Entdecke die Möglichkeiten

Fotos: Achim Zahn

 

Mit einem befreienden Jauchzer tauche ich kopfüber ins türkisgrüne Wasser des Lago di Santa Croce ein. Nie werde ich dieses Glücksgefühl vergessen. Die Salzschicht vom letzten, schweißtreibenden Anstieg löst sich von meinem Körper, der Staub der letzten Schotterabfahrt wird weggespült. Noch nie in meinem Leben habe ich mich leistungsfähiger gefühlt.

Hinter mir liegen die Alpen. 400 Kilometer und 12000 Höhenmeter haben wir auf unseren Mountainbikes überwunden. Abseits aller Asphaltstraßen, zehn Tage im Sattel, das Gepäck auf dem Rücken. Was vielen auf den ersten Blick unmenschlich erscheint, wird nach vollbrachter Tat zum grandiosen Erlebnis. Spannender kann Urlaub nicht sein. Jede Fernreise erscheint langweilig gegen die Erfahrungen einer Alpenüberquerung.

Gut geplant

Ohne solide Vorbereitung darf keiner das Unternehmen Transalp starten. Die genaue Routenplanung ist dabei das zentrale Element. Wir haben Monate vorher sorgfältig Karten und Routenbeschreibungen studiert und ein eigenes Roadbook angefertigt. Wer diese Zeit nicht hat, vertraut besser einem Spezialreiseveranstalter. Dass trotz Planung schnell etwas schief gehen kann, wird uns bereits am ersten Anstieg bewusst. Wir verpassen an der Röhrlmosalm den Abzweig in den Wanderweg und erweitern damit die erste Tagesetappe unfreiwillig von 1600 auf 2000 Höhenmeter. Doch das Team ist hoch motiviert, und der Trail bergab entschädigt für zusätzliche Strapazen.

Wir folgen nicht den breiten Wegen im Tal, sondern suchen uns ausschließlich einsame Forststraßen und solide Wanderwege. Tosende Wasserfälle, einsame Bergseen, beschauliche Almen – nie waren wir der grandiosen Berglandschaft näher. Mit jeder Umdrehung unserer Stollenreifen werden wir selbst mehr zu einem Teil dieser berauschenden Natur. Ein Gefühl unbeschreiblicher Freiheit macht sich breit. Alles, was wir zum Leben brauchen, haben wir im Rucksack dabei.

Hart trainiert

Am zweiten Tag geht es nur bergauf. Die Weidner Hütte knapp unterhalb des 2300 Meter hoch gelegen Geiseljochs ist das Etappenziel. Der erste Tag steckt uns in den Knochen. Wir sind froh, dass wir drei Monate lang konsequent trainiert haben. Konsequent treten wir uns nach oben. Doch nach drei Stunden wird auch der leichteste Rucksack schwer. Wir sind froh um jedes Teil, das wir nicht mitgenommen haben. An der Hütte angekommen, genießen wir die Nachmittagssonne. Auf der Wäscheleine baumelt nahezu die gesamte Ausrüstung. Die Funktionskleidung ist in weniger als einer Stunde trocken. Die Tageswanderer müssen wieder zurück ins Tal. Wir bleiben oben. Es wird still.

„Da wollen wir drüber!“ Begeistert und respektvoll blicken wir vom Geiseljoch auf den vor uns liegenden Alpenhauptkamm. Der Tuxer Gletscher ist meterhoch mit Eis und Schnee bepackt. Der Wetterbericht meldet Gewitter. Hoffentlich werden wir nicht naß. Harald hat andere Sorgen: Eine neugierige Kuh hat soeben seinen verschwitzten Handschuh verspeist.

Vier Stunden später gießt es in Strömen. Dichter Nebel macht die Orientierung schwer. Wir müssen schieben, es ist kalt. Am Tuxerjochhaus gruppieren wir uns und unsere nassen Kleider auf Stühlen rings um den glühenden Kanonenofen. Durchs kleine Fenster schauen wir nach draußen. Es ist alles weiß. Schnee im August. Wer hat behauptet, dass eine Alpenüberquerung Spaß macht?

Am nächsten Morgen strahlt die Sonne. Die Luft ist kristallklar. In einer halben Stunde ist der Schnee geschmolzen. Wir quälen uns mit der ersten langen Tragepassage. Mit dem geschulterten Bike geht es mehr als 500 Höhenmeter bergab. Doch hausgemachte Knödel und ein warmer Apfelstrudel im Wipptal machen die Strapazen wett.

Weit unter uns wälzen sich zwei Blechlawinen über den Brenner. Kein Autofahrer weiß, wie schön es hier ist. Dank des perfekten Grenzstraßennetzes müssen wir von unserem Höhentrip nicht mehr herunter. In der Edelweißhütte erwartet uns eine Speckbrotzeit. Mit Bärenhunger stürzen wir uns auf alles Essbare. Morgen knacken wir unsere Königsetappe, das 2500 Meter hohe Pfunderer Joch.

Rasante Abfahrt

Seit drei Stunden sehen wir nur noch riesige Geröllfelder und kahlen Fels. Zu Fuß ist die Überquerung des Pfunderer Jochs kaum zu schaffen. Das Rad bringt die Strapazen jedoch auf ein erträgliches Maß. Für Wanderer, die hier fernab von jeder Hilfe ein Wettersturz überrascht, hat der Alpenverein eine winzige Schutzhütte an den Fels geklebt. Als Mountainbiker brauchen wir den stundenlangen Abstieg nicht zu fürchten. Auf 2500 Meter Höhe klicken wir in unsere Pedale ein und sind nicht mehr zu stoppen. Auf einem perfekten Singletrail geht es ins Tal. Nach 22 Kilometern und über 2000 Höhenmetern bergab spuckt uns der Traumtrail im Pustertal wieder aus.

Kann es noch eine Steigerung geben? Und ob! Kein Gebirgszug der Welt hat für Mountainbiker mehr Trails parat als die Alpen. Seit Jahrhunderten dringen Menschen in die entlegendsten Gebiete vor, bauen Straßen, Wege, erklimmen Aussichtsplätze. So haben wir die Qual der Wahl. Zur Durchquerung der Dolomiten entscheiden wir uns überwiegend für die „Dynamite Trails“. Das sind abenteuerliche Schotterstrecken, die im ersten Weltkrieg nicht selten direkt in den Fels geschlagen wurden. Auf ihnen überqueren wir den 2200 Meter hohen Kronplatz und steuern direkt in den Naturpark Fanes hinein. Selbst Hollywood berauschte sich an dieser Kulisse. Die atemberaubendsten Szenen aus dem Film Cliffhanger wurden in den Dolomiten und nicht in den Rocky Mountains gedreht.

Obwohl wir mittlerweile den achten Tag im Sattel sitzen, macht sich kein Lagerkoller breit. Im Gegenteil: Die Stärkeren nehmen auf die Schwächeren Rücksicht. 1600 Höhenmeter ist das maximale Tagesziel. Das kann jeder schaffen. Auch die befürchtete Erschöpfung tritt nicht ein. Sylvia macht dafür unsere Pulsmesser verantwortlich. Dank Pulskontrolle fährt keiner lange im roten Bereich. Fahrtechnisch machen wir enorme Fortschritte. Körper und Rad sind nach acht Tagen eins und meistern gemeinsam selbst schwierigste Passagen. So setzen die kopfgroßen Schotterbrocken auf der Abfahrt nach Cortina allenfalls unseren Federgabeln zu. Doch auch die Räder halten klaglos durch.

Kurz nach Cortina überrascht uns ein Gewitter. Der Zeitplan gerät aus den Fugen. Der letzte Berg wird zur Hölle. Wir haben die Karte falsch interpretiert. Keiner von uns kann das Vorderrad auf dem Boden halten, der Anstieg hat stellenweise über 25 Prozent. Die rettende Hütte kommt nicht näher. Ausgepowert sprechen wir uns gegenseitig Mut zu. Endlich sind wir oben. Aber die Duschen sind kalt und der Wirt betrunken. So haben wir uns die letzte Station nicht vorgestellt. In der Nacht fängt es wieder an zu regnen.

Nebel und Regen auch am nächsten Morgen. Doch die Landschaft hat in dieser Stimmung ihren ganz besonderen Reiz. Der letzte Downhill führt uns durch vergessene Täler und Dörfer. Wasser und Schlamm setzen unseren Laufrädern und Bremsen zu. Die Bremsbeläge schwinden wie Butter. Glücklicherweise ist heute der letzte Tag. Zum Schlusssprint vor dem Lago di Santa Croce reißt der Himmel auf. Straßen und Kleider dampfen in der Schwüle des Augustnachmittags. Wir steuern geradewegs auf den Holzsteg am Seeufer zu, reißen uns Schuhe und Trikot vom Leib und springen mit einem befreiende Jauchzer in den See.

Tom Bierl


  • Für Einsteiger: „Transalp light“ von Garmisch an den Gardasee: Das Gepäck reist im Begleitfahrzeug mit. Infos bei alpsbiketours, Tel.: (089) 5427880, www.alpsbiketours.de
    Für Fortgeschrittene: „Transalp extrem“. Der Summit-Club bietet drei Transalp-Varianten für erfahrene und gut trainierte Biker an. DAV-Summit Club, Tel: (089) 64240-0,
    www.dav-summit-club.de


  • Bequem über die Alpen: Der historische, gut ausgebaute Römerweg „Via Claudia Augusta“ bietet eine bequeme Alpenquerung vom Lechfeld aus durch Tirol und Südtirol bis an die Adriaküste. Der gut ausgebaute Weg ist auch für Familien oder Senioren geeignet. Infos für Individualreisende unter Tel.: 0043/664/2763555, www.viaclaudia.com. Organisierte Radtouren auf der Via Claudia bietet der Radreiseveranstalter eurobike, Tel.: 0043/6219/7444, www.eurobike.at



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