Politik 3/2023
Verkehrsprognose
Wissings Wunschdenken
Die Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose erwartet immenses Wachstum auf der Straße und in der Luft. Gegensteuern möchte der Bundesverkehrsminister nicht.
Die Prognose für die Mobilität in Deutschland bis 2051 zeichnet ein düsteres Bild. Bundesverkehrsminister Volker Wissing rechnet auf Grundlage einer erstmals vorgestellten Gleitenden Langfristprognose damit, dass der Personenverkehr um 13 Prozent und der Güterverkehr sogar um 46 Prozent zunehmen wird. Der Lkw soll dabei um satte 54 Prozent zulegen, die Güterbahnen um 33 Prozent. Prozentual am Gesamtverkehr sollen Laster ihren Anteil weiter erhöhen: von heute 73 auf dann 77,5 Prozent. Die Schiene hingegen würde in den nächsten knapp 30 Jahren Anteile verlieren von heute 19 Prozent auf 17,3 Prozent. Und das, obwohl ein einziger Güterzug 52 Lkw-Fahrten ersetzen kann. Auch der klimaschädliche Flugverkehr soll stärker wachsen als jede andere Art der Fortbewegung.
Wissing macht die neue Verkehrsprognose zur Grundlage seiner Entscheidung über künftige Milliardeninvestitionen: „Ich richte meine Verkehrspolitik an den tatsächlichen Begebenheiten aus, an Zahlen, Daten und Fakten und nicht an politischem Wunschdenken“, schreibt der FDP-Minister auf der Seite seines Hauses, „um einen Verkehrsinfarkt zu verhindern, brauchen wir jetzt dringend den Ausbau aller Verkehrsträger – auch der Straße.“ Statt dem bodenlosen Wachstum Grenzen zu setzen und gegenzusteuern, bestärkt Wissing den Trend und setzt weiter auf Autobahnbau: 148 neue Ausbauprojekte sind die erste Konsequenz.
Bestätigt sieht sich Wissing durch eine internationale Studie der OECD: Der ITF Transport Outlook 2023 prognostiziert ebenfalls weltweite Verkehrszunahmen bei Menschen und Gütern. Anders als der deutsche Minister zieht die Studie aber die richtigen Schlüsse: „Damit steigendes Verkehrswachstum so nachhaltig wie möglich realisiert wird, müssen die Regierungen ihre Planungsmethodik ändern. Statt die Infrastruktur an eine prognostizierte Nachfrage anzupassen, sollte eine zielorientierte Planung maßgeblich für deren Gestaltung sein.“ Wissing richtet seine Ziele allem Anschein nach nicht am Klimaschutzziel von Paris aus. Wenn er die Ergebnisse seiner Prognose mit den Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag abgleicht, müsste er sich fast ausschließlich um Schienen- und Radverkehr kümmern.
Für die Bahn hat sich die Regierung das Ziel gesetzt, die Nachfrage bis 2030 zu verdoppeln; das wird bei Weitem nicht erreicht. Im Flugverkehr will die Koalition die Kurzstreckenflüge verringern; die Prognose sieht dagegen einen Anstieg der Fluggastzahlen bis 2051 um 67 Prozent vor. Beim Fußverkehr rechnet das Gutachten sogar mit einem Rückgang um acht Prozent. Und selbst beim Radverkehr bleibt das erwartete Wachstum massiv hinter den Zielen des Nationalen Radverkehrsplanes zurück, den die Koalition umsetzen wollte.
An den Annahmen der Verkehrsprognose sind ebenfalls Zweifel angebracht. Beispiel Güterverkehr: Die Studie erwartet Umsatzsteigerungen im Maschinenbau von 70 und bei Nahrungs- und Genussmitteln von 60 Prozent. Die Produktionsindexwerte von 2008 bis 2022 lassen laut Statistischem Bundesamt überhaupt nicht erkennen, wo diese Steigerung herkommen soll.
Fakt ist: Wenn der Verkehrsminister die Verdoppelung der Nachfrage im Schienenverkehr bis 2030 erreicht, könnte der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Modal Split nicht wie prognostiziert bis 2051 stagnieren, sondern schon 2030 kräftig sinken. Dann braucht es auch keinen zusätzlichen Autobahnausbau. Die Bürger*innen erwarten von ihrer Regierung die Erfüllung des Koalitionsvertrages und setzen nicht auf Wunschdenken.
Uta Linnert