„Autofahren wird immer sicherer.“ Diese Aussage
ist beinahe schon ein Allgemeinplatz. Leider trifft
sie allenfalls auf die Zahl der Verkehrstoten in Westeuropa,
Nordamerika, Japan und Australien zu. In diesen
sogenannten Hochmotorisierten Ländern (HML) konzentrieren
sich rund 65 Prozent des weltweiten Fahrzeugbestandes.
Aber fast 90 Prozent der Verkehrstoten weltweit stammen aus den
anderen, den Niedrigmotorisierten Ländern (NML).
Vor zwei Jahren versuchte eine Studie im Auftrag der Weltbank,
die tatsächliche Zahl der Verkehrstoten der Erde für
das Jahr 1999 zu erfassen. Die Verkehrswissenschaftler
Goff Jacobs, Amy Aeron-Thomas und Angela Astrop sammelten alle
verfügbaren Daten und erarbeiteten Methoden zur Erhellung
der gigantischen Dunkelziffer. Das Ergebnis war erschreckend:
bis zu 850000 Tote, 35 Millionen Verletzte und Unfallkosten in
Höhe von 500 Milliarden US-Dollar jährlich. Tendenz
stark steigend!
Die Daten sind überholt, nicht aber die Erfassungsmethode.
Goff Jacobs geht für das Jahr 2001 von 900000 Verkehrstoten
aus. 1,26 Millionen Tote für das Jahr 2000 schätzt
die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in
ihrem aktuellen Bericht. Das entspricht acht abgestürzten
Jumbojets, 28 ICE-Unglücken wie in Eschede oder
zweimal dem Untergang der Titanic – täglich!
Die Verkehrsträger Bahn oder Flugzeug würden
bei einem so hohen Unfallrisiko sofort verboten. Bei den
Straßenverkehrstoten ist es anders. Es sind
vergessene Tote, die unbemerkt von der Weltöffentlichkeit
hauptsächlich auf den Straßen der armen Länder
elend zugrunde gehen. Erschreckend ist die Zahl der totgefahrenen
Kinder: 250000 – davon 96 Prozent in den Niedrigmotorisierten
Ländern.
Alle sind sich einig, dass die Zahl der Verkehrstoten bis zum
Jahr 2020 dramatisch ansteigen wird. Schätzungen schwanken
zwischen 1,3 und 1,5 Millionen. Das Heidelberger Umwelt und Prognose
Institut (UPI) geht gar von 2,5 Millionen Verkehrstoten
im Jahr 2030 aus. Ursache ist schlicht die Motorisierung der
Dritten Welt.
Zur Zeit gibt es weit über 820 Millionen Motorfahrzeuge
auf der Erde. Kommt es nicht zu wirklich dramatischen globalen
Rezessionen, wird sich diese Zahl bis 2020 verdoppeln, geht es
im derzeitigen Tempo weiter, verdreifacht sie sich. Schon ein
geringes Wirtschaftswachstum bewirkt enorme Motorisierungseffekte.
Afrika, der ärmste Kontinent der Erde, hat die höchsten
Todesraten. In manchen Ländern ist das Risiko eines Verkehrsteilnehmers,
in einen tödlichen Unfall verwickelt zu werden, 100-mal
höher als in England. Die Straßen sind schlecht, die
Fahrzeuge marode, die Fahrer ungeübt. Die am häufigsten
in Unfälle verwickelten Fahrzeuge sind private Busse
und Trucks mit Bänken auf der Ladefläche. In Nigeria
werden diese Fortbewegungsmittel im Volksmund als „fahrbare
Leichenhäuser“ und „fliegende Särge“ bezeichnet.
Sie sind alt, schlecht gewartet, überladen und werden meist
aggressiv und nicht selten betrunken gefahren.
In Lateinamerika ist der Anteil der Männer an den Verkehrstoten
mit 80 Prozent überdurchschnittlich hoch. Der Machismo
scheint hier zusätzlichen Tribut zu fordern. Besonders gefährdet
sind aber die Fußgänger: Starben in Sao Paulo binnen
eines Jahres 1621 Fußgänger durch Kontakt mit
einem Motorfahrzeug, waren es in New York 271 und in Tokio 43!
Der Gipfel des Leichenbergs befindet sich in Asien. Dort gibt
es nur 16 Prozent der Motorfahrzeuge, aber 50 Prozent der Unfalltoten.
Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde stellen
auch die meisten Toten: Indien mit hochgerechnet 130000 und China
mit 150000 im vergangenen Jahr. Kleinere Länder wie Vietnam
verzeichnen ebenso ein exponentielles Wachstum an Toten. 60 bis
75 Prozent der Opfer in Asien fahren Zweiräder oder sind
Fußgänger. Nimmt man die privaten Busse und Minibusse
hinzu, kommt man auf 90 Prozent. In den Hochmotorisierten Ländern
dagegen sind die Autofahrer am stärksten gefährdet.
Die Einführung von Gurtzwang und Airbag würde in den
Niedrigmotorisierten Ländern also kaum
Effekte zeigen. Schlechte Vorbilder
Straßen sind um so schlechter, je ärmer die Menschen
sind, die dort wohnen. In den Suburbs und Slums oder auf dem
Land gibt es keine Gehsteige, nur ungesicherte Straßen.
Der Straßenverkehr fordert gerade von den Ärmsten
den größten Tribut: Am meisten betroffen sind Kinder
und junge berufstätige Männer. Da zudem Unfallversicherung
für die Mehrheit ein Fremdwort ist, bedeutet schon
ein Unfall mit Verletzungsfolgen ein Desaster für die
ganze Familie. Motorverkehr stürzt die Armen in noch
größere Armut, und das trifft bei 35 Millionen Verletzten
jährlich nicht wenige.
Ist in Hamburg spätestens fünf Minuten nach der Unfallmeldung
eine Ambulanz oder ein Hubschrauber zur Stelle, werden in Afrika
die Opfer in der Regel nach längerer Zeit von Passanten
geborgen und mehr schlecht als recht ins nächste Hospital
gebracht. Wenn sie bis dahin noch nicht tot sind, ist die Chance,
durch unzureichende medizinische Behandlung, das Zeitliche zu
segnen, sehr hoch.
Doch der Fingerzeig auf die Dritte Welt ist falsch, denn sie
wird von den HML aus motorisiert, deren Vorbildfunktion unbestritten
ist. Es gab bisher drei große Motorisierungswellen
auf der Erde: Die erste erfasste die USA Mitte der 30er Jahre,
die zweite erreichte Westeuropa, Japan und Australien nach dem
Zweiten Weltkrieg. Unglaublich viel Geld wurde in Straßen,
Autobahnen und die autogerechte Stadt gesteckt; Kraftfahrzeuge
als Gipfel des Wohlstands verkauft; Mobilität zum Fetisch
erklärt. Die dritte Motorisierungswelle zog ab den 70er
Jahren die Dritte Welt und Osteuropa – beschleunigt ab
1990 – in einen Strudel ungeheuren Ausmaßes.
Allen Motorisierungswellen ist gemein, dass sie sich rücksichtslos
ausbreiten und in der ersten Phase – etwa 25 Jahre – als
Tribut an die neue Zeit verstanden werden. Erst dann wird die
Gefährdung des Gesamtbetriebs – inklusive der
Profite – begriffen.
In den HML war dies in den 70er Jahren der Fall, als die
Zahl der Verkehrstoten neue Rekorde erreichte: 1972 starben
auf US-amerikanischen Straßen 55000 Menschen.
Dies überbot in einem Jahr die Gesamtverluste der USA in
Vietnam. In den 15 EU-Ländern kamen 1970 im Straßenverkehr
gut 80000 Menschen ums Leben.
Sicherungsmaßnahmen und die eingebaute Vorfahrt des Autos – ein
Begriff des Verkehrswissenschaftlers Frank Markus Schmidt – schränken
seitdem die Todeszahl auf hohem, aber offensichtlich gesellschaftlich
akzeptiertem Niveau ein. In großen Teilen Asiens, Afrikas
und Südamerikas ist davon nichts zu spüren. Will
sich das System nicht gefährden, werden auch hier diese
Maßnahmen kommen müssen.
1973 schätzte der damalige Federal Highway Administrator
der USA, Norbert T. Tiemann die Gesamtzahl der durch Straßenverkehr
Getöteten auf 25 Millionen. Es wundert daher nicht, dass
Goff Jacobs – allerdings in einer privaten Schätzung – heute
auf 40 bis 50 Millionen kommt. Das ergibt die unvorstellbare
Zahl von bis zu 2,25 Milliarden Verletzten. Geht der Motorisierungstrend
so weiter, und bisher spricht nichts dagegen, werden sich diese
Zahlen – trotz fallender Todesraten – in den kommenden
30 Jahren verdoppeln.
Verkehrsunfälle werden dann weltweit
die dritthäufigste Todesursache sein. Klaus Gietinger
|