Der Fischer und seine Ruh’

Weihnachten steht vor der Tür. Das Fest der Liebe, Ruhe und Besinnlichkeit. Pustekuchen, werden viele sagen. Rennen, kaufen, verpacken bis zum Schluss. Es geht auch anders. Was macht uns zufrieden und glücklich? Es sind vor allem die Dinge, die man nicht kaufen kann: Ruhe, Zeit, Zuwendung. fairkehr nimmt Weihnachten zum „Anhaltspunkt“, um über Wohlstand, Luxus und Glück nachzudenken.

 

Fotos: Marcus Gloger

 

Ein Mann in einfachen Kleidern döst in einem Fischerboot. Ein gut gekleideter Tourist legt einen neuen Film in die Kamera, um das idyllische Bild festzuhalten. Das Klicken der Kamera weckt den Fischer auf. Der Tourist bietet ihm eine Zigarette an und beginnt ein Gespräch: „Tolles Wetter heute, Sie werden einen guten Fang machen.“
Der Fischer schüttelt den Kopf.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragt der Tourist.
„Ich fühle mich bestens“, antwortet der Fischer. „Nur, ich habe heute morgen genug gefangen.“
„Aber stellen Sie sich mal vor“, sagt der Tourist, „Sie würden drei-, viermal am Tag hinausfahren und drei-, viermal soviel Fisch nach Hause bringen. Wissen Sie, was dann geschehen würde?“
Der Fischer schüttelt den Kopf.
„Nach ungefähr einem Jahr könnten Sie sich ein eigenes Motorboot kaufen“, sagt der Tourist. „Nach zwei Jahren ein zweites und nach drei Jahren einen Kutter oder zwei. Sie würden ein Kühlhaus oder eine Räucherei bauen, mit dem eigenen Helikopter Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben, ein Fischrestaurant eröffnen und den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris liefern, und dann…“, dem Fremden verschlägt es vor Begeisterung die Sprache.
„Was dann?“ fragt der Fischer leise.
„Dann“, fährt der Tourist triumpfierend fort., „könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das herrliche Meer blicken!“
„Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“
Die Geschichte – frei nach Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ – irritiert. Der mit dem Wenigen zufriedene Fischer ist schon jetzt da angekommen, wo der expansiv agierende Fischereiunternehmer vielleicht im hohen Alter noch landen wird. Wenn er den nervenzehrenden Job so lange durchsteht.

Was ist Luxus?

Sicher, der Unternehmer wird mehr Geld haben – wahrscheinlich. Aber wird er auch zufriedener, glücklicher sein? Was ist Wohlstand? Was ist Luxus?

Greift man zum Wörterbuch, findet man das lateinische Adjektiv „luxus“, wörtlich übersetzt mit „verrenkt, gebogen, schräg“. Luxus in diesem Sinne bedeutet also „anders“ zu sein, sich vom „Normalen“ zu unterscheiden. Doch, was ist heutzutage das „Normale“? Das lateinische Substantiv „Luxus“ steht für „Üppigkeit“, vorwiegend definiert durch materiellen Besitz, Essen und Sex. Die orgiastische Überzeichnung dieser Üppigkeit, genährt durch eine ungesunde Gier, beschreibt der römische Dichter Sallust so: „Man wartet nicht Hunger, Durst, Kälte und Müdigkeit ab, um sie dann zu befriedigen, sondern stimuliert sie schon vorher künstlich durch gesteigerte Sinnenreize.“ Nichts anderes geschieht in den Werbeblöcken von RTL, SAT 1 und ZDF tagtäglich vor dem Fernseher.

Wer im Internet www.luxus.de eingibt, erblickt als erstes ein Mercedes Cabrio im warmen Abendlicht. „Mein Haus, mein Pferd, meine Yacht“, die schon legendäre Werbung der Sparkassen weist dem orientierungslosen Konsumenten den Weg: Mit diesen Federn musst du dich schmücken, willst du im immerwährenden Konkurrenzkampf bestehen. Wir beschaffen dir das nötige Kleingeld dazu.

Das „Luxurieren“, das verschwenderische Zurschautragen von eigentlich Überflüssigem, verliert jedoch dann den Reiz des Spektakulären, wenn die schmückenden Güter weltweit dieselben sind. Jeder Vorstadt-Schumi hat seinen Audi TT oder seinen Mercedes SLK vor der Tür stehen. In Tommy Hilfiger-Kluft und mit Davidoff Coolwater überschüttet, bewegt er sich hochpreisig normiert in den Samstagabend-Wettbewerb.

Beliebigkeit drängt sich vor

Hans-Magnus Enzensberger hat in einem Spiegel-Essay schon vor fünf Jahren diesem Luxus herkömmlicher Prägung einen Nachruf verfasst: „In allen früheren Gesellschaften galten Verschwendung und Überfluss als seltene Ausnahme. Gerade der Tatsache, dass er gegen alle Normen des Alltags verstieß, verdankte der Luxus seinen Eclat und sein Prestige. (…)

Duty Free Shop und Shopping Mall heißen die Leichenschauhäuser des Luxus. Das Unheimliche an ihnen ist, dass sie sich wie in einem Horrorfilm vermehren. Die Überschwemmung durch das Immergleiche tritt mit der Behauptung auf, sie vertrete das Exklusive, und die Beliebigkeit drängt sich mit dem albernen Anspruch vor, es handle sich um ein ,Must’.“

Die jüngst im Fokus einer weltweiten Protestbewegung stehende Globalisierung der Wirtschaft verstärkt diese Nivellierungs- und Vulgarisierungstendenz. Kommen wir also zum „Wohlstand“. Neben der fast vergessenen traditionellen Bedeutung von „wohlanständig“ (vgl. Interview Seite 17) wird Wohlstand heutzutage fast ausschließlich in Dollar gemessen.

Ein genauerer Blick auf die ökonomische Wohlstandsgröße Bruttosozialprodukt offenbart deren Schwäche. Der Markt ist blind für soziale und ökologische Belange. Die meisten Länder berauben sich ihres „natürlichen Kapitals“ für einen zweifelhaften Fortschritt. Ernst-Ulrich von Weizsäcker und das Forscherpaar Lovins zitieren in ihrem Standardwerk „Faktor Vier“ das Beispiel der Elfenbeinküste: „Rundhölzer, Kaffee, Kakao, Mangan, Gold und anderes wurde zu Lasten der Natur produziert und exportiert. Es dauerte etwa noch zehn Jahre, bis das Land großflächig zerstört war. Über 80% der ursprünglich reichen Waldbestände (…) sind dem Raubbau zum Opfer gefallen.“ Wohlgemerkt: In dieser Zeit steigerte das westafrikanische Land ständig sein Bruttosozialprodukt, wurde also theoretisch immer reicher.

Weltweite Einfalt

Außerdem walzt der Weltmarkt regionale Besonderheiten platt. Aus Vielfalt wird weltweite Einfalt. „Wie viele lokale Getränke sind von Coca-Cola verdrängt worden?“, fragt „Faktor Vier“. „Wie viele Obst- und Gemüsesorten sind infolge der Standardisierung der Sorten von den Märkten verschwunden? Nach einer Studie des Rural Advancement Fund International (…) sind von 1903 bis 1983 insgesamt 97% der damals bekannten Gemüsesorten nicht mehr im Angebot.“

Nun mag sich der gut situierte Wohlstandsbürger fragen, ob es sich mit einer Handvoll Gemüsesorten, einem Mercedes – auch wenn ihn viele haben – und dem sterbenden Tropenwald irgendwo in Afrika nicht doch entspannt im Hier und Jetzt leben lässt. Es mehren sich die Zeichen, dass es mit dem sorglosen „Ich konsumiere, also bin ich“ vorbei ist.

Das Manifest der weltweiten Anti-Globalisierungsbewegung „No-Logo!“ brandmarkt nicht nur die sogenannten „sweat-shops“, Produktionsstätten in Asien und Afrika, wo zu Hungerlöhnen ohne jede soziale Absicherung die Kultobjekte der reichen Länder hergestellt werden. Die Autorin Naomi Klein beschreibt auch, wie etwa Turnschuhe in Nike-Shops präsentiert werden – auf sich drehenden Sockeln wie auf einem Altar für Gläubige. Dazu im Boden eingelassen Begriffe wie „Mut“, „Ehre“ und „Teamwork“. „Die Konzerne dringen in die privatesten Ecken unseres Lebens vor und verstopfen unsere Phantasie“, erklärt die Kanadierin.

 

Liebe gibt’s nicht am Kiosk

Authentische, immaterielle Güter wie Großzügigkeit, Mitleid, Liebe und gegenseitige Achtung haben es da schwer, sich gegen die bedeutungsüberladene Marketingmaschinerie der Markenartikler zu behaupten. Der Konsumforscher Gerhard Scherhorn hat herausgefunden, warum das so ist: „Nicht, weil die immateriellen Bedürfnisse als weniger wichtig empfunden würden, sondern weil die materiellen schneller und leichter zu haben sind.“

Also alles zu spät, die Ausbeutung der Natur beschlossene Sache, der Mensch in seiner Fremdbestimmtheit nur noch willfähriger Erfüllungsgehilfe eines selbstzerstörerischen Systems?

Die Gegenkultur formiert sich. Ihre Wortführer definieren Wohlstand neu. „Weniger ist mehr“, lautet ihr Credo. Wolfgang Sachs, Wohlstandsforscher am Wuppertal-Institut, gehört dazu. Er begründet die Umweltbewegung nicht moralisch, sondern als ästhetischen Reflex auf das Unmäßige und Hässliche: „Was immer Ökologie im einzelnen heißen mag, ihr liegt die Einsicht zugrunde, dass die materielle Größe des ökonomischen Systems in ein Missverhältnis zur Größe des Natursystems geraten ist.“ Wer dieser Erkenntnis folgt, erkennt neue Knappheiten, die neue Wünsche schaffen. „Je mehr die Beschleunigung aller Lebensvorgänge zur Grundregel wird, desto stärker treten ihre Schattenseiten hervor. Beschleunigung, gründlich genug betrieben, zeigt nämlich die missliche Tendenz, sich selber aufzuheben: Man kommt immer schneller dort an, wo man immer kürzer bleibt. So verfehlt Beschleunigung ihren Zweck: die Begegnung.“

Als Ausweg aus dem Dilemma der ungezählten Optionen, die die heutige Welt offeriert, empfiehlt Sachs das „maß-volle“ Leben: „Das rechte Maß zu suchen, ist keine Empfehlung für ein moralisch besseres, sondern für ein unabhängigeres Leben. Denn, so meinen die Klassiker, ein schönes und gelungenes Leben führt am ehesten jener, der sich nicht jedem Genuss an die Brust wirft.“

Die „Slow Food“-Bewegung etwa definiert dieses rechte Maß mit regionalem Bezug. Genuss steht für „Slow Food“ oben an, aber eben nicht jeder. Geschmackliche Qualität und Qualität der Produktion sollen stimmen. Und da besserer Geschmack bei regional und jahreszeitlich angepassten Früchte, Gemüse- und auch Fleischsorten ebenso wahrscheinlicher ist, als bei ökologischer Produktion, baut „Slow Food“die Brücke zwischen Feinschmecker und Ökologen.

Ein anderes Beispiel für ein neues Wohlstandsmodell sind autofreie Wohnquartiere, weil sie das Muss des Autobesitzes mit Wohlstandsgewinn an anderer Stelle konterkarieren. Der Geschäftsführer des Verkehrsclub Österreich, Willi Nowack, lebt in einem genossenschaftlich organisierten Wohnprojekt in der Wiener Innenstadt mit dem historisch begründeten Namen „Sargfabrik“. Das Gelände mit gemeinschaftlich nutzbarem Schwimmbad, Veranstaltungssaal, Kindergarten, Dachgarten und Sauna – allerdings ohne Tiefgrarage und mit einer sehr reduzierten Stellplatzverpflichtung – ist sehr dem guten Leben zugetan. Das variable Wohnumfeld und die Möglichkeit der Mitbestimmung werden so zum Wohlstand und Luxus.

Und schließlich nannte auch Enzensberger immaterielle Güter wie Zeit, Aufmerksamkeit, Raum, Ruhe, Umwelt und Sicherheit den neuen Luxus. Die Zeit hebt er als wichtigstes aller Luxusgüter hervor: „Bizarrerweise sind es gerade die Funktionseliten, die über ihre eigene Lebenszeit am wenigsten frei verfügen. (…) Man erwartet von ihnen, dass sie jederzeit erreichbar sind und auf Abruf bereitstehen.“
Als Quintessenz seiner „Reminiszensen an den Überfluss“ skizziert Enzensberger ebenfalls einen Paradigmenwechsel im Konsumverhalten: „(…) dann liegt die Zukunft des Luxus nicht wie bisher in der Vermehrung, sondern in der Verminderung, nicht in der Anhäufung, sondern in der Vermeidung. Der Überfluss tritt in ein neues Stadium ein, indem er sich negiert. Die Antwort auf das Paradox wäre dann ein weiteres Paradox: Minimalismus und Verzicht könnten sich als ebenso selten, aufwendig und begehrt erweisen wie einst die ostentative Verschwendung. Seine repräsentative Rolle würde der Luxus damit allerdings endgültig einbüßen. Seine Privatisierung wäre perfekt.“

Heinrich Bölls Fischer wäre mithin der Archetyp des neuen Wohlstandsbürgers.

Michael Adler

 

 

Literatur zum Thema

• Naomi Klein, No Logo!, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a.M./Wien/Zürich 2001, 38DM, ISBN 3-7632-5205-3

• Fiederun Pleterski/Renate Habinger, Vom Luxus des Einfachen, Edition Grüne Erde im Verlag Christian Brandstätter, Wien 2000, 48DM, ISBN 3-85498-041-8

• E.U. von Weizsäcker/A.B. Lovins/L.H. Lovins, Faktor Vier, Droemer Knaur Verlag, München 1996, 45 DM,
ISBN 3-426-26877-9

• Wolfgang Sachs, Maß-voll leben, in: politische ökologie Nr. 69 „LebensKunst – Auf Spuren einer Ästhetik der Nachhaltigkeit“, ökom Verlag, München 2001

• Hans Magnus Enzensberger, Reminiszenzen an den Überfluß, Der Spiegel 51/1996

• Heinrich Böll, Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral , in: Ders., Werke, Romane und Erzählungen Bd. 4, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln, S. 267–269

 

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