Reise 3/2023
E-Bike-Urlaub
Durch Raum und Zeit
In Bern kann man Stadturlaub mit Radurlaub verbinden. Thematische E-Bike-Routen führen ins Umland und durch die Geschichte.
Staunend und fasziniert schaue ich auf das Uhrwerk von 1530. Tack, tack, tack. Neun eiserne Metallzahnräder greifen hier präzise ineinander. Jedes mit einer speziellen Aufgabe. Denn Ausleger verbinden den Antrieb nicht nur mit den Zeigern der Turmuhr, sondern auch mit den Komponenten eines Figurenspiels außen am Turm. Tack, tack. Auch ein komplexes Astrolabium wird von dem Uhrwerk gesteuert. Es zeigt immer den aktuellen Sternenhimmel mit Tierkreiszeichen und Mondstand an und ist eine echte Rarität. Tack, tack. Am Laufen gehalten wir die gesamte Mechanik von fünf bis zu 119 Kilogramm schweren Steinblöcken, die im Inneren des Turms an Seilen hängen und jeden Tag von Beschäftigten der Stadt wieder manuell nach oben gekurbelt werden müssen. Tack.
Wenn man in Bern im Zytglogge steht, dann sieht man bildlich, was eine bekannte Redewendung in Worte kleidet: Zuverlässigkeit, „wie ein Schweizer Uhrwerk“. Der Zytglogge ist der Zeitglockenturm Berns und neben dem Bärenpark mitten im Zentrum vielleicht das Wahrzeichen der Stadt.
Wie der Zytglogge funktioniert, kann man sich bei einer Führung erklären lassen. Oder man erfreut sich von außen dem Glockenspiel, bei dem alle 60 Minuten nicht nur „Hans von Thann“ die Glocke schlägt, sondern auch ein Narr schellt, ein Hähn kräht, ein paar Bären eine Runde, der Gott der Zeit, eine Sanduhr und ein Löwe sein Haupt drehen. Tipp: Planen Sie einen Besuch lieber um zehn, elf oder zwölf Uhr ein, als um ein, zwei oder drei Uhr. Sonst ist das Spektakel schneller vorbei, als Sie gucken können.
Lockruf des Hahns
Der letzte Hahnenruf des Figurenspiels klingt in meinen Ohren wie ein Lockruf aus dem Berner Umland. Ich schwinge mich auf mein Rad und radle los auf eine von vier thematischen E-Bike-Touren, die die Stadt Bern kreiert hat. Die Erlebnistour „888 Grünes Band“ führt nicht nur im Grünen einmal um Bern herum, sondern vermittelt auch Wissenswertes, Witziges und Überraschendes zu den Themen Natur und Landwirtschaft. So entdecke ich – dank des zu empfehlenden E-Bikes völlig entspannt – die idyllische Hügellandschaft rund um Bern. Besonders angetan haben es mir das autofreie Köniztal und der Picknickplatz auf der Herrenschwandenhöhe – auch wenn die Fernsicht auf die Berner Alpen heute wolkenverhangen ist. Weiter erfahre ich dort auch, dass Hausschweine mehr Rippen haben als Wildscheine. Nämlich 16 statt 12. Diese wurden ihnen angezüchtet, um acht zusätzliche Koteletts zu erhalten.
Mittags stärke ich mich im Gasthaus Kreuz in Wohlen mit einer Berner Platte. Ich entscheide mich aber gegen die klassische Variante, unter anderem (!) mit Speck, Würsten, Siedfleisch, Schweinehaxe, Zunge – und Rippli. Stattdessen nehme ich die vegetarische Neuinterpretation, die der Juniorchef in 13. Generation kreiert hat: gedünsteter Sellerie, geschmorte Möhren, vegane Wurst, dazu – wie im Original – Bohnen, Sauerkraut und Kartoffeln. Egal ob mit Fleisch oder ohne: Die Berner Platte ist – ihrer historischen Entstehung geschuldet – eine etwas wilde Mischung von allem, was gerade da war. Denn das Traditionsgericht geht auf Kriegszeiten um 1800 zurück. Nicht das einzige Mal stritt man sich damals hier am „Röstigraben“, der Grenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz.
Entlang des Röstigrabens
Mehr dazu erfahre ich auf der zweiten thematischen E-Bike-Tour, der „Zeitschlaufe Laupen“. Die Erlebnisstationen mit Infotafeln und Baumstammbänken erzählen von den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Bernern und Franzosen 1798. Da bin ich gleich doppelt froh, dass ich die Nacht im Schloss Laupen in einem wohnlich eingerichteten Zimmer mit warmem Bett verbringen darf und nicht im Käfigturm des Schlosses. Dort musste 1812/13 eine Kindsmörderin sechs Monate lang auf ihre Hinrichtung warten.
Neben größeren Zeitsprüngen erlaubt eine kleine, liebevolle Ausstellung im Schloss Laupen auch Blicke in die nähere Vergangenheit. Berühmte Persönlichkeiten der Region werden vorgestellt. Darunter: Dr. Albert Wander, der Erfinder des Ovomaltine-Getränkepulvers. Ich fühle mich an meine Kindheit erinnert. Erst recht am nächsten Tag, als ich in Neuenegg den Wander-Werksverkauf betrete. Das Getränkepulver ergänzt längst ein umfangreiches Produktsortiment. Und so kaufe ich mir einen Ovomaltine-Riegel, den ich genüsslich an einer weiteren, nahe gelegenen Raststation entlang der E-Bike-Route genieße. Vor mir plätschert die Sense, hinter mir erinnert mich eine Infotafel der Zeitschlaufe Laupen daran, wie schön es ist, Zeit zu teilen – ob mit dem Hund, mit Freunden oder mit der Reisebegleitung.
Denn neben der Geschichte der Region geht es auf der Zeitschlaufe Laupen auch darum: über den Umgang mit Zeit nachzudenken. Hier in Neuenegg geht darum, Zeit zu teilen, andernorts darum, sich die Zeit zu vertreiben, sich Zeit zu nehmen oder die Zeit zu vergessen.
Und so sinniere ich noch ein bisschen vor mich hin, bevor mir das regelmäßige Tack-Tack des Zytglogge in Bern ins Gedächtnis kommt und mich ans Weiterfahren erinnert. Wichtig ist übrigens noch: Wer das eingangs erwähnte Figurenspiel in Bern miterleben möchte, der muss schon fünf Minuten vor jeder vollen Stunde parat stehen. Denn der Narr nimmt es sich raus, die neue Stunde zu früh einzuläuten – verlässlich und auf seine Art pünktlich. Klar, er ist schließlich Teil eines Schweizer Uhrwerks.
Katharina Garus
Weitere Informationen unter bern.com/e-bike