machen.“ Spitta
ist Grundschullehrer in Herne und setzt sich seit vielen Jahren
für eine umwelt- und gesundheitsorientierte Mobilitätserziehung
an der Schule ein.
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Sobald Kinder Platz haben, entdecken sie
die Freude an der Bewegung. |
Viele Kinder auf weiterführenden Schulen kommen häufig
gar nicht mehr mit einer wie auch immer gearteten Verkehrserziehung
in Berührung. Die Frage, warum Verkehrserziehung scheinbar
schwer im Schulalltag unterzubringen ist, beantwortet Lothar Eisenmann
vom ifeu-Institut Heidelberg: „Es gibt kein eigenes
Fach ‘Verkehrserziehung’ und deshalb ist
das Einbringen in den Unterricht und die Ausgestaltung der Inhalte
allein vom Engagement der Schulleitung oder des einzelnen Lehrers
abhängig. Sie müssen selbst aktiv werden und sich unter
großer Mühe Unterrichtsmaterialien zusammensuchen.
Diese hohe Hürde nehmen viele Lehrer nicht.“ Eisenmann
leitet das von seinem Institut gemeinsam mit dem VCD getragene
Projekt „Nachhaltige Mobiliätserziehung in der
Schule“, das vom Umweltbundesamt (UBA) gefördert wird. „Wir
freuen uns, dass der VCD die Chance hat, mit diesem Projekt der
Mobilitätserziehung auf die Sprünge zu helfen“,
sagt Michaela Mohrhardt, Verkehrsreferentin beim VCD und Mitinitiatorin
des Mobilitätserziehungsprojektes.
Nachhaltige Mobilitätserziehung
Über 500 Schulen, Schulämter und Experten hat die
Projektgruppe deutschlandweit nach beispielhaften Unterrichtsideen
und Projekten gefragt. Aufgrund dieser Recherche entwickeln
das ifeu-Institut und der VCD im Laufe diesen Jahres einen Beratungsleitfaden,
der an zehn Modellschulen in Deutschland getestet wird. „Die
Ergebnisse aus dem Praxistest werden uns zum Schuljahr 2004/2005
vorliegen und für alle interessierten Schulen verfügbar
sein“, verspricht Projektleiter Eisenmann. Der VCD plant
im Anschluss daran, die Vielfalt der eingegangenen Materialien
Lehrern zugänglich zu machen.
„
Bislang tun sich die Schulen noch mit den Begriffen Mobilitäts-
oder Verkehrserziehung schwer“, hat Eisenmann
festgestellt. Nicht alle Bundesländer haben die Empfehlung
zu einer umwelt- und sozialorientierten Ausrichtung
der Verkehrserziehung der Kultusministerkonferenz
von 1994 umgesetzt. Nur Hamburg, Niedersachsen und das Saarland
haben ihre Lehrpläne dahingehend geändert. Deshalb fordert
Grundschullehrer Spitta, den Stellenwert der Verkehrserziehung
bundesweit neu zu definieren und eine umweltorientierte Mobilitätserziehung
endlich als verbindlichen Bestandteil der Aus- und Fortbildung
in allen Bundesländern festzuschreiben. „Das Gros der
uns zur Verfügung stehenden Materialien stellt die Verkehrswirklichkeit
nicht in Frage. Vielfach werden diese Materialien von der Automobilindustrie
gesponsert, die nun einmal nicht das Interesse hat, Kinder, Eltern
und Lehrer zum Ausstieg aus der Autogesellschaft
zu erziehen“, beklagt sich Spitta.
„
Eine Mobilitätserziehung soll Kindern Wege aufzeigen, wie
sie sicher und selbstständig mobil werden können. Positive
Erlebnisse mit umweltfreundlichen Verkehrsmitteln
wie Fahrrad, Bus oder Bahn und eine kritische Auseinandersetzung
mit den Vor- und Nachteilen des Autoverkehrs, sollen die Schüler
zu einer reflektierten Wahl des Verkehrsmittels befähigen“,
formuliert Spitta seinen Anspruch an eine umweltorientierte
Mobilitätserziehung.
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An guten Beispielen mangelt es nicht mehr.
Die ÖPNV-Betriebe sind vielerorts aufgewacht und haben die
Kinder als ihre Kunden entdeckt. „Es gibt mittlerweile viele
sehr gute Materialien, von Anleitungen zu ÖPNV-Ralleys, Stadtteilerkundungen,
Einrichten von Fahrradwerkstätten über Planung von Schulausflügen
mit der Bahn bis zum Kindergeburtstag auf dem Stellwerk, bei denen
junge Verkehrsteilnehmer auch mal andere Verkehrsmittel als
das Auto kennenlernen können“, sagt Michaela Mohrhardt. „Unter
Verkehrserziehung darf in Deutschland nicht
länger die Anpassung der Kinder an das vom Auto dominierte
Verkehrssystem verstanden werden“, sagt die VCD-Expertin
und fordert statt dessen einen „kindgerechten Verkehr“.
Denn trotz aller Erziehung und gutem Willen: Das verkehrsgerechte
Kind ist eine Illusion. Niemals werden sich Kinder so verhalten
können, dass sie der rasende Autoverkehr nicht gefährdet.
Wie eine Umwelt aussieht, in der Kinder gefahrlos spielen können,
in der sie sich außerhalb der genormten Spielreservate sicher
bewegen können, wissen alle, jedenfalls alle Kinder. Michaela
Mohrhardt hat im Rahmen des zweiten VCD-Kinderverkehrsgutachtens
1400 Fragebögen mit Bildern und Texten von Grundschülern
aus ganz Deutschland ausgewertet. „Am liebsten spielen Kinder
draußen. Ganz oben stehen, was die Beliebtheit betrifft,
Hof und Garten. An zweiter Stelle steht der Spiel- und Bolzplatz,
an dritter der Sportplatz und an vierter Wald und Wiese. „Viele
Kinder gaben an, dass sie gerne „auf dem Bauernhof helfen“, „Buden
aus Ästen bauen“, „auf Bäume klettern“, „Seil
hüpfen“ oder „Tiere beobachten“. „Die
Kinder haben eine genaue Vorstellung davon, wie der Verkehr
der Zukunft aussehen müsste“, berichtet Mohrhardt. Die
vom VCD befragten Kinder wünschen sich vor allem mehr Grün,
mehr Platz zum Spielen und sichere Querungshilfen über die
Straßen, aber auch visionäre Vorschläge zu Elektro-
oder Wasserstoffautos beschäftigen sie.
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Beim Hoola-Hoop, Seilspringen oder Einradfahren
trainieren Kinder spielerisch Koordination, Gleichgewicht
und Reaktionsfähigkeit – und Spaß macht es auch
noch. |
ielen Kindern und Jugendlichen kommt es gar nicht mehr in den
Sinn, dass sie in ihrem Wohnviertel spielen oder sich treffen könnten.
Sie müssen den Spaß an Bewegung und umweltfreundlicher
Mobilität neu entdecken. Längst liegt mit der
jeden Raum überwindenen Allgegenwart des Internets im Kinderzimmer
New York nur einen Mausklick entfernt – was gibt es dagegen
schon im zugeparkten Castrop-Rauxel zu entdecken? Und weil sie
eh in den Ferien mit den Eltern nach Mallorca fliegen, warum sollen
sie Lüdenscheid erobern? Der VCD hat versucht, mit seiner
Kampagne „Auf Kinderfüßen durch die Welt“ die
Kinder zu bewegen, den Spaß an umweltfreundlicher Mobilität
zu entdecken. „Tausende Kinder lernten dadurch im letzten
Jahr etwas über den Zusammenhang zwischen Klimaschutz und
Nachhaltigkeit“, sagt Kampagnenleiterin Mohrhardt, „und
sie haben erfahren, wie viel Spaß es macht, zu Fuß,
mit dem Bus, dem Fahrrad oder mit dem Roller unterwegs zu sein.“
Kindern Platz machen
„Du hast nur ein Leben, also pass’ darauf auf“ nennt
die EU zynisch ihre neueste Verkehrserziehungskampagne
und gibt vermutlich Millionen Euro dafür aus, die Kinder noch
weiter zu domestizieren. Und das alles nur, damit sich die Verkehrsverhältnisse
nicht ändern müssen.
Kinder haben per UN-Charta ein Recht auf Leben, auf Entwicklung,
auf Bildung. Um das zu realisieren, brauchen sie Verbündete:Sie
brauchen Eltern, die mit ihnen zu Fuß gehen, Rad fahren,
Busse ausprobieren oder auch mal mit dem Zug verreisen, statt sie
ständig mit dem Auto durch die Gegend zu kutschieren. Sie
brauchen engagierte Lehrer, die sich als Partner der Kinder in
der Mobilitätserziehung verstehen und denen es ein Anliegen
ist, sich im Unterricht kritisch mit der Verkehrsrealität
auseinanderzusetzen. Sie brauchen Stadt- und Verkehrsplaner, die
Kindern wieder Platz einräumen, die ihnen Wege zugestehen,
auf denen sie sich sicher bewegen können. Sie brauchen Politiker,
die den Autoverkehr verlangsamen, ihn runterbremsen statt beschleunigen – das
gilt natürlich auch für Eltern und Lehrer hinterm Steuer.
Und schließlich müssen alle Autofahrer lernen, dass
gegenüber Kindern nur ein Ziel vertretbar ist: Vision
Zero – Null Verkehrsopfer. Weil Länder wie
die Schweiz, Schweden und die Niederlande das Ziel Vision Zero
seit langem verfolgen, die Bundesregierung in Deutschland aber
trotz aller Appelle beim herkömmlichen Sicherheitstraining
bleibt, erarbeitet der VCD zur Zeit einen Masterplan Vision Zero,
den er Ende 2003 dem Bundesverkehrsminister
vorlegen wird.
Leider liegen all diese Erkenntnisse seit Jahren vor. Damit
unsere Kinder sich zu selbstständigen, kreativen Menschen
entwickeln können, reicht es nicht, ihnen die Welt im Klassenzimmer
oder am Fernseher zu erklären, sie müssen sie selbst
entdecken können. Uta Linnert
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