Radfahren auf der Nordbahntrasse
Wuppertal von oben
Seit fast zehn Jahren radeln, spazieren und skaten die Menschen in Wuppertal auf der autofreien Nordbahntrasse über den Dächern ihrer Stadt. fairkehr radelt mit.

Endlich Mal ein Verkehrsprojekt, das rundherum gelungen ist. Wuppertaler Bürger*innen haben auf einer 1999 stillgelegten Bahnstrecke einen einzigartigen Rad-, Geh- und Skaterweg angelegt. Seit 2014 führt die 23 Kilometer lange Nordbahntrasse einmal der Länge nach durch die Stadtteile. Wir radeln die Strecke mit Rainer Widmann. Der Ingenieur war bis 2015 zuständiger Projektleiter im Stadtressort der Stadt. Bei Frühsommersonnenschein hören und sehen wir eine Erfolgsgeschichte.
Ankunft Bahnhof Wuppertal-Vohwinkel: Hier hat die Nordbahntrasse Gleisanschluss. Mit Deutschlandticket und Faltrad angereist, kommen wir aus der Regionalbahn direkt auf die Piste.
Während wir mit Widmann dahinradeln, beginnt schon die Führung: Vier Meter breit ist der asphaltierte Radweg auf der ganzen Länge. Hier am Anfang fehlt noch der zwei Meter breite Fußweg, der ein paar Kilometer später standardmäßig rechts gepflastet neben dem Radweg verläuft. So kommen sich die schnellen und langsamen Verkehrsteilnehmer*innen nicht in die Quere. Heute, an einem Mittwochvormittag, ist noch nicht viel los auf der Strecke: Ein paar Skaterinnen ziehen ihre Bahnen, vereinzelte Radfahrer sind auf Tour, meistens ältere Herren mit Helm, E-Bike und Funktionsweste. Wir fahren steigungsfrei durchs Grüne, Bäume rechts und links, die Vögel zwitschern, die Stadt scheint weit weg. Nach zwei Kilometern passieren wir einen Halt der alten Rheinischen Bahnstecke: Das Schild steht noch – oder wieder. Wir sind in Wuppertal-Lüntenbeck. Ein Verein von Eisenbahnfreunden kümmert sich um das Aufstellen und die Pflege der Schilder von einst. Später werden wir noch mehr Bahndeko sehen: Signale, Gleisanzeiger und Bahnhofsuhren. An den vielen Zufahrten zur Trasse weisen Schilder des Radnetzes NRW, wohin es sonst noch geht: nach Solingen, Velbert oder in die Stadtteile Barmen und Elberfeld, hier ebenfalls mit Anschlüssen ans DB- und S-Bahn-Netz.
Nächster Halt: Bahnhof Elberfeld - Varresbeck. Wir kehren ein: Der historische Bahnhof ist heute ein Café.
In das schieferverkleidete Fachwerkhaus von 1879 mit holzverzierten Giebeln und hübschen Holzfenstern ist der Gastronomiebetrieb erst kürzlich eingezogen. Küche und Toiletten sind noch Provisorien – die Genehmigung vom Amt lässt auf sich warten – aber der Cappuccino ist schon top. Wir sitzen im Biergarten unter großen, alten Bäumen. Vor uns ausgeklappt liegt die Karte der Nordbahntrasse, die die Wuppertal Marketing GmbH herausgibt – schließlich fahren hier nicht nur Einheimische Fahrrad. Sie zeigt auch die touristischen Highlights an der Trasse: den Zoo, den botanischen Garten und natürlich die weltberühmte Schwebebahn, die parallel unten im Tal der Wupper etwa die gleiche Strecke hin und her fährt wie wir hier oben am Hang.

Uns interessiert heute das Bauwerk selbst. Widmann erzählt, wie es gelang, das Projekt auf die Beine zu stellen.
Das Wichtigste am Erfolgsrezept: Das Projekt kommt aus der Mitte der Stadtgesellschaft. Initiator und treibende Kraft war die Wuppertalbewegung. Der 2006 gegründete Verein machte den Vorschlag zur Wiederbelebung der Bahnstrecke als innerstädtischen Fuß-, Rad- und Skateweg und schaffte es, die Projektidee schnell und professionell zu kommunizieren und die Bürgerinnen und Bürger der Stadt geschlossen hinter sich zu versammeln. Der Verein hat in seinen Reihen Architektinnen, Ingenieure und Medienprofis, die auch die Politik von der Machbarkeit überzeugen konnten. Gleichzeitig schaffte es der Verein, die erforderlichen Eigenmittel von 20 Prozent der Baukosten aus privaten Spenden aufzutreiben. 2,5 Millionen Euro legten sie auf den Tisch, davon eine Million aus einer Stiftung. Bei Rainer Widmann rannte die Wuppertalbewegung offene Türen ein.
Wie konnte es gelingen, die Nordbahntrasse innerhalb weniger Jahre fertigzustellen?
2007 bauten Mitglieder des Wuppertalvereins mit eigenen Händen und Mitteln ein 200 Meter langes Musterstück und zeigten der Stadt, wie schön die Trasse werden würde. Das Verkehrsressort als zuständige Behörde reichte die Förderanträge ein: bei der Stadt, beim Land, beim Bund und bei der EU. So kamen die Baukosten von etwa 32 Millionen Euro zusammen. Zweite Voraussetzung: die vorhandene Trasse. Die stillgelegte Bahnstrecke war zwar überwuchert, aber noch vollständig erhalten und nicht bebaut. 2009 konnte die Stadt das Grundstück der DB abkaufen. Ein Glücksfall.
Nächster Halt: Kuhler Viadukt. Wir wollen die Stadt von oben sehen.
280 Meter lang und 20 Meter hoch ist der mächtigste von insgesamt vier großen Viadukten an der Trasse. Er überspannt mit 19 Bögen den viel befahrenen Steinweg. Hier oben sind wir vom Autoverkehr schön weit entfernt. Wir schauen über das Zentrum Barmens, sehen unten die Schwebebahn und über das Tal der Wupper hinauf bis ins Bergische Land. 23 Brücken musste die Stadt begutachten und sanieren, einige hatte die Bahn noch kurz vor Stilllegung neu gebaut.
Gab es wirklich keine Gegner?
Der bergigen Topografie geschuldet, gehören auch sechs, mehrere Hundert Meter lange Tunnel zur Nordbahntrasse. Schon vor der Einfahrt wird es kühl und feucht, im Inneren gewöhnt sich das Auge langsam an das spärliche Licht. Fahrräder brauchen deshalb eine funktionierende Beleuchtung. Hier in den Tunneln hatten sich mit den Jahren Fledermauspopulationen eingenistet. Das Vorhaben, die Tunnel wieder zu öffnen, rief den Naturschutz auf den Plan, womit das Planungsteam die größte anzunehmende Hürde vor sich hatte. Es gelang aber, dank eines zurückhaltenden Beleuchtungskonzeptes, Umsiedlungsmaßnahmen und Teilsperrungen von Tunnelröhren einen für Mensch und Tier annehmbaren Kompromiss zu finden.

Nächster Halt: Café Nordbahntrasse. Radfahren und Staunen machen durstig.
Nicht nur Fledermäuse brauchen Rast- und Ruheplätze. Für Besucher*innen hat das Planungsteam an vielen Plätzen Bänke und Fahrradständer aufgestellt und Spielplätze gebaut. Das befreit vom Zwang, etwas konsumieren zu müssen – obwohl das in den vielen gastronomischen Betrieben direkt am Weg verlockend ist. Im Café Nordbahntrasse lernen wir die gemeinnützige Wichernhaus GmbH kennen und damit ein weiteres Standbein der Trasse. Einen großen Teil der Bauleistung und die heutige Pflege des Weges erledigen Menschen, die bei der gemeinnützigen Gesellschaft auf dem sogenannten Zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Sie betreiben auch die Gastwirtschaft.
Hat die Nordbahntrasse das Leben in Wuppertal verändert?
Als Rainer Widmann nach dem Studium im Stadtplanungsamt seine Arbeit aufnahm, fuhr in Wuppertal so gut wie niemand Rad. Ein einziger Mann begegnete ihm regelmäßig auf dem Weg zum Dienst mit dem Fahrrad. Man grüßte sich und kannte sich irgendwann. Die Geschichte ist schon länger her, denn Widmann ist seit 2015 pensioniert. Heute vertritt er die Grünen im Stadtrat und weiß: Der Radverkehrsanteil ist von einem auf immerhin acht Prozent gestiegen.
Am Nachmittag wird es auf der Trasse voller und jünger. 29 Schulen mit insgesamt rund 22 000 Schüler*innen liegen im Umfeld der Trasse, die ihnen einen neuen, sicheren Schulweg bietet. Die Nähe zu größeren Firmen, Gewerbegebieten und öffentlichen Einrichtungen öffnet auch vielen Alltagspendlern neue Wege. Widmann schätzt, dass für rund 100 000 Menschen, die im Einzugsbereich wohnen, eine Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden konnte.
Und was sagen die Initiator*innen von der Wuppertalbewegung?
Die Nordbahntrasse sei in erster Linie ein autofreier Verkehrsweg, den es so vorher nicht gegeben habe; sie sei ein Ort der Begegnung und der Kultur, schreibt der Verein auf seiner Homepage. Die Trasse beflügelt Künstler*innen und Kulturschaffende: Über 100 Hinweistafeln veranschaulichen die Route der Indus-triekultur früher und heute, es gibt eine Radfahrerkapelle am Weg und eine Halle mit Extremparcours zum Skaten. An manchen Tagen betreiben Freiwillige eine Draisinenstrecke. Und das ist noch längst nicht alles. Neue Wohngebäude, die entstehen, werben mit der Nähe zur Trasse. Sonntags könne es hier ganz schön voll werden, sagen die Leute.
Wie geht es weiter?
In Wuppertal arbeitet man an neuen Wegen, die auch für Radpendler*innen nutzbar sind. Die Verbindung zum Ruhrradweg oder ins Rheinland, Richtung Düsseldorf, gibt es schon. Trotzdem ist die Stadt noch keine Fahrradstadt: Wuppertal liegt in einem engen Tal, überall geht es sofort steil bergauf. Dazu der viele Regen. Keine optimalen Voraussetzungen. Man könnte glauben, das E-Bike sei für Wuppertal erfunden worden, scherzt Widmann. Der Projektleiter der Nordbahntrasse fährt heute selbst eins.
Uta Linnert