Reise 4/2023
Leipzig
Bach for Future
Zu den Spielstätten der Musik von Johann Sebastian Bach pilgern Menschen aus der ganzen Welt. Das Projekt Bach-Wald soll den Musikbetrieb nachhaltiger machen.
Als der neu berufene Thomaskantor Johann Sebastian Bach im Mai 1723 mit seiner Frau und fünf Kindern in Leipzig ankam, war die Welt noch eine andere. Das 60 Kilometer entfernte Köthen, wo Bach als Hofkapellmeister des dortigen Fürsten unter Vertrag gestanden hatte, war eine Tagesreise entfernt; die Familie karrte ihren Hausstand mit zwei Kutschen und einigen Lastkarren zum neuen Dienstort am Thomaskirchplatz. Leipzigs Kirchen, Handelsplätze und Bürgerhäuser hatten noch Platz innerhalb der mittelalterlichen Stadtbefestigung, der heutigen Ringstraße. Das sumpfige Land drumherum an den Flüsschen Elster, Pleiße und Luppe bedeckten dichte Auenwälder. Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Durch die industrielle Revolution wuchs die Bevölkerung stark und die Stadt breitete sich aus: Man schleifte die Mauern, legte die Sümpfe trocken und rodete den Wald. Im 20. Jahrhundert gab der Braunkohle-Tagebau der Gegend südlich von Leipzig den Rest: Die Bagger fraßen sich durchs Land und zerstörten, was von der natürlichen Landschaft übrig war. Die Umgebung Leipzigs gehört heute zu den waldärmsten Regionen des Freistaates Sachsen.
Zur Aufforstung will das Bachfest Leipzig beitragen, das jährlich zu Ehren des großen Komponisten stattfindet. Um in Zeiten des Klimawandels den ökologischen Fußabdruck des Musikfestivals zu reduzieren, unterstützt das Bach-Archiv als Veranstalter die Anpflanzung eines Johann-Sebastian-Bach-Waldes aus heimischen Baum- und Straucharten im Leipziger Süden. Die ersten Setzlinge der Flatterulmen, Vogelkirschen oder Winterlinden wurzeln bereits am Westufer des Störmthaler Sees. Das Gewässer ist durch den Tagebau entstanden, das gleichnamige Dorf und sein Gotteshaus blieben verschont. Hierhin hatte den Thomaskantor vor 300 Jahren seine erste Dienstreise zur Einweihung der Störmthaler Orgel geführt.
Der Bach-Wald ist ein Herzensprojekt von Michael Maul. Der Musikwissenschaftler ist Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und seit fünf Jahren Intendant des Bachfestes Leipzig, das die Stadt seit 1999 jährlich im Juni ausrichtet. Maul macht eine simple Gleichung auf: „Je internationaler ein Festival, desto problematischer ist seine CO2-Bilanz.“ Bis zu 80 000 musikbegeisterte Menschen aus über 40 Ländern kommen jährlich nach Leipzig, um Bachs Musik an seinen originalen Wirkungsstätten zu hören. „Hier hat Bach gelebt und gearbeitet, hier hat er seine berühmtesten Werke komponiert und uraufgeführt. Das verleiht dem Bachfest Leipzig eine einzigartige Strahlkraft“, sagt Maul.
Ein Bach-Wald für das Klima
Doch wie kann ein Festival das Versprechen an die kommenden Generationen einlösen, nachhaltig zu arbeiten und eine gesunde Umwelt zu erhalten? „2019 starteten wir mit der Neuanpflanzung eines üppigen Forstes auf Bachs Terrain“, erklärt Intendant Maul das Projekt. 126 000 Bäume und mehr als 3 600 Sträucher sollen in die Erde kommen, damit der Wald einmal bis zu 290 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr bindet. Innerhalb von fünf Jahren will die Stiftung „Wald für Sachsen“, Projektpartner des Bach-Festes, 25 Hektar des vom Tagebau verwüsteten Landes aufforsten und in einen heimischen Mischwald verwandeln. Mit nachhaltigem Effekt: „Wälder sorgen für besseres Klima, saubere Luft, sie vermindern den Treibhauseffekt, sichern die Trinkwasserversorgung, sorgen für Bodenfruchtbarkeit, Erosions- und Artenschutz und sind für kommende Generationen Ruhe- und Erholungsorte“, sagt Viktoria Volke, die Landesgeschäftsführerin Sachsen der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, die die Besucher*innen für das Zukunftsprojekt begeistern möchte. Denn der Bach-Wald finanziert sich aus Spenden. Fünf Euro kostet ein Setzling inklusive Starthilfe für einen Baum. Und möglichst alle Besucher*innen des Bachfestes sollen sich beteiligen. Die Organisation des Festivals bemüht sich bei Sponsoren um größere Spenden und hat das Projekt auch ins Festivalprogramm aufgenommen. Im Juni spielte das Münchener Bach-Orchester im Rahmen des Bachfestes ein Klimakonzert, für dessen gesamten Erlös Bäume im Bach-Wald gepflanzt werden. Ende Oktober startet die nächste Pflanzaktion anlässlich der Festwoche „300 Jahre Orgelweihe in Störmthal“.

Meisterwerke im Wochentakt
In seinen ersten Jahren in Leipzig war der Thomaskantor unfassbar produktiv: Bach komponierte Meisterwerke im Wochentakt. In diesem Jahr – 300 Jahre nach seinem Amtsantritt – begeht die Stadt das größte Bach-Jubiläum des 21. Jahrhunderts. Ein ganzes Kirchenjahr lang, bis zum Trinitiatissonntag am 26. Mai 2024, wird das Bachfest so ziemlich alle Kantaten und Motetten in Konzerten und Gottesdiensten zur Aufführung bringen, so wie Bach sie für die Kantaten-Saison 1723/24 komponierte. Dazu kommen bekannte Dirigenten in die Stadt, namhafte Orchester sind zu hören und natürlich Bachs immer noch klingendes Instrument, der Thomanerchor.
Selbstverständlich bietet die Stadt ein großes Begleitprogramm an: Das Bach-Museum und das Stadtgeschichtliche Museum widmen sich dem Thomaskantor in Sonderausstellungen. Stadtrundgänge führen zu vielen authentischen Bach-Orten, und die beiden großen evangelisch-lutherischen Kirchen, in denen Bach 27 Jahre Dienst tat, die Thomaskirche und die Nikolaikirche, stehen allen auch außerhalb der Konzertzeiten offen. Auch in Bars, Kaffeehäusern und auf dem Marktplatz sollen – wie übrigens zu Bachs Zeiten – seine weltlichen Werke erklingen.
Wer heute in Leipzig ankommt, nicht wie JSB, wie seine Fans ihn abkürzen, mit der Pferdekutsche, sondern vorzugsweise mit dem Zug, den empfängt die Stadt in einem der größten und schönsten Bahnhöfe der Republik. Dieses beeindruckende Bauwerk mit seiner Architektur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist Europas größter Kopfbahnhof. 1997 haben Bund und Deutsche Bahn ihn restauriert. Die gigantische Bahnhofshalle – hoch, hell, geräumig, mit unglaublich viel Platz für die Reisenden – ist allein schon eine Reise wert.
Wie kaum eine andere Stadt ist Leipzig aber auch mit den Ereignissen des Herbstes 1989 und der deutschen Wiedervereinigung verbunden. In diesem Zusammenhang ist der Besuch der Nikolaikirche auch ein Gang zurück in die jüngere deutsche Geschichte. Hier, in Bachs Wirkungsstätte, erklang der Ruf nach Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung besonders hell.
Streaming-Star JSB
Wie populär der Leipziger Musiker heute tatsächlich ist, zeigen die Zahlen von Streaming-Plattformen: Menschen auf der ganzen Welt rufen Bachs Musik monatlich ca. 6,7 Millionen Mal auf – damit ist er der meistgestreamte Komponist und stellt Madonna oder Ed Sheeran locker in den Schatten. Bachs alte Musik sei eben nicht wirklich alt, sondern im Fluss, sagt Bachfest-Intendant Michael Maul. Und die alten Texte der Kantaten? „Auf ihnen beruht unser Wertekanon, sie behandeln zeitlose Fragestellungen wie das Verhältnis von Arm und Reich, von Macht und Freiheit oder von falschen Propheten, denen die Menschen sich zuwenden.“ Für das Jubiläum hat Maul sich viel vorgenommen: „Wo Bachs Musik herkommt, was sie uns heute zu sagen vermag und wie sie auch unsere Zukunft prägen kann – all das soll im Festjahr 2023 ergründet werden.“
Uta Linnert