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NVV
Uta Linnert
apeyron/istockphoto.com

Reportage: Im Bus durch Nordhessen

Ein Engel auf Rädern

Der NVV hat den Bus-Takt in der ländlichen Umgebung von Kassel stark ausgebaut. Wie wird das Angebot angenommen? fairkehr ist mitgefahren.

Ein grün-weißer Linienbus fährt durch eine Landschaft in Nordhessen.
NVVLandschaft mit Bus: Gute Verbindungen werten Gemeinden im ländlichen Raum auf.

Ein Großer Held thront über Kassel, vielleicht der größte. 70 Meter hoch ist das Herkulesdenkmal, von dem aus der griechische Kraftprotz die hessische Großstadt überblickt, nachdenklich, grimmig. Der tatkräftige Herkules passt zur Arbeiterstadt Kassel. Doch ich bin nicht hier, um Helden zu treffen. Ich bin hier, um einen Engel zu treffen. Sie glauben mir nicht? Warten Sie's ab.

 Von spirituellen Begegnungen  mal abgesehen, bin ich nach Nordhessen gereist, um über den ÖPNV zu schreiben. Unser Kraftprotz hier ist zum Beispiel bestens angebunden. Kassel-Wilhelmshöhe, wo der Grieche wohnt, hat sogar einen eigenen Bahnhof. Aber wie sieht es sonst in der Region aus? Im Hintergrund, jenseits der Stadt, erhebt sich das Fulda-Werra-Bergland. Da fahre ich heute hin. Von Kassel Hauptbahnhof mit der Buslinie 30 nach Hannoversch Münden. Denn auf der  knapp einstündigen Busfahrt will ich erleben, wie sich Busverkehr auf dem Land anfühlt, und mit Menschen sprechen, die auf der Linie 30 unterwegs sind.

Vierzig Prozent mehr Busse

Der Nordhessische Verkehrsverbund (NVV), der für den ÖPNV in der Region zuständig ist, hat kräftig in seine Busverbindungen investiert. „Jedes Dorf, jede Stunde“ heißt die Angebotsoffensive für den ländlichen Raum. Konkret heißt das: neue Buslinien, mehr Haltestellen, zusätzliche Fahrzeuge, engerer Takt. So sind im Landkreis Kassel seit 2021 laut Angaben der NVV 40 Prozent mehr Busse unterwegs als zuvor.

Möglich wurde das neue Angebot durch eine große Koalition aus Land, Stadt und Landkreisen. Alle Beteiligten waren sich einig, dass der ÖPNV gestärkt werden muss. Der Landkreis Kassel hat dafür Geld in die Hand genommen. Der Großteil der Kosten wird jedoch über die sogenannten Regionalisierungsmittel abgedeckt. Als einziges Bundesland leitet Hessen diese für den ÖPNV bestimmten Gelder des Bundes vollständig an die Verkehrsverbünde weiter.

Die Linie 30 ist ein Beispiel dafür, dass dieses Geld auf der Straße ankommt. Früher fuhr der Bus zwar auch stündlich bis ins nahe gelegene Uschlag, aber nur alle zwei Stunden bis nach Münden. Am Wochenende gab es täglich nur vier bis fünf Verbindungen. Jetzt fährt die Linie 30 verlässlich jede Stunde, die ganze Strecke, von früh morgens bis Mitternacht.

Einmal Endstation, bitte!

Kassel Hauptbahnhof, Dienstagmorgen, 9:30 Uhr. Von der Wilhelmshöhe aus sah die Stadt noch grün aus. Hier bietet sich ein anderes Bild: westdeutscher Nachkriegsbeton, rechts ein fahles Bürogebäude, auf dem „Haus der Wirtschaft“ steht, links eine Art Plattenbau mit der Aufschrift „Spielhalle Kassel“. Versicherungen, Friseursalons, Shisha-Bars. Die Liegestühle auf dem Bahnhofsvorplatz sind um diese Zeit noch unbesetzt. Ein Motor heult auf, Bässe wummern, Felgen blitzen. Da kommt mein Bus.

Die Verabredung mit meinem Engel habe ich erst am Nachmittag. Er heißt Engjull („Angel“), ist Busfahrer und wird mich mit zu seiner Schicht nehmen. Aber zunächst will ich mir einen eigenen Eindruck verschaffen.

Hier, an der ersten Haltestelle, bin ich der einzige, der einsteigt. Nicht überraschend. Es ist Wochentag, die Schüler*innen werden schon beschult, und die Pendler*innen sind schon gependelt. „Eine Fahrt nach Hannoversch Münden“, sage ich. Den etwas sperrigen Namen der Stadt in Niedersachsen habe ich gerade erst gelernt, aber immerhin steht er vorn auf dem Bus. Mir und dem jungen Busfahrer − ich schätze ihn auf Ende 20 − hilft das nicht. Er versteht mich nicht. Auch nach mehreren Versuchen. Ich würde ihn gern fragen, ob er neu ist im Job, neu in Deutschland. Aber ich weiß nicht, in welcher Sprache. Schließlich winkt er mich durch. „Manche sagen, wir hätten zu viele ausländische Fahrer“, wird Engjull mir später sagen. „Aber was willst du machen? 87 000 Busfahrerstellen in Deutschland sind unbesetzt!“

Ich setze mich auf die letzte Bank. Sofort fällt mir die Anordnung der Sitze auf. Von 18 Sitzgelegenheiten  im vorderen Teil sind 12 Klappsitze. „Raum für Kinderwägen, Fahrräder, Rollstühle“, denke ich. Und in Stoßzeiten stauen sich die Fahrgäste nicht im Eingangsbereich. Der Boden hat eine Parkettoptik. Die Verkleidungen sind hellgrau, die Sitzbezüge pistaziengrün und wasserblau. Der Innenraum wirkt hell und einladend.

Am Königsplatz steigen Fahrgäste ein, ebenso an der Universität. Eine Frau, um die 30, setzt sich in die Nähe der Tür, ein Teenager direkt hinter den Fahrer, drei junge Männer ganz in meine Nähe. Sie reden arabisch.

Mittlerweile haben wir die Innenstadt verlassen und fahren durch ein Industriegebiet. Autohäuser, Reifencenter, Werkstätten. Hier dreht sich alles ums Auto. Im Schaufenster von „Mulsano Luxury Cars“ stehen Porsches, Ferraris und Bentleys. Aber egal wie viele PS sie unter der Haube haben: Der wahre Herkules ist die Linie 30, die unbeirrt ihre Arbeit verrichtet, Stunde um Stunde.

Ich spreche die jungen Männer an. „Deutsch?“ „English“, sagen sie. Abdalrahman, Ahmed und Gebril kommen aus Ägypten. Sie studieren Electrical Communication Engineering an der Universität Kassel und haben sich auf Stellen als Lagerarbeiter bei DHL beworben. Jetzt sind sie unterwegs zu ihrem Bewerbungsgespräch. Sie sind erst seit drei Monaten in Deutschland und wollen neben dem Studium etwas Geld verdienen. Bus fahren können sie mit ihrem  Studententicket. In ihrer Heimat würden die Menschen auch viel mit dem Bus fahren, sagen sie.

Wir haben das Industriegebiet verlassen und fahren durch Wiesen, Wälder und Felder. Jetzt sind wir wirklich auf dem Land. Die Straße ist eng, der Bus scheint die hohen Gräser am Straßenrand zu streifen. Wir sind flott unterwegs. Ein Schild warnt: „Eile tötet.“ In dem kleinen Ort Uschlag hält der Bus vor dem Supermarkt Nahkauf. Drei Frauen steigen ein, zwei Seniorinnen und eine Mittvierzigerin. Sie setzt sich und stellt ihre beiden vollen Einkaufstüten zwischen ihren Füßen ab.

Nach der Schicht in den Bus

An der Haltestelle Triftstraße, mitten im Niemandsland, steigen die drei Ägypter aus. Im Vorbeifahren sehe ich, wie sie auf ein riesiges Lagergebäude zulaufen, vor dem unzählige DHL-Transporter stehen. Wenn nach 21 Uhr Feierabend ist, steigen an diesem Halt laut Engjull bis zu siebzig DHL-Arbeiter*innen mit Jobticket ein, um zurück nach Kassel zu fahren.

Nach gut fünfzig Minuten kommen wir pünktlich am Bahnhof Hannoversch Münden an. Die wenigen noch verbliebenen Fahrgäste steigen aus und gehen zum Bahnsteig.

Ich spaziere in die nahe gelegene Altstadt von Münden. Hier laufen die Flüsse Fulda und Werra zusammen und werden zur Weser. Es ist ein schöner, ruhiger Morgen. Am lautesten sind hier die Vögel. Die malerische Kleinstadt mit ihren windschiefen Fachwerkhäusern liegt genau zwischen Kassel und Göttingen. Mich interessiert, ob die Menschen hier den Bus nutzen.

Busfahrer Engjull Bajrami steht vor seinem grün-weißen Linienbus-
Tim AlbrechtStolz auf die Linie 30: Busfahrer Engjull Bajrami vor seinem Arbeitsplatz.

Sabrina (43) arbeitet in der Stadtbäckerei Mengel. Sie reicht mir einen Cappuccino über die Verkaufstheke, wir kommen ins Gespräch. Sie wohnt in Großalmerode, einer 6 000-Einwohner-Stadt östlich von Kassel. Ihr Mann arbeitet in Baunatal, wo das zweitgrößte VW-Werk Deutschlands steht. Beide pendeln mit dem Auto zu ihrem Arbeitsplatz. „Man muss ja arbeiten“, sagt sie. Ob der Bus eine Alternative für sie sei? „Das wäre schön, dann könnten wir ein Auto abschaffen“, sagt sie. Aber von Großalmerode nach Münden gibt es keine direkte Verbindung. Sabrina wohnt nicht an der Linie 30, und ihre Arbeit beginnt früh. Auch das ist Mobilität auf dem Land: Nicht immer lässt sich die Autofahrt vermeiden, und nicht immer passen die Lebensentwürfe mit dem Fahrplan zusammen.

Dabei wäre eine Fahrt mit dem Bus für Sabrina und ihre Familie nicht nur finanziell eine Entlastung. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse ist das Pendeln mit den Öffentlichen sowohl körperlich als auch psychisch weniger belastend als mit dem Auto. Besonders gilt dies für Frauen mit Kindern.

Märchenhafter Komfort

Die NVV weiß den Komfortfaktor von Bussen zu vermarkten: „Sei kein Frosch, fahr wie ein König!“ heißt es auf einem Faltblatt, das die Änderungen zum Fahrplanwechsel der Linien 110, 120 und 130 erklärt. Auf einem anderen: „Zeit für meinen Schönheitsschlaf. Dank traumhafter neuer Verbindungen“. In den Werbeslogans schwingt Lokalpa­triotismus mit. Denn in Kassel trugen die Brüder Grimm ihre berühmte Märchensammlung zusammen. Die Stadt hat ihnen ein eigenes Museum gewidmet.

Wie mir die Pressesprecherin Sabine Herms erklärt, macht der NVV in seinen Ausschreibungen genaue Designvorgaben für die Busse. Der Verbund besitzt selbst keine Fahrzeuge, sondern beauftragt externe Unternehmen mit Beschaffung und Betrieb der Flotte. Alle acht Jahre wird neu ausgeschrieben, zuletzt 2021. Das war auch der Anlass für die jüngste Qualitätsoffensive.

Bereits die Außengestaltung der Busse soll natürlich und sympathisch wirken. Sanfte Formen in abgestuften Grüntönen nehmen die Hügellandschaft der Umgebung auf, Blautöne im oberen Bereich symbolisieren den Himmel. Wer genau hinschaut, entdeckt auf der Außenhaut der Busse das Rotkäppchen und den Wolf. Auch hier wird das Märchenthema wiederaufgenommen.

Innen sind die neuen Busse zweigeteilt: Den vorderen Teil nennt die NVV den „Bereich Stadtfahrten“ mit viel Platz für Rollstühle, Kinderwagen und Rollatoren. Direkt hinter dem Fahrer finden sich vier Mutter-Kind-Sitzbänke. Im hinteren „Bereich Überlandfahrten“ finden sich breite Komfortsitze mit höherer Lehne und USB-Anschlüssen.  Hier hätten mehr Sitze hingepasst, aber die NVV hat sich bewusst entschieden, den Fahrgästen mehr Platz und sogar kleine Abstellflächen zwischen den Sitzen zu bieten. Für Pressesprecherin Herms geht das Konzept auf: „Ich fahre oft mit der Linie 52. In den neuen Bussen hat man oft eine Mischung von allem: ein Fahrradfahrer, zwei Rollatoren, ein Kinderwagen und die üblichen Fahrgäste. Und ich habe noch nie erlebt, dass die Stress miteinander kriegen, jeder kann sich sein Eckchen suchen.“

Schwierige Datenlage

Ein dichterer Takt, neue Linien, bequeme Busse. Aber wird das Angebot denn auch angenommen? „Wir sehen jetzt am Wochenende auf einigen Linien zum Teil vierzig bis fünzig Prozent mehr Auslastung“, sagt Martin Lometsch. Der ehemalige Vorsitzende des VCD-Landesverbands Hessen leitet das Verkehrsangebot Bus bei der NVV und zeichnet für das Konzept „Jedes Dorf, jede Stunde“ verantwortlich. „Aber insgesamt ist die Datenlage noch schwierig zu beurteilen. Das liegt daran, dass wir mit großen Angebotserweiterungen mitten in der Pandemie gestartet sind.“ Dabei kann Lometsch an seinem Rechner bereits am Folgetag genau auslesen, wie viele Kund*innen zu welcher Zeit auf welcher Linie gefahren sind. Möglich macht das ein elektronisches Zählsystem mit Sensoren, mit denen alle Busse ausgerüstet werden. Das System liefert Daten für jede einzelne Haltestelle – natürlich anonym. Für den Verkehrsplaner ein hilfreiches Werkzeug, um den Fahrplan zu optimieren.

Lometsch kennt den Busverkehr hier wie kein Zweiter. Er erklärt die planerischen Hintergründe von „Jedes Dorf, jede Stunde“: „Die Idee dahinter sind nicht nur größere Investitionen, sondern auch eine effektivere Auslastung der Kapazitäten.“ 800 Busse führen morgens im Schulverkehr. Dafür brauche es eine entsprechende Zahl an Fahrzeugen und Busfahrer*innen. Diese dann zu den ruhigeren Tageszeiten durch Ruftaxen ohne Tariflohn zu ersetzen, ergibt für ihn keinen Sinn. „Unsere Busfahrer*innen werden nach Tarif bezahlt und haben Anspruch auf eine gewisse Zahl an Fahrtstunden. Warum sollten wir sie nicht einsetzen?“ Ein verlässliches, regelmäßiges Angebot sei wichtig, um die Kund*innen an den ÖPNV zu binden.

Weil die Menschen nach der Pandemie nur langsam zum ÖPNV zurückkehren, ist die genaue Resonanz auf den neuen Fahrplan aus den verzerrten Statistiken nicht leicht herauszulesen.  Dazu kommt das 9- bzw. 49-Euro-Ticket. Eine positive Tendenz zeigen die Ausdrucke, die einen Teil der Wand von Lometschs Büro übersäen. Die Diagramme zeigen die absoluten Fahrgastzahlen für seinen Verantwortungsbereich, Monat für Monat. Ein kurzer Blick reicht um die große Corona-Delle zu erkennen. Aber seit einigen Monaten liegen die Zahlen über dem Vor-Pandemie-Niveau.

Der Engel erscheint

Am Nachmittag treffe ich endlich Busfahrer Engjull Bajrami. Er fährt schon seit sieben Jahren auf der Linie 30. Wir sind schnell per du. Engjull nimmt mich mit in seinen Arbeitsalltag. Schnell wird klar: Er ist mit Herz und Seele Busfahrer. „Ich liebe diese Linie“, sagt der freundliche Mann mit Kinnbart.

Engjull ist 2003 mit seiner Frau aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen. In seiner Heimat hatte er als Fahrer und Übersetzer für internationale NGOs gearbeitet. Manchmal fallen wir ins Englische, er spricht akzentfrei. Nachdem der Fokus der NGOs im Anschluss an den 11. September vom Kosovo in andere Weltgegenden wanderte, gab es für ihn dort keine Perspektive mehr. Sein Sohn (19) und seine Tochter (15) sind in Deutschland aufgewachsen.

Schilderwald in einer kleinen Ortschaft
Tim Albrecht

Jetzt ist es 17:30 Uhr, der Feierabendverkehr beginnt, der Bus füllt sich. „Die Stoßzeiten sind morgens zwischen 6:00 und 8:30 Uhr“, erzählt Engjull. „Da sind alle Schüler unterwegs und die Menschen fahren zur Arbeit. Und dann wieder nach 17 Uhr.“ Als wir den Stadtteil Niestetal verlassen und sich Wald und Wiesen vor uns öffnen, lächelt Engjull am Steuer: „Ab hier genieße ich es richtig. Ich fahre den ganzen Tag durch diese schöne Natur!“

Engjull fährt gern über die Dörfer, nicht nur wegen der Umgebung. Er sagt, die Menschen hier würden mehr miteinander reden. Viele Stammgäste kennt er persönlich, manchmal bringen sie ihm Süßigkeiten mit, sogar Sekt. Besonders verrückt war es, als das 9-Euro Ticket eingeführt wurde: „In Heiligenrode standen Menschen an der Haltestelle und haben in den Bus gerufen ‚Warte, warte, gib mir zwei, gib mir drei Tickets, auch für nächsten Monat! Eins für meinen Sohn und eins für meinen Enkel!‘“ Damals verkaufte er die Fahrkarten noch direkt im Bus. Mit dem 49-Euro Ticket ist wieder mehr Routine eingetreten. Engjull findet das schade, auch wenn er sagt: „Ich war mehr gefordert.“

Er selbst kann sich kein Haus auf dem Dorf leisten, er wohnt mit seiner Familie in Kassel zur Miete. Trotzdem ist er mit seinem Gehalt nicht unzufrieden. „Als ich angefangen habe, habe ich 11,99 Euro die Stunde verdient, dann 16,70 Euro. Seit Oktober sind es 17,40 Euro.“ Er und seine Frau hätten es geschafft, ein kleines Haus in Gjakova im Kosovo zu bauen. Ob er dort seinen Lebensabend verbringen wird? Das hängt von den Kindern ab.

Flora und das Deutschlandticket

Flora steigt in den Bus ein. Die Siebzigjährige ist mit ihrem Mann unterwegs und fragt, ob sie im richtigen Bus sei. Ihr Mann sucht sich einen Platz, ich komme mit ihr ins Gespräch. Die beiden wollen ihren Sohn und die beiden Enkel besuchen.

Flora wirkt sehr lebenslustig, sie unterhält sich gern und erzählt aus ihrem Leben. „Für mich ist das bequem mit dem Bus“, sagt sie. Sie hat das Deutschlandticket. Fährt sie jetzt mehr? „Ja, natürlich, ich möchte was sehen! Ich will auch den Zug nutzen und Hessen besser kennenlernen.“ Der Fahrplanwechsel bereitet ihr manchmal Schwierigkeiten. Demnächst würden neue Straßenbahnen kommen, das sei gut. Aber die Nummern der Linien wechselten manchmal, dann müsse sie sich erst wieder darauf einstellen. „Die sechs ist jetzt die sieben“, sagt sie. Dann verabschiedet sie sich und setzt sich zu ihrem Mann.

Hoffnung ohne Hubschrauber

Engel sind Verbindungsleute, und Engjull ist auch so einer. Als Busfahrer verbindet er Orte und Menschen. Eine Schülerin steigt ein und zeigt ihr Ticket. „Ah, du hast es geschafft!“, sagt Engjull zu ihr. Sie lächelt und nickt. Als sie nach hinten durchgegangen ist, frage ich ihn, was er damit gemeint hat. „Ihre Familie ist umgezogen, sie muss jetzt den Bus zur Schule nehmen. Jeden Morgen hat sie bei mir eine Fahrkarte gekauft. Ich hab ihr gesagt, sie soll zu ihrem Schulleiter gehen und sich ein Schülerticket besorgen, das ist viel billiger. Jetzt hatte sie es zum ersten Mal dabei!“

Engjull ist überzeugt, dass die Buslinie eine Lebensader für die Dörfer in der Region ist. „Zum Beispiel in Uschlag, da leben zum Teil drei Generationen im selben Ort. Die wollen nicht umziehen!“ Es seien dort neue Häuser gebaut worden und die Buslinie gebe den Menschen Sicherheit. „Wenn du reich bist und mehrere Autos hast, o.k. Oder du musst mit dem Hubschrauber fliegen“, sagt er augenzwinkernd. „Gerade als Familienvater sage ich: Wenn du nicht reich bist, ist deine einzige Hoffnung die Linie 30.“

Verkehrsplaner Martin Lometsch bestätigt Engjulls Sicht: „Die Landräte und Bürgermeister haben erkannt, dass eine gute Busverbindung ihre Gemeinden attraktiver macht. Sie setzen sich zunehmend für den ÖPNV ein. Da hat in den letzten Jahren ein spürbares Umdenken stattgefunden.“ Zumal Kassel eine Großstadt mit hohem Pendleranteil ist, sowohl vom Land in die Stadt als auch umgekehrt.

Am Ende unserer Fahrt setzt Engjull mich auf dem Gelände hinter dem Hauptbahnhof ab. Wir machen noch Fotos, sprechen über seine Arbeit und seine Geschichte. Plötzlich tritt er an den Bus, schließt die Faust und klopft mit den Fingerknöcheln an die Windschutzschreibe: „Eins kann ich dir sagen, Tim. Diese Linie 30, die muss funktionieren.“

Tim Albrecht 

fairkehr 3/2023