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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2023

Stillstand bei der Bahn

Mehr Bahn wagen

Die Deutsche Bahn muss ihr marodes und heruntergewirtschafte­tes Schienennetz von Grund auf sanieren und kommt dabei viel zu langsam voran.

Ein ICE fährt über eine Betonbrücke im Nebel.
Foto: mauritius images/Harald Schön

Tal der Tränen. Immer wieder diese Metapher, um die aktuelle Lage für die Bahnkundschaft zu beschreiben. Zuerst fiel sie Ende Mai, als der Bahnvorstand eine radikale Wende bei der Schienensanierung ankündigte. Das Netz gilt als zentrale Ursache dafür, dass im vergangenen Jahr in manchen Monaten jeder zweite Fernzug unpünktlich ankam. Stundenlange Verspätungen waren keine Seltenheit. Hunderte Baustellen gleichzeitig führen zu vielen Engpässen. Hinzu kommt, dass das DB-Management seit den 1990er-Jahren viele Weichen abbauen ließ, sodass sich Züge nicht mehr gegenseitig überholen können. Sobald eine Lok Probleme hat, kommt es auf vielen Strecken unweigerlich zu Staus.

Statt Schienen, Schotterbett, Signale und Oberleitungen erst dann auszutauschen, wenn sie marode sind, und damit permanent viele kleine Baustellen zu verursachen, sind nun Generalsanierungen der wichtigsten Korridore geplant. Losgehen soll es auf der Trasse zwischen Frankfurt und Mannheim nach der Fußball-EM. Ab dem 15. Juli 2024 wird die 75 Kilometer lange Strecke für mehrere Monate komplett gesperrt sein. Gleise, Stellwerke, Stromversorgungsanlagen, Lärmschutzwände, Bahnübergänge, Weichen, Bahnhöfe – alles soll parallel erneuert werden. Drei Überholkorridore werden anschließend dafür sorgen, dass schnellere Züge an langsameren vorbeikommen. Darüber hinaus wird die Strecke digitalisiert, sodass die Züge in kürzeren Abständen fahren können.

500 Millionen Euro sind für die Generalüberholung der meistbefahrenen Strecke Deutschlands angesetzt, auf der heute fast 300 Züge am Tag unterwegs sind.

Und so soll es dann Schlag auf Schlag weitergehen. Ziel ist es, zwei bis drei Korridore des Kernnetzes pro Jahr zu sanieren. Für Fernreisende bedeutet das in dieser Phase riesige Umwege und entsprechend längere Fahrzeiten. Nah- und Regionalverkehr werden in vielen Fällen mit Bussen abgedeckt werden müssen. Doch mit jedem fertiggestellten Korridor werde es besser, wirbt Bahnchef Lutz um Verständnis.

Zwei Bagger bauen an einem Bahngleis.
Foto: Adobe StockAuf allen Verbindungen viel zu tun: besonders auf einspurigen

Kleine Maßnahmen helfen auch

Nicht mangelnde Nachfrage, sondern der Zustand des Gleisnetzes ist zur Wachstumsbremse für den Bahnverkehr geworden. VCD-Bahnexperte Bastian Kettner hält es für sinnvoll, auf den hoch befahrenen Strecken „alles in einem Abwasch“ zu sanieren und dann für Jahre Ruhe zu haben. Zugleich weist er darauf hin, dass die Netzkapazität durch kleine, zum Teil wenig aufwendige Maßnahmen massiv erhöht werden könnte. Der VCD hatte seine Mitglieder um Beispiele gebeten und daraus eine Liste mit Vorschlägen zusammengestellt. „An vielen Stellen sind die Schienen heute wie eine einspurige Autobahn und damit ohne Überholmöglichkeit“, so Kettner.­­ Als Beispiel nennt er das Nadelöhr zwischen Bremen-Burg und Oslebshausen, wo zwei zusätzliche Gleise für große Entspannung des Güterverkehrs zum Containerterminal Bremerhaven sorgen könnten. Auch vor manchen Bahnhöfen verlieren Züge oft viele Minuten, weil es nicht ausreichend Bahnsteige gibt. Und bei Mühlacker nördlich von Stuttgart schleichen die Züge heute auf zwei Streckenkilometern mit 40 Stundenkilometern dahin – ein Zwischensignal könnte die Langsamfahrstrecke halbieren.

Moderne Signaltechnik notwendig

Im gesamten Netz gibt es viel zu tun. Erst 61 Prozent der Strecken sind elektrifiziert, viel weniger als beispielsweise in Italien, Belgien oder den Niederlanden. Und während die Schweiz ihr Netz komplett mit dem European Train Control System (ETCS) ausgestattet hat, das eine Zugfolge im 30-Sekunden-Takt ermöglicht, können die Bahnen in Deutschland vielerorts nur im Abstand von zwei bis drei Minuten eine Trasse passieren. Hinzu kommt, dass es keine einheitliche Signaltechnik gibt.

Um das heruntergewirtschaftete Schienennetz leistungsfähig zu machen, will die Bundesregierung eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft gründen. „Bisher sollte sich die Schieneninfrastruktur betriebswirtschaftlich rechnen und stand somit unter Renditedruck –
anders als Autobahnen oder Wasserstraßen. Das soll sich nun ändern“, lobt Andreas Geißler vom Verein Allianz pro Schiene. Sowohl die DB Netz als auch die für die Bahnhöfe zuständige DB Station&Service werden in der InfraGo aufgehen. Gegenwärtig ringen DB und Bundesregierung noch um deren Ausgestaltung. Der Bund als Eigentümer möchte mehr Durchgriffsmöglichkeit, die DB argumentiert seit jeher, Betrieb und Netz gehörten zusammen. Klar ist, dass die neue Gesellschaft unter dem Dach der DB angesiedelt bleibt – was FDP und Grüne ursprünglich nicht wollten. Aber eine vollständige Trennung von Netz und Betrieb war mit der SPD nicht zu machen: Gewerkschaften und DB-Management sind strikt dagegen.

Transparentere Finanzierung

2024 soll die InfraGo starten. Auch die dysfunktionale Finanzierung des Schienennetzes endet dann. So wie es der VCD in seinem Entwurf für ein Mobilitätsgesetz vorgeschlagen hatte, soll es künftig nicht mehr eine chaotische Vielfalt von Geldquellen geben, sondern nur noch zwei Töpfe: einen für Neubau und einen für Reparatur. Bisher war es für die DB günstig, die Schienen auf Verschleiß zu fahren, sodass Ersatzinvestitionen nötig waren. Dafür gab es nämlich zusätzliche Mittel, während sie die Kosten für Reparaturen allein tragen musste. Hinzu kam, dass DB Netz Gewinne erwirtschaften sollte. Was damit geschah, war im undurchsichtigen DB-Kosmos schwer auszumachen. Selbst das Finanzministerium und der Bund als Eigentümer haben kaum Einblick – Folge der Entscheidung, Bundesbahn und Reichsbahn 1994 zu einem privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen, der DB AG, zu fusionieren.

Ein Regionalzug fährt über eine Backsteinbrücke.
Foto: Deutsche BahnHerausragende Ingenieursleistung des 19. Jahrhunderts: Die Göltzschtalbrücke im sächsischen Vogtland ist die größte Ziegelsteinbrücke der Welt. Errichtet aus 26 Millionen Ziegeln, ist sie heute noch Teil der Eisenbahnverbindung Berlin-München.

Künftig dienen alle Trassenentgelte zur Ertüchtigung der Infrastruktur. „Durch die Konstruktion der InfraGo als gemeinnützig wird das möglich“, erläutert VCD-Bahnexperte Bastian Kettner. Er hofft außerdem, dass sich Bahnhöfe immer mehr zu Drehscheiben mit vielfältigen Mobilitätsangeboten wandeln. Wie das geht, erforscht das Schienenverkehrsforschungszentrum Dresden im Auftrag des Verkehrsministeriums. Hier und auch bei der Brancheninitiative Fahrrad, die sich für ausreichend Stellplätze im Umfeld von Bahnhöfen einsetzt, engagiert sich der VCD mit seiner Expertise.

Jetzt alle Vorschläge umsetzen

Überhaupt gab es im vergangenen Jahr gleich mehrere Expertengremien, um die Bahnpolitik auf neue Gleise zu setzen. Im Dezember präsentierte die Beschleunigungskommission ihren Abschlussbericht mit 22 konkreten Vorschlägen, wie es mit Baustellen künftig schneller geht. Priorität müsse auf den sogenannten kleineren und mittleren Maßnahmen liegen, fordert VCD-Bundesvorsitzende Kerstin Haarmann, selbst Mitglied in der Beschleunigungskommission. Aber auch die konsequente Digitalisierung und der Vorschlag, dem Schienenbau Vorrang im Planungsrecht einzuräumen, oder die rasche Ertüchtigung der Hochleistungskorridore gehören zum Forderungskatalog. „In unserem Abschlussbericht kann Minister Wissing schwarz auf weiß nachlesen, was er tun muss, um die Kapazität des Schienennetzes in den nächsten Jahren deutlich zu erhöhen“, sagt Haarmann. „Wir erwarten, dass alle Vorschläge in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden, und werden nachhaken.“  

Schon vor zwei Jahren hatte das Zukunftsbündnis Schiene aus Bundesverkehrsministerium, Wirtschaft und Verbänden einen Zielfahrplan entworfen, der im vergangenen September verbindlich wurde. Ähnlich wie in der Schweiz soll irgendwann in einer guten Zukunft der öffentliche Verkehr in ganz Deutschland in einem Takt schwingen. Nicht wie bisher die Zeitersparnis auf dem direkten Weg von A nach B ist länger der Maßstab, sondern gut aufeinander abgestimmte Anschlüsse und Umsteigemöglichkeiten. Mal ist für den Deutschland-Takt ein zusätzlicher Bahnsteig nötig, mal der Ausbau einer Schienenstrecke, mal der Einsatz von Neigetechnikzügen. „Der Zielzustand ist jetzt definiert und das Prinzip beschlossen. Jetzt kommt es darauf an, dass der Bund konkrete Etappen zur Umsetzung beschließt und sie ausreichend finanziert“, fasst Andreas Geißler von der Allianz pro Schiene zusammen. Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg geben ihren Bewohner*innen darüber hinaus Mobilitätsgarantien. In Baden-Württemberg soll in ländlichen Regionen ab 2026 der Halbstundentakt kommen, in Ballungsräumen fährt der ÖPNV dann jede Viertelstunde vor.

Viel mehr Passagiere

Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist es, dass in sieben Jahren 300 Millionen Passagiere im Fernverkehr unterwegs sind und Pendler*innen die Bahn für fünf Milliarden Fahrten im Nahverkehr nutzen. Dafür stehen in den kommenden drei Jahren 45 Milliarden Euro fürs Schienennetz bereit. Auch die Regionalisierungsmittel wurden aufgestockt – allerdings wird das meiste wohl für höhere Energiekosten und eventuell das Deutschlandticket draufgehen statt für eine Ausweitung des Angebots.

Ein ICE fährt über eine Betonbrücke.
Foto: Deutsche BahnDie Unstruttalbrücke ging 2012 als Teil der Neubaustrecke Erfurt–Leipzig/Halle in Betrieb. Sie ist mit einer Länge von 2 668 Metern die zweitlängste Eisenbahnbrücke in Deutschland – gebaut aus Spannbeton.

Bereits 2021 investierte Deutschland mehr fürs Schienennetz als in den Jahren zuvor: 124 Euro pro Bürger*in. Doch im Vergleich zu Österreich und vor allem der Schweiz ist das wenig. Umgerechnet 413 Euro pro Kopf lassen sich die Eidgenossen ihr hervorragendes Zugsystem pro Jahr kosten. Darüber hinaus herrsche in Deutschland nach wie vor keine Chancengleichheit zwischen Straßen- und Schienenverkehr, kritisiert VCD-Verkehrsexperte Michael Müller-Görnert. Während Bahnen für jeden Weg Nutzungsgebühr zahlen müssen, können Pkw kostenlos auf den Asphaltpisten unterwegs sein und auch für Lkw gilt auf einem Großteil der Straßen freie Fahrt. Und während in diesem Jahr 9,5 Milliarden Euro aus der Staatskasse für die Bahninfrastruktur vorgesehen sind, sind es 11,5 Milliarden für die Straßen.

Zusätzliches Geld von Bund und Ländern gibt es für das 49-Euro-Ticket, das im Frühjahr starten soll. Es gilt im gesamten Nahverkehr von Flensburg über Siegen bis nach Oberstdorf. Insbesondere Pendler*innen sollen damit in den ÖPNV gelockt werden. „Es wird für die meisten Menschen preiswerter und viel, viel einfacher, Busse und Bahnen zu nutzen. Das ist ein riesiger Schritt nach vorn, man kann fast sagen eine Revolution“, findet Andreas Geisler, der viele Umsteiger*innen vom Auto in die Bahn erwartet. VCD-Verkehrsexperte Michael Müller-­Görnert ist etwas zurückhaltender. „Der Wille, die Bahn voranzubringen, ist zwar vorhanden. Aber die FDP will liebgewordene Privilegien der Autofahrer nicht antasten – und die SPD schaut zu.“ Als Beispiele nennt er die günstige Kfz-Steuer, Subventionen für Diesel, die Entfernungspauschale oder das Dienstwagenprivileg. Die Begeisterung für das 9-Euro-Ticket im vergangenen Sommer mit vielen neuen Fahrgästen habe auch gezeigt, dass die Kapazitäten dafür aktuell nicht ausreichen.

Zielfahrplan 2030

Damit es schneller vorangeht beim Ausbau, müssen nicht nur Hürden wie die staatliche Bürokratie, fehlendes Baumaterial und überkomplexe Strukturen in der DB überwunden werden. Auch der Fachkräftemangel wird ein zunehmendes Problem. Binnen fünf Jahren werden 70 000 Babyboomer in Rente gehen. Wie dünn die Personaldecke in den Zügen schon heute ist, hat die Grippewelle im Winter gezeigt: Immer wieder fallen Verbindungen aus. Für die Kapazitätserweiterung aber braucht es zusätzliche Leute. „Nur mit attraktiven und fairen Arbeitsbedingungen wird das zu lösen sein“, sagt Bastian Kettner. Es dürfe nicht wieder zu solchen Belastungen kommen wie in der Zeit des 9-Euro-Tickets, fordert er. Damals stand das Zugpersonal häufig stundenlang eingequetscht wie in einer Sardinenbüchse zwischen den Fahrgästen, und nicht selten wurden sie auch noch beleidigt, bespuckt oder sogar tätlich angegriffen.

Neben Lokführer*innen und Servicekräften sucht die DB auch Menschen, die für IT- und Datensicherheit sorgen, Ahnung von künstlicher Intelligenz haben sowie Projekte planen, beaufsichtigen und umsetzen. Sie alle zu finden ist aufgrund des allgemeinen Fachkräftemangels nicht einfach. Auch in der Bauindustrie und der staatlichen Verwaltung braucht es zusätzliches Personal. „Die vor zwei Jahren gegründete Autobahngesellschaft hat in vielen Bereichen gewildert und Planer abgezogen“, kritisiert Müller-Görnert. Der VCD-Verkehrsexperte schlägt vor, die Autobahngesellschaft in eine Mobilitäts GmbH zu transformieren und dem Klimaschutz bei der Entscheidung über neue Projekte Priorität einzuräumen. Doch mit einem FDP-Verkehrsminister ist das wohl kaum zu machen.

Alles, was für die Verkehrswende nötig ist, ist bekannt. Jetzt müssen Taten folgen. Bei konsequenter Prioritätensetzung könnten deutliche Verbesserungen bereits in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zu spüren sein, ist An­dreas Geißler überzeugt. „Die Bundesregierung hat den Schlüssel dafür in der Hand.“ Den Zielfahrplan 2030 in der vorgegebenen Zeit umzusetzen ist ambitioniert. Dennoch würden die geplanten Maßnahmen nicht ausreichen, um die Infrastruktur fit für doppelt so viele Fahrgäste zu machen, unterstreicht Bastian Kettner. Ob die Bahnkundschaft heute am Anfang, in der Mitte oder am Ende des Tränentals steht, entscheidet vor allem die Ampel-Regierung in Berlin.

Annette Jensen 

fairkehr 1/2023