Spätestens auf halber Höhe
stellt eine leise Stimme die Sinnfrage: Warum quälst du dich
so? Kehr um, setz dich lieber ins Café... Doch ich trotze
den Einflüsterungen. Wozu bin ich die ersten zehn Kilometer
hinaufgekurbelt? Um die Aussicht zu genießen? Wusch
da kommt wieder jemand entgegen, in Schussfahrt, der Wind reißt
ihm das Salü, bonne courage! vom Mund weg. Der
war schon oben...
Oben, das ist der Gipfel des Mont Ventoux. Oben, das bedeutet
noch weitere 800 Höhenmeter hinauf. 250 davon in einem der
giftigsten Abschnitte: Eine schier endlose Gerade, die sich mit
zehn Steigungsprozenten an der Bergflanke emporzieht.
Immer wieder muss ich aus dem Sattel in den Wiegetritt gehen.
Eine drahtige Gestalt im neonbunten Leibchen pedaliert locker
an mir vorbei, andere dagegen kleben an der Steigung, legen immer
wieder eine Pause ein. Très dur, ziemlich hart,
keucht ein gutgenährter Mittvierziger, der tapfer seinen
Embonpoint auf dem Rennvelo bergan wuchtet. Die Leiden
des Gelegenheitsradlers am Berg
Doch hier zu leiden ist
kein Makel, denn die Straße von Malaucène zum Gipfel
kann mit jedem großen Alpenpass konkurrieren: gut 1500 Höhenmeter
auf 21 Kilometer.
Radfahrer aller Länder pilgern hier an Sommertagen zu Hunderten
gipfelwärts, trotz Hitze und Höhe. Der Ventoux ist ein
Ehrfurcht gebietender Gigant von 1912 Metern Höhe, der die
östliche Provence überragt. Der Berg ist berühmt.
Die, die ihn berühmt gemacht haben, hatten kein Auge für
die Landschaft nicht zuletzt, weil ihnen Spaliere von Zuschauern
die Sicht versperrten: Radsportler wie Fausto Coppi, Eddy Merckx
oder Miguel Indurain haben hier Renngeschichte geschrieben.
Radrennen führen meist über die Südroute von Bedoin,
genannt lImpitoyable, die Erbarmungslose,
weil sie im mittleren Abschnitt 880 Meter auf nur 9,5 Kilometern
steigt. Danach geht es noch sechs Kilometer durch eine kahle Geröllwüste,
die von der Sonne zur Gluthölle aufgeheizt wird. Sie
wurde bei der Tour de France 1967 dem Radprofi Tom Simpson zum
Verhängnis. Freitag der 13. Juli, 13. Etappe: Vollgepumpt
mit Dopingmitteln, bricht Simpson kurz vor dem Gipfel zusammen,
verliert das Bewusstsein, stirbt wenig später im Krankenhaus
von Avignon. Ein Gedenkstein erinnert an dieses dunkle Kapitel
des Radsports.
Der weiß schimmernde Kahlkopf des Ventoux mit dem Turm der
Wetterstation ist weithin zu sehen. Beim Anstieg von Malaucène
kommt der Turm jedoch erst in Sicht, wenn man 300 Meter unterhalb
des Gipfels aus dem Wald kommt. Fast senkrecht steigen die Geröllfelder
auf. Die bunten Ameisen, die da oben langsam die letzten Serpentinen
hinaufkrabbeln, sind Radfahrer. Manchem sinkt hier der Mut: So
weit geht es noch hinauf? Dabei ist das Schlimmste längst
überstanden, nur manchmal wird man hier oben kräftig
vom Wind gebeutelt. An klaren Tagen gibt es als Belohnung in der
letzten Spitzkehre einen grandiosen Panoramablick auf die französischen
Alpen. Dann sind es nur noch 100 Meter bis zum Col de Tempètes,
dem Pass der Stürme.
Bei schönem Wetter drängeln sich hier oben vor dem Souvenirshop
mehr Rad- als Autofahrer. Junge Männer, Pärchen, ältere
Herrschaften mit Rennrädern, Mountain- oder Trekkingbikes;
keineswegs nur austrainierte Sportskanonen ein älteres
Ehepaar ist sogar mit einem Tandem heraufgekommen.
Erschöpft sehen die meisten aus, doch die Augen strahlen.
Inzwischen ist auch der Mittvierziger angekommen, nach Atem ringend,
aber sichtbar glücklich. Was macht diese Faszination aus?
Die eigenen Grenzen auszuloten, sagen die einen. Sich ein Ziel
zu setzen und zu erreichen, meinen die anderen. Oder einfach den
mythischen Berg der Tour de France bezwungen zu haben.
Das Hochgefühl, den Ventoux bezwungen zu haben, ist stärker
als der Rausch, der manchen bei der Abfahrt überkommt. Versierte
Fahrer erreichen auf den langen Geraden über 70 Stundenkilometer.
Wer gemächlicher rollen will, muss kräftig bremsen.
Wolfgang Wagener
Der Mont Ventoux liegt
40 Kilometer nordöstlich von Avignon. Anreise per
Bahn bis Avignon oder Orange (70 Kilometer vom Ventoux).
Drei Straßen führen zum Gipfel: Von Westen
über Malaucène, von Süden über
Bedoin und die landschaftlich wenig interessante
Ostroute über Sault. Fahrtdauer je nach
Kondition etwa zwei bis drei Stunden. Befahrbar von
Mitte Mai bis Mitte Oktober.
Touren
auf den Spuren der großen Radrennfahrer bietet
an:
velophil Fahrradhandel, Tel.: (030) 39902-116,
mail: team@velophil.de
Radsportreisen Chr. Margreiter,
Tel.: (08034) 9293, www.margreiter.
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