Mont Ventoux -
Mekka der Masochisten

Foto: Wolfgang Wagener

 

Spätestens auf halber Höhe stellt eine leise Stimme die Sinnfrage: Warum quälst du dich so? Kehr um, setz dich lieber ins Café... Doch ich trotze den Einflüsterungen. Wozu bin ich die ersten zehn Kilometer hinaufgekurbelt? Um die Aussicht zu genießen? Wusch – da kommt wieder jemand entgegen, in Schussfahrt, der Wind reißt ihm das „Salü, bonne courage!“ vom Mund weg. Der war schon oben...

Oben, das ist der Gipfel des Mont Ventoux. Oben, das bedeutet noch weitere 800 Höhenmeter hinauf. 250 davon in einem der giftigsten Abschnitte: Eine schier endlose Gerade, die sich mit zehn Steigungsprozenten an der Bergflanke emporzieht. Immer wieder muss ich aus dem Sattel in den Wiegetritt gehen. Eine drahtige Gestalt im neonbunten Leibchen pedaliert locker an mir vorbei, andere dagegen kleben an der Steigung, legen immer wieder eine Pause ein. „Très dur“, ziemlich hart, keucht ein gutgenährter Mittvierziger, der tapfer seinen „Embonpoint“ auf dem Rennvelo bergan wuchtet. Die Leiden des Gelegenheitsradlers am Berg … Doch hier zu leiden ist kein Makel, denn die Straße von Malaucène zum Gipfel kann mit jedem großen Alpenpass konkurrieren: gut 1500 Höhenmeter auf 21 Kilometer.

Radfahrer aller Länder pilgern hier an Sommertagen zu Hunderten gipfelwärts, trotz Hitze und Höhe. Der Ventoux ist ein Ehrfurcht gebietender Gigant von 1912 Metern Höhe, der die östliche Provence überragt. Der Berg ist berühmt.

Die, die ihn berühmt gemacht haben, hatten kein Auge für die Landschaft – nicht zuletzt, weil ihnen Spaliere von Zuschauern die Sicht versperrten: Radsportler wie Fausto Coppi, Eddy Merckx oder Miguel Indurain haben hier Renngeschichte geschrieben. Radrennen führen meist über die Südroute von Bedoin, genannt „l’Impitoyable“, die Erbarmungslose, weil sie im mittleren Abschnitt 880 Meter auf nur 9,5 Kilometern steigt. Danach geht es noch sechs Kilometer durch eine kahle Geröllwüste, die von der Sonne zur Gluthölle aufgeheizt wird. Sie wurde bei der Tour de France 1967 dem Radprofi Tom Simpson zum Verhängnis. Freitag der 13. Juli, 13. Etappe: Vollgepumpt mit Dopingmitteln, bricht Simpson kurz vor dem Gipfel zusammen, verliert das Bewusstsein, stirbt wenig später im Krankenhaus von Avignon. Ein Gedenkstein erinnert an dieses dunkle Kapitel des Radsports.

Der weiß schimmernde Kahlkopf des Ventoux mit dem Turm der Wetterstation ist weithin zu sehen. Beim Anstieg von Malaucène kommt der Turm jedoch erst in Sicht, wenn man 300 Meter unterhalb des Gipfels aus dem Wald kommt. Fast senkrecht steigen die Geröllfelder auf. Die bunten Ameisen, die da oben langsam die letzten Serpentinen hinaufkrabbeln, sind Radfahrer. Manchem sinkt hier der Mut: So weit geht es noch hinauf? Dabei ist das Schlimmste längst überstanden, nur manchmal wird man hier oben kräftig vom Wind gebeutelt. An klaren Tagen gibt es als Belohnung in der letzten Spitzkehre einen grandiosen Panoramablick auf die französischen Alpen. Dann sind es nur noch 100 Meter bis zum „Col de Tempètes“, dem Pass der Stürme.

Bei schönem Wetter drängeln sich hier oben vor dem Souvenirshop mehr Rad- als Autofahrer. Junge Männer, Pärchen, ältere Herrschaften mit Rennrädern, Mountain- oder Trekkingbikes; keineswegs nur austrainierte Sportskanonen – ein älteres Ehepaar ist sogar mit einem Tandem heraufgekommen.

Erschöpft sehen die meisten aus, doch die Augen strahlen. Inzwischen ist auch der Mittvierziger angekommen, nach Atem ringend, aber sichtbar glücklich. Was macht diese Faszination aus? Die eigenen Grenzen auszuloten, sagen die einen. Sich ein Ziel zu setzen und zu erreichen, meinen die anderen. Oder einfach den mythischen Berg der Tour de France bezwungen zu haben.

Das Hochgefühl, den Ventoux bezwungen zu haben, ist stärker als der Rausch, der manchen bei der Abfahrt überkommt. Versierte Fahrer erreichen auf den langen Geraden über 70 Stundenkilometer. Wer gemächlicher rollen will, muss kräftig bremsen.

Wolfgang Wagener

Der Mont Ventoux liegt 40 Kilometer nordöstlich von Avignon. Anreise per Bahn bis Avignon oder Orange (70 Kilometer vom Ventoux). Drei Straßen führen zum Gipfel: Von Westen über Malaucène, von Süden über Bedoin und die – landschaftlich wenig interessante – Ostroute über Sault. Fahrtdauer je nach Kondition etwa zwei bis drei Stunden. Befahrbar von Mitte Mai bis Mitte Oktober.

Touren auf den Spuren der großen Radrennfahrer bietet an:
•velophil Fahrradhandel, Tel.: (030) 39902-116,
mail: team@velophil.de
• Radsportreisen Chr. Margreiter,
Tel.: (08034) 9293, www.margreiter.

 

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