Reise 4/2023
Kultur im Laufe der Jahrhunderte
Fortschritt und Moderne
Unterwegs in der Welterberegion Dessau-Anhalt-Wittenberg, zwischen Kirchen, Palästen und dem Bauhaus
Gemächlich tauchen die beiden langen Paddel ins Wasser, fast lautlos gleitet die Gondel durch den Kanal. Links und rechts blühen lila Rhododendren, eine Nachtigall singt. Ein Schwan schwimmt zwischen Seerosen neugierig zum Boot, und auf dem Dach eines kleinen Schlosses, an dem wir vorbeischaukeln, sitzen Pfauen. Doch nein, wir befinden uns nicht in einem märchenhaften Fantasieland, sondern im Wörlitzer Park in Sachsen-Anhalt.
Unser Gondoliere Wolfgang Schmidt – als Boot will er sein Gefährt nicht bezeichnet wissen – rudert seit 25 Jahren Besucher*innen über den Wörlitzer See und seine Kanäle. Neben amüsanten Anekdoten über Gäste und Kolleg*innen kann er auch einiges über die weitläufige Parkanlage erzählen. Zum Beispiel, dass es hier 17 Brücken gibt, die alle unterschiedlich aussehen. Oder, dass es auf der Insel Stein am anderen Ende des Sees den ältesten künstlichen Vulkan Europas gibt, der mithilfe von Pyrotechnik sogar „ausbrechen“ kann.
Ein modernes Schloss
Herzstück des Parks ist aber das Wörlitzer Schloss. Von außen eher schlicht gehalten, zeigt sich innen ein Gebäude, das seiner Zeit weit voraus war. Türen verschmelzen nach dem Öffnen optisch mit den Wänden, unscheinbar aussehende Wände entpuppen sich als Klappmöbel – selbst im Festsaal hat sich ein Klappbett als Tür getarnt – und an mehreren Orten im Schloss gibt es fließendes Wasser. Beeindruckend für einen Bau, der vor 250 Jahren fertiggestellt wurde.
Zu verdanken haben wir Park und Schloss Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Dessau-Anhalt, kurz: Fürst Franz. Der Regent war nicht nur ein weitgereister, fortschrittlicher Mann, sondern er wollte seine Untertanen daran teilhaben lassen, die Welt zu entdecken: Die Parkanlage und Teile des Schlosses waren daher von Beginn an öffentlich zugänglich. Das galt auch für viele andere Park- und Schlossanlagen des Fürsten, die damals wie heute das Gartenreich Dessau-Wörlitz bilden.
Sieben Schloss- und Parkanlagen gehören zum Gartenreich, das die UNESCO bereits im Jahr 2000 als Welterbe auszeichnete. Gemeinsam mit den ebenfalls ausgezeichneten Bauhaus-Bauten in Dessau, den Luther-Gedenkstätten in Wittenberg und dem UNESCO-Biosphärenreservat Mittelelbe gehört das Gartenreich Dessau-Wörlitz zur WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg. Auf kleinstem Raum und gut mit Bus, Bahn und Radwegen verbunden können Besucher*innen hier ganz unterschiedliche Epochen der Weltgeschichte entdecken.
Glas und Farbe
„Jeder Dessauer hat seine eigene Verbindung zum Bauhausgebäude“, erzählt Ute König, Pressesprecherin der Stiftung Bauhaus Dessau, während sie die Reisegruppe durch den beeindruckenden Bau führt. Walter Gropius war mit der 1919 in Weimar gegründete Kunstschule 1925 nach Dessau umgezogen. Hinter der weltberühmten „schwebenden“ Glasfassade arbeiteten die Bauhaus-Student*innen ab 1926 in verschiedenen Ateliers und entwarfen einige der noch heute bekannten Möbel und Einrichtungsgegenstände.
Während das Bauhaus-Gebäude von außen vor allem durch Glas und Weiß- und Grautöne auffällt, trifft man im Inneren immer wieder auf unerwartet bunte Farbflächen, zum Beispiel im Treppenhaus des angeschlossenen Wohnhauses. Dasselbe gilt für die nahegelegenen Meisterhäuser, in denen Direktor Walter Gropius und Lehrmeister wie Paul Klee oder Wassily Kandinsky mit ihren Familien lebten. Auch die Meisterhäuser sind mit großen Glasfassaden ausgestattet. „Man war sehr fortschrittlich und wollte das auch zeigen“, erklärt Ute König. Der vom Ersten Weltkrieg geprägte Gropius sei beispielsweise extrem hygienebewusst gewesen, was sich unter anderem in der Gestaltung der Kantine zeige. Und viele Bauhaus-Möbel wie die Kugellampe von Marianne Brandt oder der Stahlrohr-Hocker B 9 von Marcel Breuer sind noch heute Klassiker des modernen Designs und verkörpern die praktische Ästhetik der Bauhaus-Schule.
Der Besuch der Meisterhäuser, von denen zwei im Originalzustand erhalten sind, ist heute eine spannende Zeitreise: In die Wände integrierter Stauraum und intelligent durchdachte Raumfolgen beeindrucken, aber ein Badezimmer mit drei Türen in unterschiedliche Richtungen würde heute wohl niemand mehr als praktisch ansehen.
Am Ortsrand von Dessau und direkt am Elberadweg liegt ein weiterer Bauhaus-Bau: das Ausflugsrestaurant Kornhaus. Hier lassen Reisende und Einheimische gleichermaßen entspannt den Tag ausklingen. Und wenn außer dem leisen Gemurmel der vorbeifließenden Elbe nichts zu hören ist und die Abendsonne den Fluss und die Glasfassade des Kornhauses in goldene Strahlen taucht, ist es fast zu kitschig-schön, um wahr zu sein.
Wiege der Reformation
Die Ideen und das Design des Bauhauses galten zu ihrer Blütezeit vor rund 100 Jahren als revolutionär. Eine Revolution ganz anderer Art fand knapp 400 Jahre zuvor unweit von Dessau in Wittenberg statt. Hier nagelte, so heißt es, ein Mönch namens Martin Luther im Jahr 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche und setzte damit die Reformation in Gang, die letztendlich zur Spaltung der Kirche in evangelische und katholische Konfession führen sollte.
Von der historischen Kirchentür ist heute nichts mehr zu sehen, sie wurde bei einem Brand zerstört. An ihrer Stelle erinnert seit 1858 eine bronzene Tür mit dem Text aller 95 Thesen an Luthers große Tat. Und auch sonst weist in der farbenfrohen Stadt, die bereits seit 1938 offiziell „Lutherstadt“ im Namen trägt, vieles auf den großen Reformator und seine Zeitgenossen hin. Von der Schlosskirche ist es nicht weit bis zum Wittenberger Marktplatz, der von den Türmen der Stadtkirche überragt wird – hier predigte Luther, und hier fand 1521 der erste evangelische Gottesdienst statt. Vom Marktplatz blicken die Denkmäler Luthers und Philipp Melanchthons unter anderem auf das historische Brauhaus Wittenberg und auf die Cranach-Höfe. Hier lebten und wirkten Lucas Cranach der Ältere und der Jüngere mit ihren Familien und Nachkommen. Cranach d. Ä. baute hier eine sehr erfolgreiche Malerwerkstatt auf und gründete eine eigene Druckerei. Heute befindet sich in den weitläufigen Gebäuden die fahrradfreundliche, um Nachhaltigkeit bemühte Cranach-Herberge. Hier finden müde Reisende in individuell eingerichteten Zimmern ein ruhiges Bett für die Nacht.
Wer dann noch nicht genug von Luther und der Geschichte der Reformation hat, steht am nächsten Tag vor der Qual der Wahl, in welches der vielen Museen er seine Schritte lenken möchte. Vorbei an der ehemaligen Wittenberger Universität Leucorea, an der Luther und Co. unterrichteten, geht es zum Melanchthon-Haus, das auf familienfreundliche Weise vom Leben und Wirken des Reformators erzählt. Noch weiter die Straße hinunter wartet das Museum im Lutherhaus, einem ehemaligen Kloster, in dem Luther zunächst als Mönch und ab 1532 mit seiner Familie lebte.* Die „Lutherstube“, in der er arbeitete, ist noch nahezu im Original-Zustand vorhanden.
Einen ganz besonderen Zugang zu Luthers Leben und Wirken erleben Besucher*innen im 360°-Panorama „LUTHER 1517“. In dem riesigen, kreisrunden Raum, der rundum von einem Gemälde bedeckt ist, taucht man mithilfe spezieller Beleuchtungseffekte und passender Geräusche in das Tag- und Nachtleben der mittelalterlichen Stadt Wittenbergein. Auf dem detailreichen Gemälde gibt es so viel zu entdecken, dass man sich hier leicht einige Stunden verlieren kann – eine weitere faszinierende Zeitreise in der Welterbe-Region Dessau-Anhalt-Wittenberg.
Katharina Baum
*Hinweis: Das Lutherhaus bleibt ab November 2023 zwei Jahre lang wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Ein Großteil der Museumsschätze wird in dieser Zeit im benachbarten Augusteum ausgestellt.