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Radfahren in England
Bewegung wärmt
Der Sea to Sea-Radweg im Norden Englands
verbindet die Küste der Irischen See mit der Nordsee. Wer
ihn fährt braucht gute Kondition, funktionelle Wetterkleidung
und ein robustes Reiserad. Zur Belohnung gibt es grandiose Ausblicke,
rauhe Natur, liebliche Täler, Wolkenschauspiele – und
viel frischen Wind.
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An Durchkommen ist nicht zu denken: Dutzende Schafe laufen blökend
vor einem Traktor her und versperren die schmale Straße.
Die Radfahrer steigen ab und schieben ihre Räder unter den
interessierten Blicken der zotteligen Tiere am Straßenrand
vorbei. Für die kommenden zwei Stunden sind der motorisierte
Hirte und seine kleine Herde die einzigen Lebewesen, die ihnen
begegnen. |
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Ein bunt zusammengewürfeltes Dutzend wetterfester Radfahrer zwischen 30
und 60 Jahren hat sich vorgenommen, die Radroute C2C in fünf Tagen zu
fahren. Der C2C – lautmalerische Abkürzung für Sea to Sea – verbindet
im Norden Englands die Küste der Irischen See mit der Nordsee und gilt
als anspruchsvolle Tour. Die Kleidung der Radfahrer verrät ihre unterschiedlichen
sportlichen Erwartungen: Einige präsentieren sich in voller Mountainbike-Montur,
andere – wie Stephanie Hermsen – kommen in Freizeitkleidung.
Reiseveranstalterin Hermsen ist aus Norddeutschland angereist,
um die C2C-Tour zu testen. „Mein Publikum ist die etwas ältere Generation
von Genussradlern, die sich in ihrem Urlaub neben dem Sport auch
für Kultur interessieren. Ich bin gespannt, ob die Strecke in mein
Programm passen würde“, sagt die blonde Urlaubsfachfrau.
Auf eigens angelegten Radwegen und kleinen Straßen führt die Tour
durch wenig besiedelte Landstriche nahe der Schottischen Grenze und überquert
dabei die Pennines, die höchste Bergkette Englands. Schon seit Jahrzehnten
verbindet der Wanderweg Coast to Coast die beiden Küsten und hat bereits
Kultstatus erreicht. Angeblich ist es für jeden Engländer staatsbürgerliche
Pflicht, diesen einmal im Leben zurückzulegen. Den C2C hat die
Organisation Sustrans, die sich in England für den Ausbau eines landesweiten
Radwanderwegenetzes einsetzt, im Jahr 2001 eröffnet. Ausgangs-
und Zielpunkte dieses Radweges sind Whitehaven oder Workington an der
Westküste und Newcastle upon Tyne und Sunderland an der Ostküste.
Prinzipiell ist die 134 Meilen bzw. 215 Kilometer lange Route in beide Richtungen
befahrbar. Es empfiehlt sich aber unbedingt an der Irischen See zu
starten, denn nur dann haben Radwanderer Wind und Wetter, die ständigen
Begleiter einer Radtour im Norden Englands, im Rücken, was bei der Bewältigung
der sportlich herausfordernden Strecke nicht zu verachten ist.
Vor dem Start am Hafenbecken in Whitehaven tauchen alle den
Hinterreifen ihres Rades ins Wasser der Irischen See. Das junge
Paar aus Darmstadt, das
die Tour mit den mitgebrachten eigenen Rädern fährt, passt besonders
auf, dass bei diesem Ritual kein Salzwasser an die empfindlichen Ritzel der
Hinterräder kommt.
„Heute habt ihr Pech mit dem Wetter, aber morgen wird
es bestimmt besser.“ David
Noblet verbreitet Zuversicht und gute Laune trotz kalten Windes und leichten
Regens. Der stets gut gelaunte Mittvierziger ist der Mann für alle Fälle.
Als Radreiseveranstalter und Inhaber von „Holiday Lakeland“ organisiert
und begleitet er die Fahrt der Radgruppe mit seinem Wohnmobil, das als mobile
Werkstatt dient, falls jemand unterwegs einen Platten bekommt. Heute stellt
er erst mal die Mountainbike-Leihräder richtig ein, sorgt dafür,
dass jeder ausreichend mit Getränken versorgt ist und gibt letzte Hinweise
für
die Fahrt aus der Stadt hinaus. |
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Foto: Linne Reisen |
Für deutsche Radfahrer
ist Englands Norden weitgehend unbekanntes Terrain. |
Ohne Pannen und Stürze
Richtung Osten ändert sich die Landschaft rasch, bald sind
die Ausläufer des Lake District erreicht. Runde, grüne
Bergkuppen und saftige Wiesen soweit das Auge reicht. Der Wind
hat die Regenwolken weg geblasen. In Zeitraffergeschwindigkeit
ziehen sie dahin. Das unermüdliche Schauspiel von Wolken
aller Weiß- und Grautöne verwandelt den Himmel zu
einer sich ständig verändernden Kulisse, die die Landschaft
mal lieblich, mal dem Weltuntergang bedrohlich nahe erscheinen
lässt. Der Weg führt auf und ab durch gewellte Berge,
die mit einem quadratischen Raster gerader Hecken und alter
Steinmauern überzogen sind.
Zur Mittagsrast im gemütlichen Gasthaus „Kirkstyle Inn“ treffen
die letzten Nachzügler erst so spät ein, dass die Küche geschlossen
hat. Nach 14 Uhr bedauert der freundliche Wirt, ihnen nichts Warmes mehr
servieren zu können. Während sich alle anderen mit regionalem Käse,
Salat oder knusprigen Kartoffelecken gestärkt haben, bleibt ihnen
nur der „Tea for two“. Trotzdem ist die Stimmung gut, die ersten
17 der insgesamt knapp 30 Tagesmeilen, das sind etwa 45 Kilometer,
sind ohne Pannen oder Stürze bewältigt.
Der Start in den Nachmittag beginnt in voller Regenmontur: Erst
Sturzbäche,
später Bindfäden machen den Radfahrern das Leben schwer. Erst
mit der Ankunft am Hotel reißt der Himmel auf. Die mit Matsch- und Dreckspritzern übersäte
Gruppe genießt noch vor dem Umziehen eine Tasse Tee auf dem Rasen vor
der Unterkunft. David, der alles Gepäck mit seinem Bus transportiert hat,
gratuliert allen zur erfolgreichen ersten Tagesetappe und macht Hoffnung auf
trockeneres Wetter am nächsten Tag.
Am Abend werden die ersten Gesetze fürs Radfahren in Nordengland aufgestellt.
Erstens: Die Beschilderung des Radweges ist vorbildlich. Niemand muss Sorge
haben, sich zu verfahren. Zweitens: Das Wetter kann innerhalb weniger
Stunden von einem Extrem ins andere umschlagen. Deshalb ist es gut, sowohl
Sonnencreme als auch Regenzeug griffbereit im Tagesgepäck zu haben.
Drittens: Der erste Tag, laut Streckenbeschreibung und Höhenprofil
der Karte recht einfach, lässt erahnen, wie sehr sich die Strecke ziehen
kann, wenn erst die Steigungen länger und steiler werden.
Tagesetappen um die 50 Kilometer Länge sind nicht zu unterschätzen,
unabdingbare Vorraussetzung ist aber funktionelle Bekleidung: Nach diesem
ersten Tag auf den harten und schmalen Mountainbike-Sätteln will
am nächsten Tag niemand mehr auf eine gepolsterte Radhose verzichten.
Stephanie Hermsen, die keine eigene Radhose im Gepäck hat, freut sich über
die ausgeliehene Ersatzhose einer Mitradlerin und nimmt sich vor, diese Empfehlung
unbedingt an ihre Kunden weiterzugeben.
Nicht immer muss die Gruppe gemeinsam fahren. Auf der zweiten
Etappe spalten sich am Stone Circle drei Abenteurer ab und
wählen die „Old Coach
Road“, eine der alternativen Offroad-Strecken, auf denen anspruchsvolle
Mountainbiker voll auf ihre Kosten kommen. Für den Rest der Gruppe
beginnt am stillgelegten Bahnhof von Keswick die Weiterfahrt durch ein einsames
und enges Flusstal. Das Besondere: Die Radfahrer fahren auf einer alten,
stillgelegten Bahntrasse. Statt Zügen queren nun die Radler auf den vielen
schönen alten Eisenbahnbrücken den Fluss.
Sportlicher Höhepunkt der C2C-Route ist der anstrengende Aufstieg hinauf
in die Pennines. Der erste Gipfel des von Norden nach Süden verlaufenden
Höhenzuges, den die Radfahrer vor sich haben, heißt bezeichnenderweise „Hartside“.
Er ist zwar nur 580 Meter hoch, aber um die konstante Steigung von etwa 400
Höhenmetern auf 6,5 Kilometern zurückzulegen, müssen alle kräftig
in die Pedale treten. Der Blick zurück zeigt noch mal die weite grüne
Landschaft des Lake District. Vor uns ist die Landschaft rau und karg, die
Pflanzen kauern sich am Boden. Und der Wind pfeift noch stärker als gewöhnlich
und zieht die Gruppe weit auseinander.
Oben angekommen sind alle stolz, es geschafft zu haben und genießen die
Aussicht durch die Fenster eines Cafés. Der individuelle Erschöpfungszustand
bestimmt die Pläne für die Weiterfahrt. Die einen zieht es nach Alston,
das für den am höchsten gelegenen Marktplatz Englands berühmt
ist. Sie lockt die Aussicht auf eine kleine Shoppingtour und ein Glas Bier
im örtlichen Pub. Ausgerechnet die älteren Teilnehmer bilden die
sportliche Gruppe: Sie fahren die deutlich längere Strecke über Carrigill
durchs Gelände. |
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Foto: British Tourist Authority |
Nebel, Nebel, Nebel
Das Wetter bleibt ungemütlich: Am nächsten Morgen
bläst der Wind so stark, dass er die Radfahrer die
Berge der Pennines geradezu hochschiebt. Am höchsten Gipfel
auf 608 Metern Höhe wartet David Noblet mit seinem Wohnmobil.
Alle stärken sich im Windschutz seines Wagens mit heißen
Getränken und Snacks. Der eisige Wind verkürzt das
Picknick. Schnell noch ein Gipfelfoto, dann geht es die lange
Abfahrt hinunter, bei der es empfindlich kalt wird. Selbst jetzt
im Juni herrschen Temperaturen von nur wenig mehr als 10
Grad.
Unten im Tal wartet David, um allen die versteckte Abzweigung
zu einer Offroad-Strecke über
ein Hochmoor zu zeigen. Der steile Anstieg über einen ausgewaschenen Lehm-
und Kiesweg und über Wiesen mit Schafherden wird mit einer langen, wunderschönen
Fahrt über eine weite Moorlandschaft belohnt. Die nächsten
Häuser liegen in weiter Ferne.
Eigentlich hatte der letzte Tourenabschnitt spektakuläre Ausblicke
versprochen, doch wenn sich an einem Nebeltag wie heute eine dicke Wattedecke über
die Nordseeküste gelegt hat, fallen Aussichten jeglicher Art allerdings
flach. Nicht einmal erahnen lässt sich der famose Blick, den man von der
hohen ehemaligen Eisenbahnbrücke haben soll. Schnell rasen alle dem Zielpunkt
am Hafen von Sunderland entgegen, denn der letzte Teil der Strecke ist nicht
besonders reizvoll: Nach Tagen in einsamer Natur führt der Radweg jetzt
an unverkennbaren Zeichen von Industrie und Zivilisation vorbei.
Ganz zum Schluss der Tour ist Schieben angesagt: Über den Kiesstrand rollen
die Teilnehmer ihre Räder zur Nordsee. Mit einem kurzen Eintauchen
des Vorderrades in die Fluten endet das Abenteuer C2C. Eines steht fest: Dieser
abwechslungsreiche Radwanderweg wird nicht lange ein Geheimtipp bleiben.
Nicht nur für Engländer wird es eine Herausforderung sein, die
Landschaft zwischen Irischer See und Nordsee einmal im Leben mit dem Fahrrad
zu erkunden. Stefanie Schneider |
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Foto: Linne Reisen |
Wiesen, Weiden, wenig Bäume:
die Mittelgebirgslandschaft der Pennines |
Anreise
In Amsterdam starten die Fährschiffe der DFDS Seaways,
die Passagiere und Fahrräder über Nacht nach Newcastle
upon Tyne bringen. Von dort aus ist man mit dem Zug in gut
drei Stunden in Whitehaven, einem Startpunkt der C2C-Route
an der Westküste. Wer vor der Rückfahrt noch etwas
Stadtluft schnuppern möchte, der kann die Besichtigung
des schmucken alten Städtchens York mit einer Fährabfahrt
in Hull verbinden. Von dort aus fahren die Schiffe der P&O
Northsea Ferries über Nacht nach Rotterdam.
Weitere Informationen über Fähr- und Zugverbindungen
und viele Serviceadressen liefert das fairkehr-Sonderheft „Zügig
durch Europa“ • DFDS Seaways, Tel.: (040) 389030, Internet: www.dfdsseaways.de •
P&O Northsea Ferries, Tel.: (069) 50985555, Internet:
www.ponsf.com
Radreiseveranstalter
Wer sich nicht selbst um die Organisation und Übernachtung
kümmern möchte, ist bei David Noblet von Holiday
Lakeland in besten Händen. Er übernimmt die Hotelbuchungen,
den täglichen Gepäcktransport, verleiht Fahrräder
und bringt die Radfahrer wenn gewünscht nach der Radtour
wieder zum Ausgangshotel zurück. Die 3-Tagesvariante
kostet inklusive dieser Leistungen 225, eine 5-Tagestour
350 britische Pfund.
•
Holiday Lakeland, David Noblet, Tel: (0044) 16973/71871,
Internet: www.holiday-lakeland.co.uk, e-mail: hollake@aol.com
Linné Reisen bietet eine 11-tägige Kombination
der C2C-Radtour mit einer Verlängerung im Norden und
Besuch des Hadrianwalls an. • Linné Reisen,
Heller Damm 6, 27721 Ritterhude, Tel: (04292) 409018, Fax:
(04292) 4290, Internet: www.linne-reisen.de, e-mail:
info@linne-reisen.de
Information
Allgemeine Informationen über lohnenswerte Ziele in
Großbritannien gibt es beim Urlaubsservice des Britischen
Touristenverbandes in Frankfurt: • Urlaubsservice
Großbritannien, British Tourist Authority, Westendstraße
16–22, 60325 Frankfurt/Main, Tel.: (01801) 468642
(deutschlandweit zum Ortstarif), Fax: (069) 97112444, Internet:
www.visitbritain.com/de, e-mail: gb-info@bta.org.uk
Radwanderweg Sea to Sea
Blaue Schilder mit weißer C2C Aufschrift weisen den
Weg. Die Strecke ist sehr gut ausgeschildert. Die hier
beschriebene Variante von Whitehaven nach Sunderland
ist 215 Kilometer lang und kann in drei bis fünf Tagen
zurückgelegt werden. Der Radwanderweg verläuft
auf eigens angelegten Wegen oder wenig befahrenen Straßen.
Die C2C-Route kann mit anderen Rad-Wanderwegen kombiniert
werden. Ausführliche Informationen zu Radfernwegen
in England, sowie Kartenmaterial und Bed&Breakfast-Führer
zu den einzelnen Routen gibt es bei: sustrans, Info-Tel.:
(0044) 117/9290888, www.sustrans.org.uk, e-mail: info@sustrans.org.uk
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