Der Modelleisenbahner
ist verrückt. Er hat Eheprobleme, neigt zur Sektenbildung
und überwirft sich mit seinesgleichen auf Lebenszeit über
die Frage, ob Wechselstrom oder doch eher Gleichstrom der reinen
Lehre entspricht. Außerdem achtet er nicht auf sein Äußeres
und riecht schlecht. – Das sind natürlich hanebüchene
Vorurteile über eine harmlose Bevölkerungsgruppe. Doch
stimmt von diesen Vorurteilen auch nur ein Bruchteil, dann wird
klar, warum sich zu den Versammlungsorten von Modelleisenbahnern
niemals Normalsterbliche und schon gar keine Frauen verirren.
Daraus folgt: Damit die Massen zur größten computergesteuerten
Modelleisenbahnanlage der Welt strömen, darf nichts an Modelleisenbahner
erinnern. Darum heißt diese Anlage „Miniatur Wunderland
Hamburg“.
Das Wunderland liegt auf dem Gebiet des alten Hamburger Hafens
in der so genannten Speicherstadt, und sein enormer Publikumserfolg
zeigt: Die Camouflage ist gelungen. Mit viel Arbeit und Geld (80000
Mannstunden, 2 Millionen Euro) ist in direkter Nachbarschaft zur
Grusel- und Katastrophenshow Dungeon vor 15 Monaten tatsächlich
ein liebevoll gestaltetes Miniland mit sechs Kilometer Eisenbahngleisen
entstanden. Ein Stückchen Alpen, ein quirliges Städtchen,
hügelige Landschaften und seit neuestem eine Hamburger Stadtansicht
mit Michel (der Turmbläser bläst auf Knopfdruck), Köhlbrandbrücke
(gesperrt wegen Fahrradrennen), den Damen von der Herbertstraße
und einem fulminanten Verkehrsstau. Der Aufmerksame entdeckt inmitten
der Minispeicherstadt auch das Mini-Miniatur-Wunderland, das demnächst
sogar noch eine Mini-Mini-Eisenbahnanlage bekommt.
Am ehesten erinnert das Wunderland vielleicht an das Legoland.
– Nur kommt es eben ohne Legosteine aus, hat stattdessen
Gipslandschaften, Miniwälder, modellierte Wasserfällchen,
geklebte Häuschen sowie Spielzeugautochen. Dazu abertausend
winzige Menschlein, 12000 sitzen allein im Nachbau der Hamburger
AOL Arena, wo permanent das dramatische Spiel HSV gegen St. Pauli
vom 2. Dezember 2001 läuft (Spielergebnis 4:3). Wer ganz
genau hinschaut – und das sollte man hier stets tun, keinesfalls
die Brille vergessen, möglichst sogar ein Fernglas mitführen!
–, der wird allerdings feststellen, dass ein Platz im Stadion
nicht besetzt ist: der Platz des Dauerkarteninhabers Frederik
Braun. Braun ist bei der Arbeit. Er ist einer der Geschäftsführer
des Wunderlandes, eisenbahnbegeistert von Kindesbeinen an und
Vater der Idee, eine Modellbauerwelt zu schaffen, deren Erfolg
sich am Zuspruch der weiblichen Besucher messen lässt. Sein
Traum: eine Art Synthese von elektrischer Eisenbahn und Puppenstube.
Geht man mit Braun durch seine Miniwelt, zupft er einen gern am
Ärmel: „Da, die drei Frauen, sehen Sie, wie begeistert
sie sind! Die trotten nicht gelangweilt hinter ihrem Alten her.“
Im Vordergrund des Wunderlands stehen nicht seltene Exemplare
alter TEE-Loks, sondern die guten und schlechten Zeiten des normalen
Lebens: Grillfreuden und stürzende Rennradler, ausbrechende
Zuchthäusler und ein Besuch in Hagenbecks Tierpark. Hinter
ein paar Tannen hat ein Maler sein nacktes Modell auf einer Bank
drapiert. Im See liegt eine Wasserleiche. Und weiter hinten brennt
ein Stadthaus, lodernde Flammen, Qualm, von überall her kommen
Feuerwehrautos angerast, ganz große Szene, ganz viel Aufregung
unter den Besuchern. Das zentrale Spektakel der Show.
Wie im echten Leben brennt es natürlich nachts, deshalb
muss es im Miniwunderland alle 15 Minuten dunkel werden. Dann
gehen nach und nach die 20000 Lichter an, in den Häusern
und Bürotürmen, in den Campingwagen und Hafenanlagen,
Lichterketten beleuchten Hinterhofpartys, und für einen Moment
ist das alles nur noch schön. Wenn es dann wieder Tag wird,
demonstrieren in der Zeche winzige Kumpel gegen die Stilllegung
ihres Bergwerks.
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