Politik 3/2023
VCD Bahntest
Wie barrierefrei sind Bus und Bahn?
Im Bahntest 2023/24 untersucht der VCD, auf welche Hindernisse Menschen stoßen, wenn sie mit Bus und Bahn unterwegs sind, und wie sich diese beseitigen lassen.
Eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln gleicht für Menschen mit einer Behinderung dem Absolvieren eines Hindernisparcours. Die Liste der Barrieren, die sie überwinden müssen, ist lang und unterscheidet sich je nach Art und Grad ihrer Einschränkung: Wer im Rollstuhl unterwegs ist, kann Straßen auf dem Weg zu Haltestellen und Bahnhöfen nur dort überqueren, wo die Bordsteine abgesenkt sind. Fehlende Rollstuhlrampen oder kaputte Aufzüge machen das Erreichen von Bahnsteigen unmöglich. An vielen von ihnen ist das Ein- und Aussteigen aufgrund der Höhenunterschiede zwischen Bahnsteig und Zug nur mit fremder Hilfe sowie Rampe oder gar Hublift möglich. Wer an einer Sehbehinderung leidet, kann die Fahrplanaushänge an den Haltestellen und Bahnhöfen nicht lesen und scheitert oft beim Fahrscheinkauf mit nicht barrierefreien Apps, Websites oder Ticketautomaten. Zudem fehlen vielerorts wegweisende Leitsysteme, die mit einem Blindenstock ertastet werden können.
„Für Menschen mit Behinderung sind schon kurze Reisen mit Bus und Bahn oft ein riesiger Planungsaufwand voller Hindernisse“, sagt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Um selbstständig von A nach B zu gelangen, müsste die Planung der Fahrt und die Buchung der Tickets sowie die gesamte Wegekette von der eigenen Haustür über Bushaltestelle und Bahnhof bis ans Ziel barrierefrei sein. Doch die Realität sieht in Deutschland anders aus. Der VCD Bahntest beschreibt die Barrieren und die Rechtslage und zeigt, wie Politik, Verwaltung und Verkehrsunternehmen die Situation verbessern können.
Barrierefreiheit geht uns alle an
Barrierefreiheit wird oft als Thema für eine kleine Gruppe von Menschen mit Behinderung abgetan und vernachlässigt. Dabei hatten laut Statistischem Bundesamt 7,8 Millionen Menschen 2021 einen Schwerbehindertenausweis. Damit haben rund 9,4 Prozent der Menschen in Deutschland diesen Status. Diese Behinderungen sind nur in rund drei Prozent der Fälle angeboren. Die meisten Einschränkungen sind die Folge von Krankheiten und Unfällen. Daher sollten sich Menschen ohne Behinderung darüber im Klaren sein, dass auch sie eines Tages zu den Betroffenen zählen könnten, im Alter wahrscheinlich sogar werden. Durch den demografischen Wandel wächst die Gruppe der Betroffenen.
Zudem profitieren von barrierefreier Infrastruktur alle Menschen. Denn auch Eltern, die einen Kinderwagen schieben, oder Reisende, die einen schweren Rollkoffer hinter sich herziehen, kommen dank abgesenkter Bordsteine, Rampen, Aufzüge und eines niveaugleichen Einstiegs in Busse und Bahnen komfortabler ans Ziel.
Status quo
Wie es um die Barrierefreiheit von ÖPNV-Haltestellen steht, ist schwer zu beziffern, da die Bundesländer darüber selbst kaum flächendeckende Informationen erhoben haben. U-Bahnhöfe werden zunehmend barriefrei. Allerdings kommt der Ausbau von Aufzügen nicht rasch genug voran – und dann müssten diese auch noch funktionieren. Bei Bushaltestellen gibt es im ganzen Land erheblichen Nachholbedarf, auch weil der barrierefreie Umbau teuer ist. Besser sieht es bei den Fahrzeugflotten aus. Heute setzen die Verkehrsunternehmen fast nur noch barrierefreie Niederflurbusse ein, die gut zugänglich sind. Dagegen sind Systeme in Bussen und Zügen, insbesondere Straßenbahnen, die ansagen, wohin sie fahren, noch im Aufbau und bisher selten im Einsatz

Auch die Bahnhöfe im Nah- und Fernverkehr hat der VCD im Bahntest untersucht. Fast alle Bahnhöfe sind mit Lautsprechern und Fahrgast-Informationsanzeigern ausgestattet. Auch ein Wegeleitsystem ist meist vorhanden. Etwas schlechter sieht es bei der stufenfreien Erreichbarkeit von Bahnsteigen und bei Stufenmarkierungen aus – darüber verfügen nur rund 80 Prozent der Bahnhöfe. Bei taktilen Elementen, die blinden Menschen die Orientierung ermöglichen, gibt es erheblichen Nachholbedarf: Das gilt sowohl für ertastbare Schilder an Handläufen als auch für Leitstreifen auf Bahnsteigen, die mit dem Blindenstock ertastet werden können.
Das größte Problem sind die Bahnsteige, die historisch bedingt unterschiedlich hoch sind. Dies kann dazu führen, dass man beim Ein- und Aussteigen aus demselben Zug am Start- und am Zielbahnhof unterschiedlich große Höhenunterschiede zwischen Fahrzeug und Bahnsteig überwinden muss. Wer im ICE mitfahren möchte, muss generell Stufen überwinden. Wo kein niveaugleicher Einstieg möglich ist, kommen als Einstiegshilfen mobile Rampen oder Hublifte zum Einsatz, die mal am Bahnsteig warten, mal im Zug mitfahren.
Aktivistin Cécile Lecomte setzt sich im VCD Bahntest für mehr Gerechtigkeit ein: „Oft werden wir für Verspätungen verantwortlich gemacht, obwohl der wahre Grund die mangelnde Barrierefreiheit ist. Es braucht einen Hublift, um die Stufen im Fernverkehr zu überwinden, das kostet Zeit. Züge ohne Stufen müssen her.“ Erste barrierefreie Schnellzüge will die Deutsche Bahn ab 2024 einsetzen.
Wer Hublifte oder Rampen nutzen will, sollte das bis 20 Uhr am Tag vor der Reise bei der Deutschen Bahn anmelden. „Spontan fahren ist auch nicht drin. Der Zugang wird uns verweigert, weil kurzfristig nicht geprüft werden kann, ob ein Rollstuhlplatz und Personal für den Hublift frei ist – Menschen mit viel Gepäck können sich hingegen immer irgendwie in den Zug quetschen“, beklagt Lecomte. Das Ziel muss sein, dass alle Reisende ohne Einstiegshilfe, ohne Assistenz durch das Personal und ohne Voranmeldung in den Zug kommen – erst dann ist selbstbestimmte Mobilität auch für mobilitätseingeschränkte Menschen möglich.
Herausforderungen
Für die fehlende Barrierefreiheit bei der Bahn und vor allem im ÖPNV gibt es mehrere Gründe. Die Rechtslage ist komplex: Von der EU- über die Bundes- bis zur Länderebene gibt es Gesetze und Verordnungen, die Barrierefreiheit vorschreiben. Diese werden aber oft durch weitreichende Ausnahmen aufgeweicht. Gleichzeitig sehen die Regelungen keine Sanktionen vor, wenn Vorgaben missachtet werden.
Das Geld für Investitionen in Bahn und ÖV für den dringend benötigten Ausbau der Kapazitäten ist knapp bemessen. Es fließt nicht vorrangig in Maßnahmen, die Barrieren beseitigen. „Es braucht ein Förderprogramm des Bundes, um Länder und Kommunen bei der Umsetzung zu unterstützen. So kann am Ende eine Mobilität für alle stehen, die inklusiv ist, Stadt und Land verbindet und das Klima schützt“, erklärt VdK-Präsidentin Bentele.
Auch das Personal in Verwaltung, Planungsbüros und Baufirmen, das benötigt wird, um Maßnahmen zur Barrierefreiheit umzusetzen, fehlt häufig oder ist nicht ausreichend geschult. Menschen mit Behinderungen werden bei der Planung von barrierefreier Infrastruktur zu wenig einbezogen. Eine echte Mitbestimmung gibt es in den wenigsten Fällen. Meist geben Behindertenbeauftragte Stellungnahmen ab oder eine Arbeitsgruppe spricht Empfehlungen aus – aber die Ergebnisse werden am Ende oft nicht berücksichtigt.
Ein weiteres Hindernis ist die unklare Verteilung der Verantwortlichkeiten zwischen verschiedenen Akteuren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, den Verkehrsverbünden und privatwirtschaftlichen Unternehmen. Die Verantwortung für eine barrierefreie Umgebung kann so leicht hin und her geschoben werden. Weiter gibt es Interessenkonflikte, beispielsweise dann, wenn das Bahnhofsgebäude unter Denkmalschutz steht oder der Supermarkt neben der Bushaltestelle nach mehr Parkplätzen verlangt. Die Ansprüche an den öffentlichen Raum sind vielfältig und Einigung ist nicht immer einfach.
„Wir brauchen einheitliche Standards, die bundesweit gelten. Der bisherige Flickenteppich muss verschwinden. Darauf basierend müssen Bahnhöfe und Haltestellen barrierefrei umgebaut werden – und dabei darf auch der ländliche Raum nicht vernachlässigt werden“, fordert VCD-Bundesvorsitzende Kerstin Haarmann. Um systematisch vorgehen zu können, brauche es eine flächendeckende Datenbasis zum Status quo. Dies sei für die Bauträger nötig, könne aber auch den Kunden helfen, so Haarmann: „Uns schwebt ein Informationssystem vor, mit dem barrierefreie Verbindungen deutschlandweit bedarfsspezifisch gesucht und gebucht werden können. Dazu gehören auch Echtzeit-Infos über Aufzugsstörungen.“
Benjamin Kühne