Mobilität von Kindern
Für selbstständige Kinder
Damit sich Kinder zu sozialen, souveränen und fitten Menschen entwickeln, müssen sie sich selbstständig draußen bewegen dürfen. Was muss sich ändern, damit Eltern dies zulassen?
Mein Schulweg war etwa einen halben Kilometer lang und führte durch eine Tempo-30-Zone mit vielen Einbahnstraßen. Für mich und die Nachbarskinder war es selbstverständlich, in die Grundschule zu laufen. Und zwar auf der Fahrbahn, Bürgersteige gab es keine. Nachmittags war die Straße unser Treffpunkt: Dort haben wir Fußball gespielt. Wenn mal ein Auto kam, bremste es und wir haben uns an den Fahrbahnrand gestellt und es vorbeigelassen, um anschließend weiter zu toben. Das war in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren.
Heute sind Kinder viel seltener selbstständig mobil als früher und sie spielen auch kaum noch draußen – schon gar nicht auf der Straße. Wie der VCD in seinem Factsheet „Kindgerechte Mobilität im Wohnumfeld“ schreibt, liefen 1976 noch 92 Prozent der Kinder zu Fuß zur Grundschule. 2017 waren es nur noch 34 Prozent, während 43 Prozent der Kinder im Auto gebracht wurden. 1997 hat der Staat Sport und Spiel auf der Fahrbahn, den Seitenstreifen und Radwegen verboten (§ 31 StVO). Sogar Inlineskaten und Rollschuhfahren ist dort untersagt.
Kinder bewegen sich zu wenig
Die Folgen von Bringfahrten im Auto, Spielverbot auf der Straße sowie Videospielen, Tablets und Smartphones im Haushalt: Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bewegen sich weniger, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, und damit weniger als eine Stunde pro Tag. Dabei ist genügend Bewegung für die Entwicklung von Kindern wichtig. Sie wirkt sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System, den Bewegungsapparat, die muskuläre Fitness, das Körpergewicht, die Verbesserung der schulischen Leistungsfähigkeit sowie auf die psychische Gesundheit aus.
„Wenn Kinder auf der Straße spielen und selbstständig ihre Umgebung entdecken, fördert das ihre soziale, kognitive und physische Entwicklung, ihre Kreativität, ihr räumliches Vorstellungsvermögen und ihre Wahrnehmung von Entfernung, Zeit und Geschwindigkeit“, sagt Anika Meenken, VCD-Sprecherin für Radverkehr und Mobilitätsbildung. „Kinder, die selbstständig unterwegs sind, lernen besser, sich zu orientieren. Sie identifizieren sich stärker mit ihrem Wohnumfeld, finden mehr Freund*innen und bauen eher soziale Bindungen zu Nachbarn auf als Kinder, die stets von den Eltern oder Großeltern begleitet werden“, so Meenken weiter.
Dass Eltern ihren Kindern über die letzten Jahrzehnte nach und nach die Selbstständigkeit genommen haben, hat vor allem einen Grund: Sie trauen ihrem Nachwuchs nicht mehr zu, mit dem stark gewachsenen Autoverkehr umzugehen, und wollen sie vor seinen Gefahren schützen. Das legen die Zahlen aus dem VCD-Factsheet nahe: Kinder, die in einem Wohnumfeld mit wenig Kraftverkehr leben, dürfen zu 79 Prozent auf der Straße spielen, in Gegenden, durch die viele Autos fahren, gilt das nur für 18 Prozent der Kinder. In einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstituts Forsa für den VCD und das Deutsche Kinderhilfswerk nannten 43 Prozent der Eltern „Angst um die Sicherheit ihres Kindes“ als Motiv dafür, ihre Kinder mit dem Auto in die Grundschule zu fahren.
Diese Eltern sind selbst Teil des Problems. Sie tragen zum Autoverkehr bei, vor dem sie ihren Nachwuchs schützen wollen und sorgen für gefährliche Situationen vor Schulen. Wer beispielsweise im SUV rangiert, kann Kinder hinter dem Fahrzeug oft gar nicht sehen und fährt sie womöglich um. „Wir fordern die Einrichtung von Schulstraßen, die rund um Unterrichtsbeginn und -ende für den Pkw-Verkehr gesperrt werden. So kann die Gefahr durch Elterntaxis gebannt werden“, sagt Anika Meenken.
Eine gute Nachricht: Die Zahl der im Verkehr getöteten Kinder unter 15 Jahre ist laut Statistischem Bundesamt von 847 im Jahr 1982 auf 51 im Jahr 2022 zurückgegangen. Ob es einen Zusammenhang mit dem Trend zum Elterntaxi gibt, ist unklar. Denn auch die Gesamtzahl der im Verkehr getöteten Menschen ist im selben Zeitraum von 13 450 auf 2 788 Tote gesunken. Den größten Einfluss dabei dürfte die Ausweitung der Gurtpflicht auf Mitfahrer*innen auf der Rückbank im Jahr 1984 gehabt haben.
Wohnumfeld für Kinder
„Damit wieder mehr Eltern ihre Kinder allein losziehen lassen, müssen Wohnumfeld und Verkehrssysteme kindgerecht gestaltet werden“, sagt Anika Meenken. Beispielsweise indem der Bundesverkehrsminister endlich den Weg für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Städten frei macht. Das fordert neben dem VCD auch ein Bündnis von rund 900 Kommunen im ganzen Land. „Wir brauchen weniger Autoverkehr und dafür dichte und sichere Fuß- und Radwegenetze, ein familienfreundliches Bus- und Bahnangebot und eine nachhaltige Mobilitätsbildung, die bereits im Kindergarten beginnt“, sagt VCD-Sprecherin Meenken.
Ich habe das Glück, heute in einem Wohngebiet mit vielen Einbahnstraßen und Sackgassen zu leben, die nur für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen durchlässig sind. Pkw-Durchgangsverkehr gibt es nicht. Die Anwohner*innen stellen im Sommer Bierzeltgarnituren auf die Straße und grillen gemeinsam. Die Nachbarskinder, die eine Kreuzung weiter wohnen, bauen oft einen Basketballkorb auf und werfen von der Straße aus Körbe – und das in Köln, nicht etwa auf dem Land. Wäre es nicht schön, wenn alle Kinder in einem solchen Umfeld aufwachsen könnten? Daran sollten Bund, Länder und Gemeinden arbeiten. Dann wäre auch der Anteil der Eltern deutlich geringer, die ihre Kinder vorsichtshalber in einem Schutzpanzer aus Blech von A nach B kutschieren oder das Spielen im Freien auf begleitete Ausflüge zum Spielplatz begrenzen.
Benjamin Kühne